Rudi Dutschke war das Gesicht der Revolte von 1967/68 in Deutschland und starb 1979 an den Spätfolgen eines Attentats. Am Samstag den 7. März 2015 wäre er 75 Jahre alt geworden. SDS-Veteran Volkhard Mosler stellt die Ideen Rudi Dutschkes vor.
Rudi Dutschke ist in der Hochphase des Sozialistischen Deutschen Studentenverbands (SDS) dessen prominenteste Persönlichkeit gewesen. In den frühen 1960er Jahren hatte der SDS etwa 600 Mitglieder. Die Theoriearbeit stand in dieser Phase im Vordergrund, Aktionen auf der Straße und an den Unis waren eher klein und selten.
1967 war der SDS bereits auf 2.000 Mitglieder angewachsen und hatte einen politischen Richtungswechsel hin zu einer revolutionären Organisation vollzogen. Dieser Wandel geschah vor dem Hintergrund der Schwächung antikommunistischer Ideen in der Gesellschaft, der Gegnerschaft zum US-amerikanischen Krieg in Vietnam und der ersten Nachkriegsrezession von 1966. Die erste Große Koalition aus CDU und SPD, überfüllte Hörsäle und eine Reform der Hochschulbildung trugen ebenfalls zur wachsenden Unzufriedenheit unter jungen Menschen bei.
Aber die Linkswendung des SDS war auch und vor allem das Ergebnis der direkten Intervention einer Gruppe linker Studenten. 1965 trat eine Gruppe (»Subversive Aktion«) von sieben, ursprünglich eher anarchistisch gesinnten Studierenden dem SDS bei. Rudi Dutschke war einer von ihnen.
Individuen
1966 hatten sich zwei Hauptfraktionen im SDS herausgebildet – auf der einen Seite die älteren Mitglieder, die so genannten Traditionalisten, und auf der anderen der jüngere, antiautoritäre Flügel mit Rudi als seinem wichtigsten Vertreter.
Rudi und seine Anhänger waren fasziniert von der Bedeutung der »Subjektivität«, der Fähigkeit menschlichen Handelns, den Gang der Geschichte zu verändern. Nach Rudis Ansicht war der Marxismus der »Traditionalisten« »einseitig« in seiner Betonung der »objektiven« Faktoren in der Geschichte. Er schrieb, dass damit »der freie Wille des Individuums, der Gruppe, der Partei liquidiert und alles unvermeidlich würde.«
1966 stießen die beiden Strömungen zusammen. Die Sprecher der »Traditionalisten« hatten ein Bildungsprogramm entworfen. Sie meinten: »Wie die Arbeiter ohne die Lehren der Partei lediglich ein gewerkschaftliches Bewusstsein entwickeln können, genauso können die Studenten ein sozialistisches Bewusstsein nur durch die Lehren des SDS erlangen.« Nach ihrer Auffassung war Klassenbewusstsein nur durch die Bildungsarbeit der Partei, beziehungsweise des SDS zu erreichen, nicht durch spontane- Erfahrungen in Aktionen und Kämpfen.
Als Reaktion entwickelten Rudi und seine Anhänger eine Orientierung auf »provokative Aktionen«. Sie meinten, dass die Polizeibrutalität den Studenten mehr über das Wesen des Staates beibringen würde als das Lesen von Büchern. Im September 1967 konnte er eine Mehrheit des SDS für seinen Standpunkt gewinnen.
Störung
Als 1967 der Schah, der damalige Diktator Irans, Berlin besuchte, organisierte der SDS Demonstrationen gegen ihn. Im Zuge eines brutalen Polizeieinsatzes erschoss der Polizist Karl-Heinz Kurras am 2. Juni den Student Benno Ohnesorg. Dieses Ereignis löste die erste allgemeine und spontane Welle von Studentenprotesten aus.
Wenige Tage später warf der Philosoph Jürgen Habermas Dutschke auf einem Kongress zur Beerdigung
Ohnesorgs in Hannover unter anderem »Voluntarismus« vor. Er argumentierte, dass Dutschke mit seiner Taktik einer kalkulierten Anwendung von Gegengewalt bewusst Menschenleben riskiere, obwohl in Deutschland keine revolutionäre Situation vorherrschte. Nur unter der Annahme einer revolutionären Situation sei Gewalt zu rechtfertigen. Rudi antwortete, dass organisierte Gegengewalt allein schon für Verteidigungszwecke nötig sei. Er argumentierte, dass Habermas‘ »Objektivität« lediglich dazu diene, eine aufsteigende Bewegung zurückzuhalten.
Doch 1967 gab es in Deutschland tatsächlich keine revolutionäre Situation. Dutschke schien aber davon auszugehen, dass eine solche durch die Aktionen der Studierenden initiiert werden konnte. Er und seine Anhänger sagten, dass der entwickelte Spätkapitalismus an sich in einem gewissen Sinne stets eine revolutionäre Situation böte. Damit meinten sie, dass es genügend gesellschaftlichen Reichtum gäbe, um eine Welt ohne Hunger zu ermöglichen, wenn nur die Gesellschaft sozialistisch organisiert wäre.
Aber wie können sich diese objektiven Bedingungen zu einer Situation verdichten, in der eine erfolgreiche Revolution auch „subjektiv« wird, das heißt ausbricht? In seinem Tagebuch greift Rudi das Beispiel von Che Guevara und dem von ihm in Bolivien eingeleiteten Guerillakrieg auf.
Er schrieb: »Revolutionäre dürfen nicht einfach auf die objektiven Bedingungen für eine Revolution warten. Durch die Schaffung von bevölkerungsnahen ‚bewaffneten Foci‘ könnten sie die objektiven Bedingungen für eine Revolution durch ihre subjektiven Initiativen schaffen.«
Der Umsturz
In einer Rede auf dem SDS-Kongress im September 1967 sagte Rudi, dass »die Propaganda des Schießens« in der Dritten Welt verbunden werden müsse mit der »Propaganda der Tat« in Deutschland. In der Rede versuchte er Che Guevaras Kampftaktik vom Guerillakrieg von Südamerika auf Europa und Deutschland zu übertragen. Den Begriff der »Propaganda der Tat« hatte er vom russischen Anarchisten Michael Bakunin übernommen.
Eine Gruppe um den SDS folgerte aus solchen Analysen, dass der bewaffnete Kampf in Gestalt eines Guerillakriegs notwendig sei, um das System zu stürzen. Die Rote Armee Fraktion (RAF) konnte sich auf solche Ambivalenzen berufen. Aber Rudi war zu sehr revolutionärer Realist, um individuellen Terrorismus gut zu heißen oder den bewaffneten Kampf aufzunehmen. Er argumentierte, dass der Aufruf, Bosse oder Minister zu töten, verfehlt sei, da diese Leute leicht zu ersetzen seien. Rudi hatte aber Probleme, eine alternative Strategie zu entwickeln, da er die Arbeiterklasse in den entwickelten Ländern als »revolutionäres Subjekt« aufgegeben hatte.
Es gab enorme Kämpfe in Westdeutschland 1968. Dazu gehört der Vietnamkongress in Berlin im Februar, der von 5000 revolutionären Studenten und jungen Arbeitern besucht wurde.
Aufgestachelt durch die Bildzeitung schoss der Jungfaschist Josef Bachmann auf Rudi und verletzte ihn lebensgefährlich. Aus Protest blockierten 50.000 junge Menschen mehrere Tage die Auslieferung der Bildzeitung, die ihre Leserschaft dazu aufgerufen hatte, die »Störenfriede« zu eliminieren. Es kam zu den heftigsten Straßenschlachten der Nachkriegszeit.
Einen Monat später kam es zu einer weiteren Welle von Universitätsbesetzungen und Demonstrationen gegen die Notstandsgesetze, die zukünftige Regierungen mit allen Vollmachten ausstattete, das Parlament außer Kraft zu setzen. Studenten, Schüler und Gewerkschaften demonstrierten nun zum ersten Mal gemeinsam. Aber auch dieses Mal setzte sich die Polizei durch. Die Studentenrevolte war an die Grenzen ihrer Möglichkeiten gestoßen.
Eine neue Perspektive tat sich auf mit dem Generalstreik der französischen Arbeiter im Mai 1968, der die herrschende Klasse erschütterte. Er zeigte die potenzielle Macht der Arbeiter, die Welt zu verändern.
Rudi starb 1979 an den Spätfolgen des Anschlags, der weite Teile seines Gehirns zerstört hatte. Aber Millionen Menschen weltweit lassen sich heute noch von den Kämpfen von 1968 inspirieren, in denen er eine so zentrale Rolle gespielt hatte.
(Dieser Artikel ist erschienen in: marx21, Heft 6, Juni 2008)
Schlagwörter: 1968, Bild, Generalstreik, Imperialismus, Marxismus, Protest, Rudi Dutschke, SDS, Spätkapitalismus, Vietnam, Vietnamkongress