Hinter dem drögen Wort »Gesundheitsreform« verbirgt sich die Dramatik der geplanten Kopfpauschale: Während Unternehmen und Reiche profitieren, sollen Arbeitnehmer und Arme kürzer treten – in bisher ungekanntem Ausmaß. Von Marc Renken
Das Gesundheitssystem ist unter Beschuss. Seit der ersten großen Reform im Jahr 1989 folgten zahllose Gesetzesänderungen. Zwei Ziele wurden damit verfolgt: die scheibchenweise Beschneidung des Leistungskatalogs und die Erhöhung des Versichertenanteils am Beitragsaufkommen. Ob es die Kürzung des Krankengelds, die Streichung des Sterbegelds oder die Einführung der Praxisgebühr waren: Die Kürzungen haben sowohl das Gesundheitssystem als auch die Leistungen für die Versicherten verschlechtert. Aber es waren Änderungen, die den Kern der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) weitgehend intakt ließen.
Doch mit der Verabschiedung des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes (GKV-WSG) im Jahre 2007 vollzog die damalige große Koalition einen Strategiewechsel und beendete die zögerliche Vorgehensweise der Vorgängerregierung. Bezeichnenderweise war es die sozialdemokratische Gesundheitsministerin Ulla Schmidt, die den ersten radikalen Einschnitt gegen den Widerstand nahezu aller Akteure im Gesundheitswesen durchsetzte.
Kern des Gesetzes war die Einführung des Gesundheitsfonds und die damit verbundene Entmachtung der Selbstverwaltung der Krankenkassen. Der Beitragssatz und damit die Höhe der Einnahmen werden seit Einführung des Gesundheitsfonds nicht mehr autonom von den Krankenkassen festgelegt, sondern diesen von der Bundesregierung per Gesetz verbindlich verordnet. Die Krankenkassen haben den Beitrag zwar weiterhin einzuziehen, müssen diesen aber taggleich an den Gesundheitsfonds weiterleiten, um dann wieder von diesem mit den Geldern bedient zu werden. Die Kassen, die mit den Zuweisungen aus dem Fonds nicht zurechtkommen, müssen einen Zusatzbeitrag von ihren Mitgliedern erheben, der ohne Beteiligung der Arbeitgeber allein von den Versicherten aufzubringen ist.
Damit hat die Bundesregierung den Krankenkassen die Hoheit über ihre Finanzen genommen und gleichzeitig den Weg für die endgültige Entlassung der Arbeitgeber aus der paritätischen Finanzierung des Gesundheitswesens geebnet. Genau hierin liegt der Paradigmenwechsel, den die große Koalition begonnen hat und der nun von Schwarz-Gelb fortgesetzt wird. Es geht nicht mehr darum, hier und da ein bisschen an der Leistungsschraube zu drehen, sondern um die Beerdigung des Solidargedankens, der bisher Garant für eine bezahlbare und ausreichende medizinische Versorgung der Bevölkerung war.
Gesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) plant, eine sogenannte einkommensunabhängige Kopfpauschale mit sozialem Ausgleich einzuführen. Der Arbeitgeberanteil soll nun bei 7,3 Prozent festgeschrieben werden. Die mit der Einführung des Gesundheitsfonds verankerte Regelung, dass der allgemeine Beitragssatz immer dann angehoben werden soll, wenn die Ausgaben der GKV nicht mehr mindestens zu 95 Prozent durch den Gesundheitsfonds gedeckt werden fällt ab 2011 weg. Zukünftige Kostensteigerungen sollen durch die Ausweitung der bereits eingeführten Zusatzbeiträge allein von den Versicherten geschultert werden. Der Beitragssatz an sich soll jedoch nicht mehr angehoben werden.
Das hätte zwei fundamentale Änderungen zur Folge: 1. Die Erhöhung des Beitragsaufkommens würde überproportional zu Lasten der Normal- und Geringverdiener gehen. 2. Die Arbeitgeber würden nicht mehr an zu erwartenden Kostensteigerungen im Gesundheitswesen beteiligt. Die Kopfpauschale würde erhöht und die Zusatzkosten wären allein von den Mitgliedern zu tragen.
Rösler bezeichnet diese Verschlechterungen zum bestehenden System als »sozial gerecht«. Er begründet das damit, dass die Versicherten, die mit der Kopfpauschale finanziell überfordert werden, einen steuerfinanzierten Zuschuss erhalten sollen. Und dieser würde schließlich von allen, also auch von den privat Versicherten, finanziert.
Röslers Beschwichtigungen halten einer genaueren Betrachtung nicht lange stand. Es handelt sich um eine Milchmädchenrechnung. Denn die Kosten, die auf den Bundeshaushalt zur Finanzierung des Sozialausgleichs zukommen, würden sich zwischen 15 und 40 Milliarden Euro einpendeln. Der genaue Betrag wäre abhängig von der Höhe der Kopfpauschale und von der Frage, ab welcher Einkommensgrenze Anspruch auf einen Steuerzuschuss bestehen würde. Selbst bei einer Steuerfinanzierung in Höhe von »nur« 15 Milliarden Euro bleibt die Frage, wie diese Gelder in Zeiten knapper Kassen aufgebracht werden sollen. Man muss kein Prophet sein, um vorherzusehen, dass die Finanzierung nicht zulasten der Gutbetuchten und Steuerbegünstigten gehen wird. Es ist absehbar, dass stattdessen der Leistungskatalog zusammengestrichen und letztlich auf ein existenzielles Minimum reduziert wird. Wer sich unter diesen Bedingungen keine private Zusatzversicherung leisten kann, wird eine kürzere Lebenserwartung haben. Im Koalitionsvertrag heißt es dazu: »Beitrag und Leistung müssen in einem adäquaten Verhältnis stehen.« Und weiter: »Die Versicherten sollen (…) ihren Krankenversicherungsschutz selbst gestalten können.« Doch vielen fehlt für eine solche »Selbstgestaltung« schlicht das Geld.
Angesichts dieses drohenden sozialen Kahlschlags protestiert nun unter anderem die SPD gegen die geplante Zerschlagung der GKV. Unter dem Slogan »Nein zur Kopfpauschale!« hat sie eine Kampagne gestartet. Führende Sozialdemokraten prangern die steigenden Kosten für Arzthonorare und Arzneimittel an, die einige Kassen zwängen, Zusatzbeiträge zu erheben. Die SPD nimmt dabei für sich in Anspruch, konsequent versucht zu haben, solche Zusatzbeiträge zu vermeiden.
Einerseits ist es erfreulich, wenn sich die SPD die Verteidigung der GKV auf die Fahnen schreibt, doch es bestehen Zweifel an der Aufrichtigkeit. Es war schließlich die damalige sozialdemokratische Gesundheitsministerin Ulla Schmidt, die den Acker für die aktuellen Planungen bestellt hat. Unter ihrer Federführung wurde im Jahr 2005 die Vorläuferversion der aktuellen Zusatzbeiträge eingeführt. Seinerzeit hatte die rot-grüne Regierung beschlossen, zur Finanzierung der Krankengeldausgaben einen Zusatzbeitrag in Höhe von 0,9 Prozent einzuführen, der allein von den Versicherten zu tragen war. Auf ihrer Homepage begründet die SPD ihre Zustimmung zur Einführung der Zusatzbeiträge im Jahre 2006 nun mit dem Druck der Union, dem sie sich hätte beugen müssen. Es ist schon erstaunlich, wie die SPD ihre Rolle in der großen Koalition darstellt: Schuld sind immer die anderen. Verschwiegen wird dabei nicht nur die Einführung des 0,9-prozentigen Zusatzbeitrags im Jahr 2005, sondern auch die diversen Zuzahlungen werden unterschlagen, die bereits unter Rot-Grün neu eingeführt oder erhöht wurden.
Gewinner der Koalitionspläne sind in erster Linie die Arbeitgeber, die von künftigen Kostensteigerungen abgekoppelt werden. Wen wundert es da, dass der Bundesverband der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) in einem Konzeptpapier zur Neuordnung der gesetzlichen Krankenversicherung genau in dieses Horn bläst. Dort wird die lohnbezogene Finanzierung der GKV unumwunden als Strafsteuer auf Beschäftigung bezeichnet. Der BDA fordert daher ganz im Sinne der Koalitionsvereinbarung, die Krankheitskostenfinanzierung vom Arbeitsverhältnis abzukoppeln, die »Eigenverantwortung« der Versicherten auszubauen und den Leistungskatalog auf eine Basissicherung zu konzentrieren. Langfristig soll danach eine ergänzende kapitalgedeckte Risikovorsorge aufgebaut werden.
Zunächst soll also das Solidarprinzip zerschlagen werden, um dann den Leistungskatalog so weit auszudünnen, dass die Versicherten gezwungen sind, auf kapitalgedeckte Risikovorsorge-Modelle zurückzugreifen. Mit anderen Worten: Erst soll die GKV auf Sozialhilfeniveau zusammengestrichen werden, damit sich dann Versicherungen die Taschen mit den Geldern aus der privaten »Risikovorsorge« vollstopfen können. Eine solche Privatisierung von Gesundheit ist ein Milliardengeschäft für die Konzerne: Allein die Ausgaben der GKV beliefen sich im Jahre 2009 auf 170,8 Milliarden Euro.
Parallel dazu würde ein Keil zwischen die unterschiedlichen Schichten innerhalb der Arbeiterklasse getrieben werden. Ein kleinerer Teil würde von den Plänen profitieren und wäre dann nur noch schwerlich für einen gemeinsamen Kampf für eine solidarisch finanzierte Krankenversicherung zu organisieren. Der Wunsch nach einer zufriedenstellenden medizinischen Versorgung und einer finanziellen Absicherung im Falle von Arbeitsunfähigkeit sind existenzielle Bedürfnisse, die allen Versicherten unabhängig von ihrer Herkunft, Hautfarbe oder sonstigen Unterschieden gemein sind. Mit welcher Entschlossenheit die Menschen bereit sind, gegen substanzielle Kürzungen in diesen elementaren Bereichen zu kämpfen, haben nicht zuletzt die erfolgreichen Widerstandskämpfe gegen die geplante Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall im Jahr 1996 gezeigt. Es ist die Angst der Regierenden vor solchem Widerstand, der sie bisher vor radikaleren Deformierungen des Gesundheitswesens zurückschrecken ließ.
Krankenversicherung in Deutschland
Ein Großteil der deutschen Bevölkerung, etwa 60 Millionen Menschen, sind in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) versichert. Kernelemente der GKV sind das Solidaritäts- und Sachleistungsprinzip. Diese beiden Prinzipien sind es, die der GKV ihren sozialen und fortschrittlichen Charakter verleihen. Das Solidaritätsprinzip bedeutet, dass jeder Versicherte grundsätzlich nur so viel Beitrag zahlt, wie es seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit entspricht. Denn die Krankenkassen berechnen die Beiträge prozentual vom Einkommen. Der Gesundheitszustand des Versicherten hat dabei weder Einfluss auf die Höhe des Beitrags noch auf den Umfang des Leistungsanspruchs. Auch spielt die Dauer der Mitgliedschaft keine Rolle. Familienangehörige ohne eigenes Einkommen werden zudem in der Regel beitragsfrei mitversichert. Die Arbeitgeber haben für ihre Arbeitnehmer einen Teil des Beitrags zu zahlen.
Hinter dem Sachleistungsprinzip steht der Gedanke, dass die gesetzlich Versicherten finanziell nicht in Vorleistung treten müssen, wie es standardmäßig in der privaten Versicherung (PKV) der Fall ist. Jedes Kassenmitglied erhält eine Krankenversichertenkarte, über die grundsätzlich alle Leistungen direkt zwischen Ärzten etc. und den Krankenkassen abgerechnet werden können. So wird garantiert, dass die Inanspruchnahme von Leistungen nicht an der fehlenden Vorfinanzierung durch den Versicherten scheitert.
Im Gegensatz zum Solidaritätsprinzip der GKV orientiert sich die private Versicherung am Prinzip der Gewinnmaximierung. Während die GKV gesetzlich verpflichtet ist, etwaige Überschüsse in Form von Beitragsrückzahlungen an ihre Mitglieder zurückzugeben, liegt das Bestreben der PKV darin, möglichst viel Profit aus den Beiträgen ihrer Mitglieder zu generieren. Die Beitragshöhe richtet sich daher nicht nach wirtschaftlichen Verhältnissen der Mitglieder, sondern deren Gesundheitszustand, Alter und Geschlecht. Familienangehörige müssen zudem einen eigenen Beitrag zahlen.
Mehr auf marx21.de:
- »Ein Solidarsystem, in das die Reichen nicht einzahlen, kann nicht funktionieren« Es gibt keine Kostenexplosion im Gesundheitswesen, dennoch droht den Krankenkassen ein Milliardendefizit. marx21 hat mit dem Politikwissenschaftler Nils Böhlke über die Ursachen des Defizits und eine sozial gerechte Alternative zum schwarz-gelben Umbau des Gesundheitssystems gesprochen.
- »Ein Krankenhaus muss wie eine Autofabrik funktionieren«: Das System der DRG-Fallpauschalen ist der Brandbeschleuniger der Privatisierungswelle im Gesundheitswesen. Tobias Paul beschreibt, was eine am Markt orientierte Gesundheitspolitik angerichtet hat (Artikel vom 12.08.2008)
- Geiz in der Klinik ist tödlich: In Berlin demonstrierten 130.000 Krankenhausbeschäftigte gegen unzumutbare Arbeitsbedingungen und beständig sinkende medizinische Versorgungsqualität der Bevölkerung. Tobias Paul erklärt die Hintergründe der Proteste (Artikel vom 26.09.2008)
- Der Kapitalismus und die Grippe: Mike Davis erklärt wie die globalisierte Agrarindustrie die Voraussetzungen für den Ausbruch der Schweinegrippe in Mexiko schuf (Artikel vom 07.06.2009)
- Profiteure der Angst: Millionen Deutsche sollen gegen die Schweinegrippe immunisiert werden. Hans Krause fragt sich, ob die Massenimpfung nicht vor allem die Profite der Pharmakonzerne schützt (aus: marx21, Heft 13, Winter 2009/2010)