In Michael Moores neuen Film geht es um das große Ganze: den Kapitalismus. Warum, erzählt der Filmemacher im Gespräch mit Amy Goodman
Amy Goodman: Michael, warum jetzt »Kapitalismus: eine Liebesgeschichte«?
Michael Moore: Nun, ich mach seit rund zwanzig Jahren Filme. Und es scheint mir, als ob alle Filme, die ich gemacht habe – von »Roger & Me« bis »Sicko« – sich immer wieder um dasselbe Problem drehen: nämlich das Wirtschaftssystem, das wir haben. Es ist ungerecht, undemokratisch und hat anscheinend keinerlei ethisches Zentrum. Ich schätze, ich könnte die nächsten zwanzig Jahre weiter Filme über das nächste General Motors oder die nächste Krise des Gesundheitssystems machen. Aber ich dachte, ich komme diesmal gleich zum Kern und schlage vor, dass wir uns mit diesem Wirtschaftssystem beschäftigen und versuchen, es so umzustrukturieren, dass es allen Menschen nutzt und nicht nur dem reichsten einen Prozent.
Ich habe mit diesem Film verschiedene Dinge versucht – zum Beispiel dieses System frontal anzugreifen. Ich bin kein Reformer. Ich warte nicht darauf, dass der Kongress ein paar neue Regeln verabschiedet. Nebenbei bemerkt ist ein Jahr seit dem Crash vergangen und sie haben nicht eine der Regeln beschlossen, die sie angekündigt hatten. »Wir brauchen nur ein paar Regeln. Schaffen wir nicht den Kapitalismus ab, nur ein paar Regeln, und dann kriegen wir alles wieder auf die Reihe.« Die haben natürlich gar keine Absicht, so etwas zu tun, und die Finanzwirtschaft hat das ganze letzte Jahr über Lobbyarbeit betrieben, damit man sie in Ruhe lässt und sie weiter ihre wahnwitzigen Geschäfte betreiben kann.
Zudem wollte ich eine filmische Erklärung dafür geben, was genau vor einem Jahr passiert ist und was dazu geführt hat. Ich glaube, eine Menge Leute, mich selbst eingeschlossen, sind keine Ökonomen. Wir hören diese Fachbegriffe und verstehen nicht, was sie bedeuten – Derivate, Credit Default Swaps und das alles. Ich dachte mir: Wetten, dass man diese Geschichte so erzählen kann, dass jeder sofort versteht, was für ein Raubzug da stattgefunden hat.
Und außerdem wollte ich tun, was wahrscheinlich alle Filmemacher versuchen: Ich erkenne an, dass ich meine Zuschauer darum bitte, am Freitag- oder Samstagabend ihr Haus zu verlassen, einen Babysitter anzustellen, zum Kino zu fahren, Geld für die Karten auszugeben, absurde Summen für Popcorn und Soft Drinks auszugeben und dann mit 200 Fremden im Dunkeln zu sitzen. Ich will wirklich, dass sie am Ende dieser zwei Stunden aus dem Kino kommen und zu ihrer Begleitung sagen: »Da haben wir zwei gute Stunden verbracht. Ich habe etwas gelernt. Ich habe mich schlapp gelacht. Ich habe geweint.«
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Hättest du, als du mit den Recherchen zu deinem Film begonnen hast, erwartet, dass es so schlimm kommen würde?
Hmm. Ja, ich hab mit diesem Film rund ein halbes Jahr vor dem Crash angefangen. Wie andere Leute, die sich ansahen, was an der Wall Street abging, dachte ich: Da ist ein Kartenhaus errichtet worden, um für die Investorenklasse die Illusion von Wohlstand zu schaffen. Ich hatte das Gefühl, als seien wir nicht weit entfernt von einem Desaster. Ich wusste nicht, was passieren würde, aber ich dachte, das wäre wohl ein hervorragender Zeitpunkt, um mit diesem Film anzufangen.
Noch vor dem Crash – im August – passierte etwas. In den USA benutzen wir in alltäglichen Unterhaltungen Worte wie »Kapitalismus« oder »Sozialismus« nicht. Das sind sozusagen nicht-existente Wörter in der Öffentlichkeit. Und dann spaziert Barack Obama im August 2008 durch einen Vorort und trifft diesen Typen auf der Straße. Obama unterhält sich mit ihm und sagt zu ihm, dass er es gut fände, den Reichtum zu verteilen, was natürlich die Kernidee des Sozialismus ist. Und sofort griffen die Republikaner, die ja nicht blöde sind, diese Bemerkung auf und fingen an, ihn einen Sozialisten zu nennen – »Sozialist, Sozialist, Sozialist«. Wow, ich habe diesen Wort seit Langem nicht mehr so häufig gehört. Das war zum Teil wirklich amüsant.
Aber kaum einen Monat später findet der Crash statt. Und was macht Präsident George Bush? Er tritt mehrmals im Fernsehen auf. Er fängt an, Reden über den Kapitalismus zu halten. Weißt du, ich frage mich jetzt, wann in meinem Leben habe ich je einen Präsidenten der Vereinigten Staaten dieses Wort in den Mund nehmen hören?
Ich hab wirklich gestaunt. Da dachte ich mir, wir sollten diese Gelegenheit ergreifen, dass es nun in Ordnung ist, diese Worte in der Öffentlichkeit zu äußern. Sie zählen nicht mehr zu den »beängstigenden« Wörtern, und sie sind nicht mehr so mit anderen Sachen überladen wie früher. Heute kann ich wirklich den Finger in die Wunde legen. Aber, weißt du, wenn ich vor zwei, drei, vier, fünf Jahren in eine Talkshow gegangen wäre und angefangen hätte, so zu reden, hätten die mich angesehen, als ob ich verrückt wäre. »Warum tun Sie das?« Das alles hat mir auf seltsame Weise erlaubt, diesen Film zu machen – und uns allen, diese Diskussion zu führen.
Ich glaube, dass dieses Wirtschaftssystem, das wir haben, ein bösartiges System ist. Ich glaube wirklich, dass es im Kern dazu entworfen ist, Menschen Schaden zuzufügen. Es ist kein Zufall, dass das passiert, denn der Kapitalismus ist auf seine eigene Art ein Betrugssystem wie die Schneeballanlagebetrügereien der letzten Jahre. Wir reden sehr viel von Bernard Madoff (ehemaliger Finanzmakler, wurde im Sommer wegen Betruges zu 150 Jahren Haft verurteilt, Anm. d. Red.), der reiche Anleger um Milliarden betrogen hat. Ich schätze, er ist ein dankbares Thema und lenkt schön vom eigentlichen Problem ab.
Aber tatsächlich ist der Kapitalismus und zwar besonders der Kapitalismus, wie wir ihn heute kennen, eine Art Schneeballsystem. Er ist so aufgebaut, dass die reichsten ein Prozent an der Spitze der Pyramide sitzen. Ihre Aufgabe besteht darin, alle anderen in der Pyramide, all die Arbeiterbienen, davon zu überzeugen, dass auch sie eines Tages an der Spitze der Pyramide sitzen können – obwohl sie genau wissen, dass nur sehr wenige Leute da oben Platz haben können. »Wenn du genug Amway-Aktien kaufst, kannst du hier zu uns hoch kommen.« Nein, so funktioniert das aber nicht. Aber es hat eine lange Zeit lang funktioniert, weil eine Menge einfacher Amerikaner daran glaubten, dass sie eines Tages auch reich sein könnten.
Ich hatte das Gefühl, dass es Zeit sei, diese Lüge anzugreifen, sie beim Namen zu nennen und keine Angst davor zu haben, dass sie mich beschimpfen würden. Aber weißt du, ich werde diesen Spießrutenlauf mitmachen, denn ich bin's einfach leid, ich hab's wirklich satt, um den heißen Brei zu reden und mich bloß mit den Symptomen oder dieser oder jener Katastrophe zu beschäftigen, die der Kapitalismus verursacht hat. Ich könnte das wahrscheinlich für den Rest meines Lebens machen, aber ich glaube, nichts wird sich dadurch großartig verändern. Ich möchte aber gerne noch in meinem Leben Veränderungen erleben.
Also habe ich diesen Film gemacht, um eine Debatte anzustoßen und diese Leute aufzuhalten, die nur ein paar Ecken entfernt von uns sitzen und sich in diesem Moment wahrscheinlich Gedanken darüber machen, was sie morgen tun werden, um das Leben von Millionen Menschen elend zu machen.
Du hast offensichtlich eine Menge zusammengetragen, um den Kapitalismus zu verurteilen. Aber Kritiker könnten behaupten, der Film hat nicht viel zu bieten, wenn es um eine Alternative geht.
Nun, ich mache in dem Film deutlich, dass ich kein Wirtschaftswissenschaftler bin. Aber eine Alternative zu schaffen – eine Wirtschaftsordnung für das 21. Jahrhundert – ist wirklich unsere dringlichste Aufgabe. Wir müssen aufhören, das Wirtschaftssystem aus dem 16. Jahrhundert gegen das Wirtschaftssystem aus dem 19. Jahrhundert zu stellen. Wir leben im 21. Jahrhundert. Wir stehen vor einer ganzen Reihe neuer Aufgaben und Probleme. Können wir denn kein Wirtschaftssystem etablieren, das auf diesen zwei Fundamenten ruht: dass es demokratisch verwaltet wird und dass es nach ethischen und moralischen Grundsätzen funktioniert? Also, was auch immer wir errichten, für mich persönlich müsste es diese beiden Grundpfeiler haben.