Für die westlichen Medien ist Putin der neue Oberschurke. Aber was denkt eigentlich die russische Bevölkerung? Der russische Aktivist Ilya Budraitskis analysiert die Widersprüche
Interview: Anton Thun
marx21: Demonstrationen für Putin, Demonstrationen gegen Putin – die Berichte aus Russland sind zurzeit widersprüchlich. Wie ist die Lage?
Ilya Budraitskis: Am 15. März fand eine große Putin-kritische Demo statt. Mindestens 50.000 Menschen nahmen teil. Die Demonstration richtete sich gegen die Gefahr einer militärischen Auseinandersetzung mit der Ukraine. Deshalb hieß sie »Marsch des Friedens«. Außerdem protestierten die Demonstrantinnen und Demonstranten gegen die Einschränkung der Redefreiheit in Russland. Wenige Tage zuvor waren mehrere Redakteure entlassen worden, weil sie aus Sicht der Regierung zu kritisch berichtet hatten. Der »Marsch des Friedens« sollte zeigen, dass die Menschen nicht nur gegen einen Krieg mit der Ukraine sind, sondern auch die Entwicklungen innerhalb Russlands nicht akzeptieren, die mit diesem verschärften Kurs des Kremls zu tun haben.
50.000 ist eine Menge, aber noch kein Beleg für eine gesellschaftliche Stimmung gegen Putin.
Nein, das stimmt. Putin ist zurzeit auf dem Gipfel seiner Popularität. Bei allen Umfragen unterstützen mehr als siebzig Prozent der Befragten seine Politik und sechzig Prozent würden bei den nächsten Wahlen für ihn stimmen. Putins Partei »Einiges Russland« schwimmt zur Zeit auf einer patriotischen Welle und wird bei den nächsten Parlamentswahlen sicher gut abschneiden. Als Reaktion auf den »Marsch des Friedens« gab es auch zahlreiche Pro-Regierungs-Demonstrationen.
Aber die Unterstützung für Putin ist passiv und auch widersprüchlich. Auf den Demonstrationen für Putin waren viele Staatsangestellte, die zur Teilnahme gedrängt worden sind. Dazu kommen auch noch viele bezahlte Demonstranten.
Die von dir zitierten Umfragen deuten aber nicht darauf hin, dass die Unterstützung für Putin nur inszeniert ist…
Die aktive Unterstützung durch Kundgebungen ist es aber. Wir sehen hier keine spontanen Aufwallungen der Liebe des russischen Volkes zu Putin. Auf der Straße sind Aktivisten kremltreuer Organisationen, die entweder ein Gehalt dafür bekommen oder durch ihren staatstreuen politischen Aktivismus Vorteile erhalten – geschäftliche Vorteile, Arbeit oder ähnliches. Dazu kommen Menschen, die für Geld teilnehmen. Es gibt verschiedene kommerzielle Webseiten, die Angebote anzeigen, wo man für Bezahlung an Demonstrationen teilnehmen kann. So zum Beispiel die Website massovki.ru. Hier gibt es verschiedene Angebote: Wie muss man aussehen, wie lange dauert der Einsatz, muss man mit einer Fahne herumwedeln und wie viel Geld bekommt man jeweils dafür. Im Allgemeinen sind diese eingekauften Demonstranten nicht so teuer. Es handelt sich also nicht um riesige Summen. Menschen, die diese Angebote wahrnehmen, sind aus armen Schichten. Diese Art von Teilnehmergewinnung gibt es also auch, allerdings sind diese Demonstranten nicht sehr gut vorbereitet. Wenn ein Journalist zu ihnen kommt und eine Frage stellt, werden sie sich eher wegdrehen und nichts sagen. Und es gibt drittens Demonstranten, die in irgendeiner Form dazu gezwungen wurden, an Aktionen teilzunehmen. Meist sind es Angestellte im öffentlichen Dienst, die natürlich vom Staatsapparat abhängig sind, seien es Lehrer, Bauarbeiter, Hausmeister und so weiter. Sie werden schlicht und ergreifend unter Druck gesetzt zu erscheinen. Sonst drohen Lohnkürzungen oder andere Sanktionen auf der Arbeit.
Also doch keine Bürger für Putin?
Diese Menschen gibt es sicherlich, aber es sind ziemlich wenige und die Organisatoren dieser Aktionen verlassen sich auch nicht auf sie. Das zeichnet generell die Mobilisierung dieses politischen Regimes aus. Als Putin zum dritten Mal als Präsident kandidierte, war es genauso und vorher auch nicht anders. Die Aktionen sollen die Unterstützung der Regierung von unten vorgaukeln. Aber die Menschen in Russland wissen, wie das Ganze abläuft, und lassen sich von diesen Bildern nicht so einfach täuschen. Das bedeutet nun nicht, dass nicht viele Menschen die Regierungspolitik passiv unterstützen. Viele meinen, der Anschluss der Krim an Russland sei guter Schritt.
Wenn man sich aber mal anschaut, wie viele Menschen tatsächlich aus eigenem Antrieb für oder gegen die Regierung auf die Straße gehen würden, sind die Demonstranten gegen Putin deutlich in der Überzahl.
Auf die gesamte Gesellschaft bezogen sind sie zwar in der Minderheit, aber als mobilisierende Akteurinnen und Akteure sind sie stärker.
Putin behauptet, die Besetzung der Krim diene dem Schutz der russischen Bevölkerung dort. Was glaubst du als linker Aktivist?
Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass tatsächlich die Mehrheit der Bevölkerung auf der Krim dafür war, sich Russland anzuschließen. Es gab ein Referendum und die Mehrheit der Einwohner stimmte dafür. Die Frage ist: Wie kam das Referendum zustande? War es das Ergebnis einer Massenbewegung von unten, die als Antwort auf den Erfolg der Maidan-Bewegung in Kiew entstand? Nein. Es geschah genau anders herum. Erst kamen die russischen Soldaten, dann wurde so getan, als gäbe es eine Bewegung zur Unterstützung dieses Referendums, dann wurde das Referendum angenommen. Formell wurde also das Selbstbestimmungsrecht der Völker realisiert. Aber es waren nicht die Leute, die sich dann selbst bestimmen durften, welche die Frage aufgeworfen haben. Die Menschen haben also nicht selbst über ihr Schicksal entschieden. Genauso, wie die Krim in der Vergangenheit ohne ihre Zustimmung zu einem Teil der Ukraine gemacht wurde.
Warum ist die Bevölkerung der Krim für einen Anschluss an Russland?
Das hat vor allem soziale Gründe. Die Krim ist eine sehr arme Region. Sogar in der Ukraine war sie auf einem der letzten Plätze, was den Lebensstandard angeht. Wenn Russland dort nun soziale Leistungen zahlt, wie in anderen Regionen des Landes, profitieren die Menschen auf der Krim natürlich davon. Die Renten und Löhne werden wahrscheinlich ansteigen.
War denn nicht die Furcht vor Unterdrückung durch die Ultranationalisten in der neuen Regierung in Kiew auch ein wichtiger Grund?
Inwiefern die Rechte der russischsprachigen Bevölkerungsteile unterdrückt wurden, ist schwer zu beantworten. Man kann schwer über die Gefühle der Menschen urteilen. Hier spielt vor allem auch das subjektive Moment eine Rolle. Objektiv war die Krim innerhalb der Ukraine immer eine russischsprachige Region. Das Bildungssystem, die Massenmedien, die Machthaber waren immer komplett russischsprachig.
Die Bedrohung durch eingereiste ukrainische Nationalisten, die Menschen verfolgen und sich einmischen wollen, ist ein Propagandamärchen. Die Bevölkerung der Krim hat nie eine Loyalität zur Ukraine entwickelt. Überwiegend herrscht die Meinung, dass die Zugehörigkeit zur Ukraine ein historischer Fehler war. Es sollte allerdings klar sein, dass die Entwicklung auf der Krim nichts mit einer späten historischen Gerechtigkeit zu tun hat. Es war eine russische Militäraktion als Reaktion auf die Ereignisse in der Ukraine und nicht irgendeine Form von Hilfe für die Menschen auf der Krim.
Man sollte sich auch daran erinnern, dass es nicht nur in der Ukraine russischsprachige Bevölkerungsteile gibt, sondern auch in anderen ehemaligen Sowjetrepubliken wie in Kasachstan, in Usbekistan, in Moldawien. In diesen Ländern stehen die russischsprachigen Minderheiten viel mehr im Konflikt zu den nationalistischen Regimes als in der Ukraine. Allerdings hat Putin beispielsweise kein Problem mit den Herrschenden in Kasachstan. Dort ist ein autoritäres Regime an der Macht, mit dem Putin gut umgehen kann und das näher an seinem Politikverständnis liegt. Die sieben Millionen russischsprachigen Menschen in Kasachstan werden also auch in Zukunft von niemandem gefragt, was sie mit ihrem Selbstbestimmungsrecht anfangen wollen. Das, was in der Ukraine passiert, ist ein zynisches Ausnutzen wirklicher nationaler oder sprachlicher Widersprüche. Dieses Vorgehen wird mit der Losung der Selbstbestimmung verschleiert, während die Menschen gar nicht die Möglichkeit bekommen, diese Frage selbst zu stellen.
Deutsche Medien berichten in letzter Zeit, Russland stehe vor einer großen Rezession. Wie ist die ökonomische Situation und wie wirkt sie sich auf den Klassenkampf aus?
Nun, die Anzeichen einer Rezession haben sich schon Ende letzten Jahres gezeigt. Es wurde schon damals offiziell bestätigt, dass in Russland eine wirtschaftliche Stagnation beginnt. Schon vor der Entwicklung auf der Krim waren die Prognosen der Wirtschaftsentwicklung sehr verhalten. Vorausgesagt wurden nur zwei bis drei Prozent Wirtschaftswachstum bis zum Ende des Jahres. Das Wirtschaftswachstum hat sich relativ plötzlich verlangsamt. Jetzt spricht man schon davon, dass das Wachstum vielleicht nur bei einem Prozent liegen wird. Ratingagenturen haben angekündigt, dass die Wirtschaftskraft in Russland bei einer Vertiefung der Auseinandersetzung mit dem Westen weiter sinken könnte.
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Ist die wirtschaftliche Lage ein Resultat der Krim-Krise?
Nein, sie geht dieser Zuspitzung voraus. Russland ist kein attraktives Land für Investitionen. Das Geld, das gerade aus Russland flieht, übersteigt die Summe, die nach Russland importiert und investiert wird. Diese Entwicklung hat sich nun verschärft, auch durch die Krim-Krise. Die größten ökonomischen Probleme entstehen also nicht dadurch, dass irgendwelche Sanktionen über Russland verhängt werden, die die Wirtschaft hier zusammenbrechen lassen, sondern dass immer mehr Kapital aus Russland wegfließt. Das wird auch die russischen Großkonzerne treffen, die mit dem Weltmarkt verflochten sind.
Wie sehen die Folgen für die Bevölkerung aus?
In vielen Firmen wird es Entlassungen geben und die Arbeitslosigkeit wird wachsen. Im öffentlichen Haushalt wird eingespart werden. Die Löhne im öffentlichen Dienst werden sinken und die Sozialleistungen gekürzt werden.
Das hat politische Folgen. Die relativ hohen Löhne im öffentlichen Sektor sind ein wichtiger Grund für Putins Popularität. Die Regierung hatte noch im Mai des Jahres 2012 verfügt, dass die Löhne für Staatsbedienstete kontinuierlich steigen. So wollte Putin seine Machtbasis sozial absichern. Das lässt die wirtschaftliche Situation in Zukunft nicht zu. Die Regierungspropaganda versucht, die Menschen schon jetzt auf solche negativen Wirtschaftsentwicklungen einzustellen. Putin hat in seiner Krim-Rede einerseits sein Vorgehen gerechtfertigt, andererseits aber auch davor gewarnt, »unsere Feinde könnten die Unzufriedenheit mit der Verschlechterung der ökonomischen Situation in Russland ausnutzen«. Das Äußern dieser Unzufriedenheit hat er dabei mit einem Verrat an den nationalen Interessen gleichgesetzt. In der regierungsnahen Presse wird häufig betont, dass »unser Vermögen als Nation darin besteht, dass wir mit Verständnis auf die Verschlechterung auf die eigene ökonomische Situation reagieren«.
Aber nicht aus jeder Wirtschaftskrise wird eine Regierungskrise…
Das stimmt. Doch wir dürfen nicht vergessen, dass der russische Staat trotz seiner Größe und Ambitionen eigentlich schwach ist. Er ist unglaublich korrupt, unter den Angestellten herrscht auf allen Ebenen eine sehr niedrige Motivation und außerdem kämpft der Staat immer mit einer ökonomisch schwierigen Situation und verstärkter Unzufriedenheit. Es ist überhaupt nicht klar, ob die Herrschenden einem wirklichen Druck von unten lange standhalten können. Diese Wirtschaftskrise, an deren Anfang wir stehen, wird früher oder später in eine soziale und politische Krise übergehen. Entweder wird sich die Elite spalten und Teile von ihr gehen gegen Putin vor, indem sie die Unzufriedenheit nutzen, oder sie wird angesichts der schwierigen Lage zusammenrücken und gemeinsam vom Kreml aus die Bewegung unterdrücken. Letzteres könnte mit einer Erstürmung des Kreml und sogar einer Revolution enden.
Kann es Streiks oder andere direkte Formen von Klassenauseinandersetzungen geben?
Das ist schwierig vorauszusagen. Mir scheint, die Mehrheit der Menschen versteht noch nicht, was gerade passiert. Die Maßnahmen, die schon jetzt greifen, seien es Lohnkürzungen oder Entlassungen, werden als vorübergehend und vereinzelt begriffen. Die Leute nehmen nicht wahr, dass dieses Wirtschaftssystem in eine Krise steuert.
Ich glaube, dass die sozialen Kämpfe erst dann ausgreifen, wenn sich ein Bewusstsein der Krise verbreitet, wenn die Menschen verstehen, dass sie für diese Krise bezahlen sollen und nicht Präsident Putin.
Was macht ihr als linke Aktivisten in dieser angespannten Situation?
Nach der großen Demonstration in Moskau wird zurzeit viel über die Zukunft dieser Bewegung gesprochen. Dabei geht es auch darum, in welche Richtung sich die Krise in der Ukraine entwickelt. Die letzten Wochen haben deutlich die Spaltungen innerhalb der russischen Linken gezeigt. Ein Teil von ihnen glaubt, dass es möglich ist, den Kurs der russischen Regierung kritisch zu unterstützen. Der andere Teil hält das für den falschen Weg.
Diese neuen Spaltungslinien zeigen sich auch im Boykott des »Marsches für den Frieden« durch ein einen Teil der russischen Linken.
Kannst Du diesen Teil genauer beschreiben? Aus welcher Tradition kommen die Aktivisten?
Es gibt zum Beispiel die Organisation »Linke Front«. Sie hat die Linie der russischen Regierung gegenüber der Ukraine unterstützt. Diese Teile der Bewegung kommen eher aus einer stalinistischen politischen Tradition. Es gibt da verschiedene Motive. Natürlich sagt niemand: »Wir unterstützen den russischen Imperialismus und den Einmarsch der russischen Streitkräfte.« Stattdessen behaupten sie, die Gefahr gehe hauptsächlich von der ukrainischen Regierung aus, der ukrainische Faschismus sei eine Gefahr für die russischsprachigen Minderheiten und deshalb sei auch die Position der russischen Regierung verständlich. Es ist klar, dass Bilder wie der Abriss von Lenin-Statuen in der Ukraine auf viele einen starken Eindruck gemacht haben. Deshalb fordern sie nicht die Verteidigung der Maidan-Bewegung, sondern derjenigen, die gegen sie agieren.
Zur Person:
Ilya Budraitski ist Mitglied der »Sozialistischen Bewegung Russlands« (Rossiyskoye Socialisticheskoye Dvizheniye, RSD). Die Organisation, die in den großen Städten des Landes präsent ist, entstand Anfang des Jahres 2011 aus einer Neustrukturierung der russischen Linken und ist eine Fusion verschiedener Gruppen. Sie versteht sich als antikapitalistische, radikale linke Sammlungsbewegung und tritt für einen neuen, demokratischen Sozialismus ein. Ihre Aktivisten sind in unterschiedlichen sozialen und demokratischen Bewegungen aktiv, so auch in der Massenbewegung gegen Putin 2011/12.