»Der Druck muss raus!« nennt ver.di ihre neue Kampagne für das Gesundheitswesen. Im Gespräch mit marx21 erklärt Gewerkschafter Fabian Rehm, warum der Markt niemanden gesund macht und wie im Krankenhaus erfolgreich gestreikt werden kann. Vorabveröffentlichung aus marx21, Heft 22, September/Oktober 2011
marx21.de: Die Privatisierungswelle im Gesundheitswesen rollt. Für die Beschäftigten bedeutet das mehr Arbeit und geringeren Lohn. Was hat die am Markt orientierte Gesundheitspolitik in den letzten Jahren angerichtet?
Fabian Rehm: Das Krankenhaus ist eine Fabrik geworden, es wird dort nicht nur Gewinn erwirtschaftet, sondern auch gearbeitet wie in einer Fabrik. Ältere Menschen können sich vielleicht noch an Pflegekräfte erinnern, die Zeit für Gespräche hatten. Das ist heute kaum mehr möglich. Von diesem Wandel sind auch die Beschäftigten betroffen: Sie sollen nicht mehr in erster Linie heilen und pflegen, sondern sind für das wirtschaftliche Wohlergehen ihrer Klinik verantwortlich. Zu dem Druck, der von den Patienten ausgeht, kommt der wirtschaftliche Druck hinzu. Gleichzeitig reagieren viele Klinikbetreiber, insbesondere die privaten, mit Stellenabbau und dem Einstellen von gering qualifiziertem Personal.
In Deutschland befinden sich viele Klinken in öffentlicher Hand. Stimmt die Gleichung: Öffentlich heißt mehr Zeit für die Patienten?
Ja, wenn ich mir beispielsweise den Krankenhauskonzern Asklepios anschaue, der die Beschäftigten auspresst, Tarifverhandlungen konsequent verweigert und weit unter Branchenniveau bezahlt, kann ich nur zu dem Schluss kommen, dass öffentliche Häuser für die Beschäftigten besser sind. Zumal eine Pflegerin in einem öffentlichen Haus weniger Patienten zu versorgen hat als in einem privaten und somit auch mehr Zeit für die Pflege hat. Doch die fortschreitende Ökonomisierung ist überall zu spüren. Ein gutes Beispiel hierfür sind die Fallpauschalen. Ein Krankenhaus bekommt für eine bestimmte Behandlung nur einen einheitlichen Preis erstattet, höherer Aufwand, Komplikationen oder andere Abweichungen sind nicht vorgesehen und belasten folglich das wirtschaftliche Ergebnis. Wenn ich die Leistung billiger anbieten kann, mache ich sogar Extraprofit. Teilweise wird in diesem Zusammenhang von blutigen – also zu frühen – Entlassungen der Patienten gesprochen, da sich die Liegezeiten im Krankenhaus immer weiter verkürzen. Kaum eine öffentliche Klinik ist noch ein städtischer Eigenbetrieb. Meist wurden die Häuser in GmbHs umgewandelt, Servicegesellschaften gibt es hier genauso wie einen stetigen Personalmangel. Leicht aus dem Blickfeld geraten die vielen sogenannten freigemeinnützigen Kliniken. Die Belastungszahlen sind hier ähnlich wie in privaten Kliniken. Insbesondere die Diakonie senkt Löhne, verweigert jegliche tarifliche Vereinbarung, beruft sich auf die kirchlichen Sonderrechte und klagt gegen Streiks in ihren Einrichtungen. Eigentlich ist es unglaublich, dass es Arbeitgeber gibt, die ihr eigenes Arbeitsrecht gestalten dürfen.
Viele öffentliche Krankenhäuser arbeiten defizitär. Treiben Lohnerhöhungen und Streiks die Kliniken nicht in die Hände von privaten Konzernen?
In der Tat sind wir als Gewerkschaft mit solchen Argumentationen konfrontiert. Den Gürtel enger schnallen und vermeintliche Privilegien abgeben – dieses Programm wird in Griechenland nicht funktionieren und hierzulande klappt es auch nicht. Öffentliches Eigentum sollte aus meiner Sicht ohnehin kein Selbstzweck sein. Es gibt durchaus Kliniken, die schwarze Zahlen schreiben und öffentlich betrieben werden. Aber Gewinn ist nicht das Ziel eines Krankenhauses. Vielmehr sollte es um die bestmögliche Versorgung der Bevölkerung gehen.
Nach der gewerkschaftlichen Kampagne »Der Deckel muss weg!« im Jahr 2008 läuft jetzt die ver.di-Kampagne »Der Druck muss raus!«. Was wollt ihr damit bewirken?
Wir wollen über die Arbeitsbedingungen reden und für Entlastung sorgen. Viele Beschäftigte können einfach nicht mehr. Personalabbau und steigende Fallzahlen führen zu einer immensen Verdichtung der Arbeit. Pausen können nicht genommen werden, Auszubildende werden wie Ausgelernte eingesetzt und Überstunden sind die Regel. Was auf der Strecke bleibt, ist die Pflege und vor allem die Gesundheit und die planbare Freizeit der Beschäftigten. Abgesagte private Verabredungen und Termine sind für viele Pflegekräfte mittlerweile Alltag. Hinzu kommt die belastende Schichtarbeit, die eine geregelte Freizeit erschwert. Arbeitgeber setzen auf das Verantwortungsgefühl der Beschäftigten für »ihre« Patienten und gehen davon aus, dass das Personal schon springt. Auf die Idee, mehr Leute einzustellen, kommen sie nicht.
Hier wollen wir eine Veränderung erreichen. Auch wenn die Bezahlung immer ein Problem ist, scheint mir in vielen Häusern der Arbeitsdruck die drängendere Frage zu sein. Eine Möglichkeit wäre es, Tarifverträge zur Belastungsbegrenzung oder auch zur Ausbildungsqualität zu verhandeln. Dabei werden die Forderungen nicht von oben vorgegeben, sondern von unten diskutiert und für die jeweiligen Bereiche beschlossen.
Wie wird die Kampagne angenommen?
Bei den bisher stattgefundenen Konferenzen waren Kollegen aus öffentlichen, privaten und diakonischen Kliniken. Noch steht die Kampagne am Beginn, aber was sich jetzt schon sagen lässt: Sie wird überall diskutiert und trifft den Nerv vieler. Gleichzeitig gibt es die Skepsis, ob ver.di in der Lage sein wird, hier erfolgreich zu sein. Der Erfolg steht und fällt mit der Bereitschaft, für die eigenen Interessen einzutreten. Bei der von dir angesprochenen Deckel-Kampagne ist es ja durchaus gelungen, mehr Geld in die Krankenhäuser zu bekommen und zumindest einige zusätzliche Stellen zu schaffen.
Weshalb ist es so schwierig, im Krankenhaus für Arbeitskampfmaßnahmen zu mobilisieren?
Ich finde das gar nicht so schwer. In jeder Branche gibt es unterschiedliche Begründungen, warum Streiks angeblich nicht möglich sind. Eine Besonderheit ist, dass es im Krankenhaus um Menschen und oft auch um Leben und Tod geht. Wir wollen mit Streiks niemanden gefährden und deshalb wird – wo es notwendig ist, um Gefahren für Leib und Leben auszuschließen – auch eine Notbesetzung aufrechterhalten. Wir müssen mit der Tatsache umgehen, dass es eine starke Identifikation mit der Arbeit gibt und leider auch eine hohe Bereitschaft, schlechte Bedingungen zu ertragen. Beispielsweise ist es gang und gäbe, dass man während der Freizeit angerufen wird, ob man denn nicht einspringen könne. Hier wird zu selten Nein gesagt. An solchen Punkten gilt es anzusetzen, über vorhandene Rechte aufzuklären und die Kollegen zu stärken. Jedoch werden Gegenwehr und Streiks im Gesundheitswesen auch normaler und immer mehr Belegschaften entwickeln Erfahrungen in Auseinandersetzungen.
Du warst in Hessen an mehreren Streiks beteiligt. Wie ist es euch gelungen, die Beschäftigten zu mobilisieren?
Prinzipiell sind eine gute Vorarbeit und das »Mitnehmen« der Beschäftigten zentral. Ein Streik soll ja nicht der Arbeitskampf der hauptamtlichen Gewerkschafter sein, sondern der der Beschäftigten. Dementsprechend muss es um ihre Ziele gehen. Eine demokratische Beteiligung ist unerlässlich. Am Uniklinikum Gießen-Marburg gibt es einen Tarifvertrag auf Niveau des öffentlichen Dienstes, viele Beschäftigte sind Mitglied der ver.di und haben Erfahrungen mit Warnstreiks. Im Wicker-Konzern gab es am Anfang nichts von dem. Ausschlaggebend war hier die miserable Bezahlung.
DAS NEUE HEFT: AB 19. OKTOBER
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Wenn eine Krankenpflegerin viel weniger als im öffentlichen Dienst verdient, muss ich niemandem das Problem erklären. Stattdessen muss ich unseren Weg vorstellen. Er lautet: kollektive Stärke organisieren. Ohne Mitglieder und ohne die Bereitschaft, sich zu engagieren, werden wir nichts erreichen. Das haben wir mit den Kolleginnen und Kollegen diskutiert und viele haben sich für die gewerkschaftliche Organisierung entschieden. Mitte August haben wir in drei Kliniken zeitgleich gestreikt – das erste Mal in der Unternehmensgeschichte. Die Beteiligung war super.
Wie lief die Mobilisierung unter den Beschäftigten?
Egal ob am großen Uniklinikum oder in einer kleinen Rehaklinik: Die Mobilisierung ist nur so gut wie die Aktiven. Wir bieten jedwede Unterstützung an und begleiten die Auseinandersetzung mit regelmäßigen Mitgliederversammlungen, Flugblättern und anderem Material.
Die größten Erfolge erzielen aber die Kollegen selbst: Die Physiotherapeutin, die in der Pause mit ihren Kollegen redet und sie auf eine Gewerkschaftsmitgliedschaft anspricht, wirkt »echter« als ein Hauptamtlicher der Gewerkschaft. Genauso verhält es sich mit der Forderungsfindung. Wenn die Tarifkommissionsmitglieder im Betrieb über Probleme sprechen und mögliche Forderungen diskutieren, sorgt man automatisch für die Verankerung der Tarifbewegung. In Gießen-Marburg hat zudem der hohe Organisationsgrad der Auszubildenden für Durchsetzungsstärke gesorgt. Für sie war die Frage der Übernahme zentral. Bisher klärte sich die Übernahme immer erst sehr kurzfristig und auch nicht für alle. Diesen Zustand wollten die Azubis nicht mehr erdulden, zumal es in der Klinik offensichtlich genug zu tun gibt und sich die Überstunden türmen. Schon vor dem ersten Streiktag gab es eine große Protestaktion in Marburg: 100 Azubis demonstrierten vor der Geschäftsführung. In Gießen wurde der Besuch des Gesundheitsministers anlässlich der Einweihung des Neubaus eines Klinikgebäudes für eine Aktion genutzt. »Während ihr hier feiert, wird auf Station geschwitzt«, haben sie den Gästen vorgesungen.
Waren die Auseinandersetzungen erfolgreich?
Der Schriftsteller Dietmar Dath hat Streiks als die verlässlichste Form der Erwachsenenbildung im Kapitalismus bezeichnet. Ich sehe das ähnlich. Es geht darum, zu lernen, dass sich Gegenwehr lohnt, dass es möglich ist, für die eigenen Interessen aufzustehen und dass diese Auseinandersetzungen nur kollektiv gewonnen werden können. Erfolg würde ich dementsprechend nicht nur an den materiellen Ergebnissen messen, sondern auch daran, ob sich Kerne von Aktiven gefestigt haben und neue Aktive gewonnen wurden. Eine funktionierende Vertrauensleutestruktur wäre schon ein schönes Ergebnis. Materiell betrachtet waren die Auseinandersetzungen am Uniklinikum Gießen-Marburg erfolgreich: Wir haben eine gute Übernahmeregelung und einen zusätzlichen freien Tag erkämpft. Im Wicker-Konzern ist noch alles offen. Die Unternehmensleitung verweigert Verhandlungen mit ver.di und versucht durch Einmalzahlung die Auseinandersetzung zu befrieden.
Welche Perspektiven siehst du für die Zukunft der Beschäftigten im Krankenhaus?
Wenn sie sich ihrer eigenen Stärke bewusst werden, halte ich die Entwicklung für offen. Es gibt massive Bestrebungen, Arbeit zu dequalifizieren, die Privatisierungswelle rollt weiter, tarifliche Standards werden infrage gestellt und die Arbeitsverdichtung nimmt zu. Gleichzeitig organisieren sich immer mehr Beschäftigte und Arbeitskämpfe im Gesundheitswesen nehmen zu. Das stimmt mich optimistisch.
(Die Fragen stellte Nils Böhlke.)
Zum Autor:
Fabian Rehm ist Gewerkschaftssekretär im ver.di-Landesbezirk Hessen. Er ist Autor des Buchs »Krankenhausprivatisierung. Ein Beispiel für die neoliberale Umstrukturierung öffentlicher Dienste« (Tectum Verlag 2007).
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