In Griechenland mobilisieren die Gewerkschaften gegen die Krisenfolgen, in Deutschland nicht. Werner Halbauer sucht nach den Ursachen
Im Gegensatz zu anderen europäischen Staaten mussten die Lohnabhängigen in Deutschland in den letzten Jahren herbe Reallohnverluste hinnehmen (siehe Infografik). Nach Auffassung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung ist diese Lohnentwicklung eine wichtige Ursache für die lahmende Binnenkonjunktur. Zwar hat sich die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Exportwirtschaft deutlich verbessert, aber die negativen Auswirkungen auf die Binnennachfrage haben diesen Vorteil wieder zunichte gemacht.
Eine Stärkung der Nachfrage setzt nach Ansicht der WSI-Forscher eine Lohnpolitik voraus, die den Verteilungsspielraum aus absehbarer Preissteigerung und Produktivitätsentwicklung ausschöpft. Diese Position wird auch immer wieder von den Gewerkschaftsführungen vor Tarifverhandlungen vertreten. Doch während die Gewerkschaften in zahlreichen anderen Ländern Europas mithilfe von Streiks höhere Löhne durchsetzten und durch Generalstreiks und Massenmobilisierungen radikale Kürzungen bei Sozialleistungen abschwächen oder verhindern konnten, war die Kampfbereitschaft der mitgliederstarken deutschen Gewerkschaften zuletzt außerordentlich schwach ausgeprägt.
Mit 5,2 Streiktagen auf 1000 Beschäftigte pro Jahr (2008) liegt Deutschland am unteren Ende der internationalen Vergleichsstatistik. Das ist ein wichtiger Grund für die negative Reallohnentwicklung: Wer nicht kämpft, kann auch nichts von den Kapitalisten gewinnen. Gleichzeitig wurden in den letzten Jahren – wohlgemerkt jenen des Wirtschaftswachstums und nicht der Krise – die Flächentarifverträge systematisch ausgehöhlt. Die Gewerkschaften trugen diesen Prozess mit, indem sie Haustarifen und Öffnungsklauseln zustimmten und die Auslagerung von Arbeitsbereichen an Billiganbieter mit Dumpinglöhnen kampflos hinnahmen. All das geschah im Namen der Sicherung der betriebseigenen oder nationalen Konkurrenzfähigkeit.
In den diesjährigen Tarifverhandlungen verzichtete die Führung der IG Metall gar im Interesse der »Beschäftigungssicherung« auf jede Lohnforderung und damit auf die Mobilisierung der Belegschaften. Die Beschäftigungssicherung durch Kurzarbeit zahlen aber nicht die Konzerne, sondern die Steuerzahler, in der Mehrzahl die Lohnabhängigen. Dabei sollte eigentlich klar sein, dass die Konzerne auch weiterhin Lohn- und Arbeitsplatzabbau betreiben werden, um die Profitinteressen der Aktionäre zu bedienen. Während ver.di letztes Jahr noch forderte, die Binnennachfrage durch Lohnerhöhungen zu stärken und einen »Schutzschirm für die Menschen statt für die Banken« aufzuspannen, sieht der Tarifabschluss für die rund
1,3 Millionen Angestellten des Bundes und der Kommunen eine schrittweise Gehaltserhöhung um nur 2,3 Prozent bei einer Laufzeit von 26 Monaten vor. Bei einer jetzt geschätzten Inflationsrate von jährlich 1,2 Prozent und geplanten sozialen Einschnitten bedeutet dies einen Reallohnverlust. Die Gewerkschaften pflegen also die Rückkehr zur Sozialpartnerschaft, während sich Regierung und Unternehmer auf Angriffe vorbereiten.
Diese Politik führt die Gewerkschaften in die Sackgasse, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Indem sie kampflos Lohnverzicht im Interesse der Wettbewerbsfähigkeit üben, nehmen die Arbeitnehmervertreter hin, dass die Spirale der Lohnsenkungen und des Sozialabbaus beschleunigt wird. Denn wenn ein Betrieb kürzt, werden die Belegschaften von Konkurrenzbetrieben unter Druck gesetzt, ebenfalls Kürzungen hinzunehmen.
Ähnliches gilt auch für die nationale Wirtschaft. Die Reallohnsenkungen in Deutschland setzen konkurrierende Staaten unter Druck, ebenfalls Löhne zu senken und Sozialabbau zu betreiben. Damit wird gleichzeitig auch die Kaufkraft in den Ländern geschwächt, in die man mehr exportieren will. Der Sinn der Gewerkschaften ist es, die Konkurrenz zwischen den Lohnabhängigen untereinander aufzuheben, um gemeinsam und solidarisch für deren soziale Interessen gegen das Kapital zu kämpfen. Mit der Politik der Standortsicherung werden die Beschäftigten mittelfristig immer verlieren.
Darüber hinaus führt diese Politik aber auch zu einer Schwächung der Gewerkschaften als Kampforganisation der Lohnabhängigen. Diese haben nicht nur wegen der Massenarbeitslosigkeit an Mitgliedern verloren, sondern auch wegen ihrer Verzichtspolitik der letzten Jahre. Eine solche Haltung macht die Losung »Lohnverzicht sichert keine Arbeitsplätze« nicht nur unglaubwürdig, sondern viele Mitglieder fragen sich, warum sie in eine Streikkasse einzahlen sollen, wenn diese zur Durchsetzung ihrer Interessen nur wenig genutzt wird. Zwar sind in Krisenzeiten Kampfmaßnahmen schwieriger durchzuführen, da viele Arbeitnehmer eingeschüchtert sind und um ihren Arbeitsplatz bangen. Aber der erfolgreiche Streik der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) für eine Lohnerhöhung und angemessene Arbeitszeiten und der Ausstand der Gebäudereiniger im Niedriglohnsektor zeigen, dass die Kampfbereitschaft der Belegschaften auch von der Entschlossenheit ihrer Führung abhängt.
Die Gewerkschaften sind zwar nicht homogen. Aber ihre Führungen sind nach wie vor politisch und personell eng mit der SPD verbunden. Deren erklärtes Ziel in den letzten beiden Regierungen war es jedoch, die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft durch Sozialabbau und Reallohnsenkung zu stärken. Unterstützung erhielt sie dabei von ihren Vertretern an der Spitze der Gewerkschaften. Diese taten alles, um die Regierung nicht zu sehr durch Demonstrationen oder gar Streiks unter Druck zu setzen. Dennoch gab es massenhaft Proteste gegen diese Politik. Diese führten schließlich zur Gründung der LINKEN. Als stärkste Kraft links von der SPD hätte die neue Partei die Möglichkeit, den Einfluss der sozialdemokratischen Standortsicherungslogik in den Gewerkschaften zurückzudrängen. Voraussetzung dafür ist praktische Solidarität mit gewerkschaftlichen Kämpfen – aber auch öffentliche Kritik an zu niedrigen Lohnabschlüssen. Bislang findet sich diese Herangehensweise jedoch zu wenig in der Praxis der LINKEN. Die Trennung von Politik und Ökonomie – hier das Parlament und die Partei und dort die Gewerkschaften – muss überwunden werden, damit die Arbeitnehmer in Deutschland bald auch so kämpfen wie ihre griechischen Kolleginnen und Kollegen.