Jonathan Neale im Gespräch mit Christine Buchholz über die Perspektiven für das Land am Hindukusch
marx21: Jonathan, du kennst Afghanistan aus eigener Erfahrung.
Jonathan Neale: Ja, ich habe von 1971 bis 1973 als Anthropologe in Ostafghanistan mit armen paschtunischen Nomaden zusammengelebt. Danach habe ich die weitere Geschichte des Landes sehr genau verfolgt. Die Afghanen sind oft als merkwürdige, exotische Wesen beschrieben worden, die anders seien als wir. Aber dort habe ich gelernt, dass sie genauso sind wie andere Menschen und dass sie genau wie andere nicht erobert werden wollen. Afghanistan ist heute nicht dieselbe traditionelle Gesellschaft wie vor 200 Jahren.
Was hat sich verändert?
Das Afghanistan von heute ist ein Produkt der imperialistischen Politik des 19. und 20. Jahrhunderts. Zwischen 1838 und 1919 verlor das britische Empire drei Kriege in Afghanistan und das Land wurde formal selbstständig.
Trotzdem blieb es ein armer Staat, der nur durch Hilfsgelder am Leben gehalten wurde. Im Grunde wurde, gerade in den ländlichen Gebieten, nie die Macht der regionalen Herrscher und Feudalaristokraten gebrochen. Dafür wurde im Verlauf der Kriege unter dem Banner des Islam eine Tradition des Volkswiderstandes gegen den Imperialismus aufgebaut.
1979 begann der Krieg gegen die Russen. Wieder wurde er unter dem Banner des Islam geführt.
In den 1970er Jahren prägten Großgrundbesitzer das Land außerhalb der Städte. Die Mehrheit der Menschen verdingte sich als Kleinbauern. Ihr Einkommen reichte gerade einmal aus, um sich Brot zu kaufen. Auch die Leute, mit denen ich lebte, aßen fast ausschließlich Brot. Einmal im Jahr gab es Fleisch, zu besonderen Anlässen Kartoffeln. Sie konnten kein Geld sparen. Jeder hatte nur eine Garnitur Kleidung.
Das klingt jetzt aber doch, als sei die afghanische Gesellschaft doch traditionell und seit Jahrhunderten unverändert.
Das stimmt für das Leben der Menschen auf dem Land, aber keineswegs für die Stadt, insbesondere Kabul. Die Regierung bekam in den 1950er und 1960er Jahren viel Geld aus dem Westen und aus der Sowjetunion. Mit diesen Geldern baute sie eine schlagkräftige Armee auf und das Bildungssystem aus.
Viele Menschen schickten ihre Kinder zur Universität. Es gab 30.000 Studierende – bei einer Bevölkerung von 15 Millionen. Die Studierenden kamen aus Familien kleiner Bauern. Sie hassten die Großgrundbesitzer. Unter den politisch Aktiven war eine Mehrheit Kommunisten, die sich an der Sowjetunion orientierten, und eine Minderheit Islamisten, die auf die Muslimbruderschaft in Ägypten schauten.
1978 gab es einen Putsch kommunistischer Offiziere. Keiner verteidigte die alte Herrscherfamilie. Auf dem Land brach jedoch ein Aufstand gegen die Kommunisten los, der von den Mullahs angeführt wurde. Dass die Kommunisten wenig Unterstützung hatten, lag daran, dass sie durch eine Revolution von oben an die Macht gekommen waren.
Sie begannen die lokalen Führer zu foltern und zu töten. Zudem gingen sie dazu über, das Land zu bombardieren.
Wenn du nicht die Unterstützung der Bevölkerung hast, ist Unterdrückung alles was du tun kannst, um dich an der Macht zu halten. 18 Monate später marschierten russische Truppen ein. Während des Einmarsches und der anschließenden Besatzung wurden viele Menschen getötet. Aus Protest gegen die Russen gab es einen Streik der Staatsangestellten in Kabul, einen Aufstand in Herat und Proteste an der Oberschule für Mädchen. Diese Schule war ein Zentrum im Kampf gegen Frauenunterdrückung gewesen. Nun demonstrierten diese Mädchen gegen die russische Invasion.
Bei den Bombardements starben eine Million Afghanen. Eine weitere Million wurde verkrüppelt, drei Millionen gingen ins Exil nach Pakistan, zwei Millionen in den Iran. Weitere zwei Millionen flüchteten in die Städte. Somit war fast die Hälfte der Bevölkerung tot, verwundet oder vertrieben.
Was bedeutete die russische Invasion für die afghanische Linke?
Für die Linke war die Invasion eine Katastrophe, die bis heute nachwirkt. Die Linken hatten versucht, eine Landreform durchzuführen und Frauenbefreiung mit Gewalt durchzusetzen. Daher wurden in den 1990ern die Begriffe Feminismus und Frauenbefreiung von vielen Afghanen mit Massenmord gleichgesetzt. Jeder kannte jemanden, der im Namen von Sozialismus und Feminismus getötet worden war.
Bereits in den 1970ern hatte es einen Streit zwischen Kommunisten und Islamisten gegeben. Die Kommunisten traten dafür ein, den Großgrundbesitzern das Land wegzunehmen und Frauenrechte durchzusetzen. Die Islamisten wollten den Großgrundbesitzern das Land lassen und waren gegen Frauenrechte.
Die Kommunisten gewannen den Streit in den Universitäten. Einmal an die Macht gekommen, töteten sie jedoch viele Zivilisten. Dies hat ihre Ideen tiefgehend diskreditiert.
Im „Kampf um Frauenbefreiung« wurden nach Schätzungen 300.000 Frauen getötet. Stellt euch vor, es gäbe in Deutschland eine Bewegung für die Befreiung der Frauen und diese würde vier Millionen Menschen töten. Hätte sie noch Unterstützung?
Die ganze Geschichte zeigt mir, dass auch die besten Absichten Hass erzeugen, wenn sie mit brutaler Gewalt durchgesetzt werden. Das sollten diejenigen bedenken, die aus berechtigtem Mitleid – zum Beispiel mit dem Schicksal vieler Frauen in Afghanistan – die Besatzung unterstützen.
Auf den sowjetischen Abzug folgte der Bürgerkrieg, die Taliban-Herrschaft und jetzt die NATO-Besatzung. Warum kämpfen die Menschen in Afghanistan immer noch?
Der Widerstand richtet sich zum einen gegen die wirtschaftliche Ungleichheit. Es gibt keine ökonomische Entwicklung in dem Land. Hilfsgelder gehen an die ausländischen Hilfskräfte, nicht aber an die Afghanen. In Kabul kostet ein Haus für einen NGO-Mitarbeiter zwischen 1300 und 6500 Euro im Monat. Das durchschnittliche Monatseinkommen der Afghanen liegt jedoch bei unter 30 Euro.
Viele NGOs gelten als korrupt. Ob das in jedem Fall stimmt, sei dahingestellt. Die Afghanen gehen jedenfalls davon aus, dass die NGOs korrupt sind. Das hatten sie vielleicht von ihrer eigenen Regierung erwartet, aber nicht von den Amerikanern und Europäern. Die Besatzung hat einen enormen Reichtum inmitten eines bettelarmen Landes geschaffen – die Gelder der westlichen Regierungen haben in Kabul eine Schattenwirtschaft geschaffen, die sich wenig um die Bedürfnisse der Afghanen kümmert.
Des Weiteren richtet sich der Widerstand gegen die Angriffe der NATO-Truppen und insbesondere gegen das US-amerikanische Militär. Die Amerikaner suchen überall nach dem Feind. Oft läuft das nach folgendem Muster ab: Sie gehen in ein Dorf und durchsuchen es. Dann bekommen sie Angst und schießen. Dann lehnen sich die Dorfbewohner auf und schließlich bombardieren die Amerikaner das Dorf. Es gibt mehr Widerstand und mehr Bomben.
Folgender Vorfall illustriert, wie sich die Stimmung gegen die Amerikaner gewendet hat: Amerikanische Soldaten waren auf Patrouille in Kabul. Sie fuhren wie so oft zu schnell und töteten dadurch eine Frau. Die Menschen wurden wütend. Daraufhin eröffneten die Soldaten das Feuer in die Menge, um sich den Weg freizuschießen. Daraus entwickelte sich ein Aufstand. Fast jedes NGO-Büro wurde angegriffen.
Nun berichten die westlichen Regierungen aber von militärischen und zivilen Fortschritten in Afghanistan.
Das ist eine Beschönigung der Lage. Aus einigen Regionen wurden amerikanische Truppen abgezogen, und stattdessen kanadische und britische Truppen reingeschickt. Aber auch sie verlieren mittlerweile an Unterstützung.
Bis Ende 2006 konzentrierte sich der Widerstand auf den Osten und den Süden Afghanistans. In der zweiten Hälfte 2007 hat er sich auf den Westen und Norden ausgeweitet – also in nicht-paschtunische Gebiete.
Ich habe einige Freunde, die bei NGOs in Afghanistan arbeiten. Sie haben mir die Karten gezeigt, die sie von ihren Arbeitgebern bekommen. Dort sind die unsicheren Gebiete eingezeichnet – es sind sehr viele. Ich bin sicher: Die Afghanen werden auch diesen Krieg gewinnen.
Aber was dann? Eine Rückkehr der Taliban ist für die Menschen in Afghanistan kein Fortschritt.
Die Menschen in Afghanistan können sich momentan für den rechten islamischen Widerstand entscheiden oder für die rechte Invasion. Die rechten Islamisten scheinen für viele die bessere Wahl zu sein.
Ich denke nicht, dass nach dem Abzug der Besatzer eine reine Taliban-Regierung zurückkehrt. Es wird Kämpfe geben und eine Koalition von unterschiedlichen Kräften wird das Land danach regieren. Das wird nicht gut sein, aber besser als heute. Denn die Besatzung hat den Afghanen nichts gebracht. Das Leben unter den Taliban war besser als jetzt. So war es auch in den 70er Jahren: Das Leben war fürchterlich vor der Invasion der Russen, aber es war immer noch besser als während der Invasion.
Auch wenn es uns als Linke nicht gefällt: Bis jetzt wurde Widerstand gegen Besatzung in Afghanistan unter dem Banner des konservativen Islam geführt.
Das hätte anders sein können, wenn es eine starke Linke und eine große soziale Bewegung gegen die Besatzung gegeben hätte. Die aber hat es nicht gegeben. Die Reaktion vieler Linker war es, sich mit der Invasion abzufinden. Menschen in den Städten, darunter viele Ex-Kommunisten und ihre Familien, sind unglücklich mit der Invasion der US-Truppen, hoffen aber auf europäische Truppen. Sie haben Angst, nicht zu überleben, wenn die Truppen abziehen.
Viele von ihnen denken, dass die einfachen Afghanen auf dem Land erzogen werden müssen. Sie haben dasselbe „Revolution von oben«-Modell im Kopf wie die Kommunisten damals – nur, dass statt der Sowjets jetzt die NATO die Menschen erziehen soll. Das ist eine neue Variante kolonialer Logik, in der der Westen »den Wilden« die Zivilisation bringt. Die Menschen in Afghanistan wissen dies und wollen es nicht.
Die einzige Möglichkeit besteht darin, eine Linke aufzubauen, die für soziale Gleichheit und gegen die Invasion ist. Diese kann nur demokratisch »von unten« aufgebaut werden.
(Dieses Interview ist erschienen in: marx21, Heft 6, Juni 2008)
Bild von Amber Clay auf Pixabay
Hintergrund:
- Die Besatzer mit dem roten Stern: Vor 30 Jahren versuchten kommunistische Gruppen in Afghanistan mit Gewalt gegen die Rückständigkeit ihres Landes anzugehen. Dieses Experiment endete in der Katastrophe der sowjetischen Besatzung, erklärt Irmgard Wurdack.
Mehr im Internet:
- 20. September 2008 – Demonstrationen in Berlin und Stuttgart: »Dem Frieden eine Chance, Truppen raus aus Afghanistan – Nein zur Verlängerung der Mandate für den Bundeswehreinsatz in Afghanistan«
Schlagwörter: Afghanistan