In Krankenhäusern fehlen so viele Pflegekräfte, dass Patienten sterben, die nicht sterben müssten. Warum ein Streik im Berliner Krankenhaus Charité das verändern könnte, erklärt Anja Kistler vom Deutschen Berufsverband der Pflegeberufe im marx21-Gespräch
marx21.de: Anja, ver.di führt derzeit Tarifverhandlungen mit der Charité über eine Regelung der Zahl der beschäftigten Pflegekräfte. Warum?
Anja Kistler: Die Krankenhäuser haben in ganz Deutschland so viele Arbeitsplätze vernichtet, dass sie heute weniger Pflegekräfte beschäftigen als 1991. Gleichzeitig ist die Zahl der Patienten aber deutlich gestiegen. Immer weniger Beschäftigte müssen immer mehr Patienten pflegen.
Wie ist das passiert?
Seit 1996 gibt es kein Gesetz mehr, das die Zahl der Pflegekräfte in den Krankenhäusern festlegt. Stattdessen bekommen die Häuser Geld, dass die Direktoren für Beschäftigte ausgeben können oder eben nicht.
Was ist daran schlecht?
Sehr einfach: Die Preise, die die Krankenkassen für Behandlungen bezahlen, steigen langsamer als die Kosten. Wenn der Strom teurer wird oder ein Gebäude erneuert werden muss, kümmert das die Krankenkassen nicht.
Sie bezahlen für jeden Patienten, was ihnen gesetzlich vorgeschrieben ist. Wenn es für das Krankenhaus nicht reicht, ist es sein Problem.
Betrifft das die Pflegekräfte?
Allerdings, denn wenn das Budget der Krankenhäuser nicht reicht, gibt es meistens nur einen Posten, bei dem gekürzt werden kann: Die Zahl der Beschäftigten.
Das ist in vielen Unternehmen so.
Möglich. Aber ein Krankenhaus ist keine Autofabrik. Wir können die Produktion nicht runterfahren.
Was heißt das?
Die Patienten werden eingeliefert, egal wie viele Pflegekräfte da sind. Und Patienten sind bekanntlich Menschen. Jeder Mensch verdient die bestmögliche Behandlung und Pflege, die besten Medikamente und im Notfall die bestmöglichen Rettungsmaßnahmen.
Ist das nicht gewährleistet?
Nein. Durch die Überlastung machen Pflegekräfte Fehler, vergessen oder vertauschen Medikamente. Oder Patienten, für die ein Sturz auf dem Flur gefährlich sein könnte, werden ans Bett gefesselt, weil niemand da ist, um auf sie aufzupassen.
Passiert so was öfter?
Jeden Tag, und nicht nur das. Jeder, der länger im Krankenhaus arbeitet, erlebt, dass Patienten im System gefährdet werden oder sogar sterben, die nicht hätten sterben müssen. Die Ursache ist, dass es zu wenige Pflegekräfte gibt. Das ist über Studien international gut nachgewiesen.
Wie ist das möglich?
Nehmen wir die Intensivstation oder die Anästhesie-Pflegekräfte, die Ärzten bei der Narkose assistieren. In diesen Bereichen brauchen Beschäftigte eine zweijährige teure Weiterbildung. Hier wurde in den letzten Jahren wegen der hohen Kosten bei schmalem Krankenhausbudget zu wenig ausgebildet und die Schichtbesetzung entspricht häufig nicht den Empfehlungen der Fachgesellschaften.
Das ist erlaubt?
Ja. Auch in den gefährlichen Bereichen, wo eigentlich immer eine 100-prozentig ausgeruhte Pflegekraft zur Verfügung stehen müsste, wurde gekürzt. Pflegefachpersonen, die stressbedingt vielleicht nur zwei Stunden geschlafen haben, müssen in Sekundenschnelle reagieren, weil das Herz eines Patienten aufgehört hat zu schlagen. Wer glaubt, dass das immer gut geht, ist ein Träumer.
Das muss auch für die Pflegekräfte furchtbar sein.
Natürlich. Gerade engagierte Beschäftigte verlassen oft den Pflegeberuf nach ein paar Jahren, weil sie die menschenverachtenden Arbeitsbedingungen nicht aushalten und das System nicht länger unterstützen wollen. Die die bleiben sind überdurchschnittlich oft krank, was die Arbeitsbelastung im Krankenhaus weiter verschärft.
Kranke Pflegekräfte werden nicht ersetzt?
Nur bedingt – zum Beispiel über Leasing-Personal. Wenn in der Notaufnahme mehrere Leute krank sind, steigen die Wartezeiten. Da kann dann schon einmal etwas durchrutschen. An so einem Tag sollte man besser keinen Autounfall haben.
Wie kann der Tarifkonflikt in der Charité das ändern?
In der Charité gibt es eine aktive und kämpferische ver.di-Betriebsgruppe. Deshalb versucht die Gewerkschaft, hier ein Beispiel zu setzen: Das erste Mal soll in einem deutschen Krankenhaus ein Tarifvertrag festlegen, wie viele Pflegekräfte auf welcher Station in welcher Schicht mindestens da sein müssen. Sind es zu wenige, müssen neue eingestellt werden.
Wären die Probleme damit gelöst?
Sicher nicht. Der Druck, die Kosten zu senken, bleibt bestehen. Aber ein solcher Tarifvertrag würde verhindern, dass dieser Kostendruck immer weiter durch das Verringern der Pflegekräfte gelöst wird. Erst dann kann eine sinnvolle Diskussion darüber beginnen, wie viel unsere Gesundheit wert ist, und wer sie bezahlen soll.
Wie stehen die Chancen auf den Tarifvertrag?
Nicht übel. Am 17. September finden die nächsten Tarifverhandlungen statt. Dann muss die Charité ein Angebot auf den Tisch legen. Wenn nicht, wird ver.di wahrscheinlich einen Streik vorbereiten.
Kann man ein Krankenhaus bestreiken?
Ja. Natürlich wird in Notfällen immer geholfen, so dass niemand zu Schaden kommt. Aber alle Behandlungen, die man verschieben kann, werden verschoben oder Patienten werden in ein anderes Krankenhaus verlegt. Dadurch können streikende Pflegekräfte die Charité finanziell unter Druck setzen und möglicherweise zum Nachgeben zwingen.
Selbst dann würde sich die Situation nur in der Charité verbessern.
Ich denke nicht. Die Charité ist nicht irgendeine Dorfklinik sondern mit etwa 3000 Betten das größte Krankenhaus Europas.
Ein Tarifvertrag über eine Mindestbesetzung würde tausenden anderen Pflegekräften begründete Hoffnung geben, dasselbe erreichen zu können. Als nächstens Schritt könnte ver.di über eine Mindestbesetzung in weiteren Uni-Kliniken verhandeln. Dort gibt es oft viele Gewerkschaftsmitglieder mit Streikerfahrung.
Die ver.di-Betriebsgruppe hat ein Solidaritätskomitee gegründet, in dem auch Leute aktiv sind, die nicht in der Charité arbeiten. Wozu ist das gut?
Das ist sehr wichtig, weil ein möglicher Streik nur dann erfolgreich sein kann, wenn möglichst viele Menschen verstehen, warum er uns allen nutzt. Auch den Patienten muss man erklären, dass es gut für sie ist, wenn ihre Behandlung wegen eines Streiks verschoben wird.
Wenn ver.di tatsächlich fünf Tage vor der Bundestagswahl einen Streik ankündigt, werden Internetseiten wie bild.de uns eimerweise mit Hetzparolen übergießen. Da müssen wir gegenhalten und auch die Leute auf der Straße aufklären.
(Das Interview führte Hans Krause.)
Zur Person:
Anja Kistler arbeitet für den Deutschen Berufsverband der Pflegeberufe und ist als Krankenschwerster schon lange auch berufspolitisch unterwegs. Sie unterstützt zudem aktiv die Kampagne für eine Mindestbesetzung der ver.di-Gruppe der Charité.
Mehr im Internet:
Weitere Informationen zur Kampagne auf www.mehr-krankenhauspersonal.de und facebook.com/ver.di.charite.buendnis.
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