Muss man die Menschen für den Sozialismus umerziehen? Keineswegs, meint Erich Fromm in seinem Buch über Marx. Sie müssen nur ihre korrumpierende Erziehung loswerden. Von Carla Assmann
»Fromm reinigt das Bild«, schrieb der begeisterte Rezensent in der Zeit. Es sind die frühen 1960er Jahre, der Kalte Krieg nimmt weiter an Fahrt auf, da veröffentlicht der bekannte Psychoanalytiker Erich Fromm ein kleines Buch, das vielen die Augen öffnet. Es trägt den Titel »Das Menschenbild bei Marx«.
Die »Verfälschung des Marxschen Denkens« wird von zwei Seiten betrieben, heißt es dort. Auf der einen Seite beanspruche das sowjetische Regime Marx zur politischen Legitimation – und entstelle dabei seine Ideen. Der antikommunistische Westen auf der anderen Seite glaube diese Propaganda aber nur allzu gern und werfe Marx vor, sein Ideal einer anderen Gesellschaft habe aus seelenlosen Robotermenschen unter der Knute einer totalitären Bürokratie bestanden. Zugleich würden die Antikommunisten nicht müde zu betonen, dass der Kapitalismus mit seinem egoistischen Profitstreben nun einmal der menschlichen Natur entspreche und die Idee einer sozialistischen Gesellschaft realitätsfremde Träumerei sei.
Alternative zum Kapitalismus
Hat nicht die Geschichte bewiesen, heißt es tatsächlich noch heute, dass keine Alternative zum Kapitalismus möglich ist? Sozialismus könne nicht funktionieren, und wenn, dann sehe er aus wie die DDR.
So sind denn auch die Argumente, die Erich Fromm in »Das Menschenbild bei Marx« dagegen anführt, heute genauso aktuell und notwendig wie damals.
Unfrei und unglücklich
Fromms Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass Marx‘ Kritik am Kapitalismus weit über die Verteilung materieller Güter hinausgeht. Die kapitalistische Produktionsweise macht nicht nur einige wenige Menschen absurd reich, während die meisten anderen kaum genug zum Überleben haben, sie macht alle Menschen auch unfrei und unglücklich, weil sie ihnen den Zugang zu ihren wahren Bedürfnissen versperrt.
Zugleich richtet sich Marx gegen jede Art von biologischem oder historischem Determinismus. Menschen schaffen sich die gesellschaftlichen Ordnungen, unter denen sie leben, selbst – und können sie daher auch verändern.
Zentral für Marx‘ Analyse ist die Arbeit, die für die Menschen eine doppelte Funktion hat: Zum einen ist die Produktion von Lebensmitteln absolut notwendige Überlebensgrundlage, zum anderen Ausdruck des menschlichen Bedürfnisses, mit der Natur und anderen Menschen in Kontakt zu treten. »Nur wenn er produktiv tätig ist, kann der Mensch sein Leben sinnvoll machen und sich daran freuen«, schreibt Fromm.
Entfremdete Menschen
Als Individuen sind die Menschen aber geprägt von den Umständen, die sie sich als Gesellschaft geschaffen haben. Im Kapitalismus verliert die Arbeit durch Arbeitsteilung und Privateigentum an Produktionsmitteln den Charakter selbstbestimmten Ausdrucks menschlicher Fähigkeiten und wird zu einem Zwang, der die menschliche »Physis abkasteit und seinen Geist ruiniert«.
Diese »Entfremdung« von der eigenen Tätigkeit verhindert, dass die Menschen die produzierten Gegenstände als ihr eigenes Werk erkennen. Da sie ihre Zeit und Lebensfreude der Produktion von »Dingen« opfern, scheint es, als würden die Dinge sie beherrschen. Ebenso erscheinen die gesellschaftlichen und politischen Umstände wie Naturgewalten, denen die Menschen machtlos gegenüberstehen.
Selbstständig mitbestimmen
Marx hat auch davor gewarnt, die Vergesellschaftung von Produktionsmitteln mit ihrer Verstaatlichung zu verwechseln, denn dann wären die Menschen lediglich dem »abstrakten Kapitalisten«, dem Staat, der Bürokratie, unterworfen. Um die Entfremdung von der Welt und den Mitmenschen zu durchbrechen, muss jede und jeder Einzelne über die gesellschaftlichen Prozesse selbstständig mitbestimmen können.
»Sozialismus als solcher war für Marx nie die Erfüllung des Lebens, sondern war vielmehr die Bedingung einer solchen Erfüllung«, verdeutlicht Fromm. Auch betont er, dass Forderungen, die sich einzig auf mehr Verteilungsgerechtigkeit richten, ein Grundproblem außer Acht lassen: Das Herrschaftsverhältnis bliebe erhalten und somit auch die Möglichkeit, materielle Verbesserungen jederzeit rückgängig zu machen.
Sozialismus ist Emanzipation
Wichtig ist Fromm, darauf hinzuweisen, dass für Marx die Vorstellung nicht-entfremdeter Arbeit keineswegs zum Inhalt hatte, im Sozialismus derselben stumpfsinnigen Arbeit wie im Kapitalismus nachzugehen, bloß eben freiwillig, oder gar sich der Gemeinschaft zuliebe in Askese zu üben. Im Gegenteil stehen den Menschen in einer sozialistischen Gesellschaft alle Möglichkeiten der Selbstverwirklichung offen, denn die gesellschaftliche Regelung der Produktion befreit den Einzelnen von der ständigen Sorge um die Sicherung des Überlebens. So entsteht Raum für neue Wünsche und Ideen und das demokratische Wirtschaften bietet Zeit und Gelegenheit, diese umzusetzen.
Im Leben der Arbeiterklasse zeigt sich die aus der kapitalistischen Produktionsweise resultierende Unterdrückung der Menschen besonders deutlich und unerbittlich, graduell leiden jedoch alle gesellschaftlichen Klassen unter der »Versklavung des Menschen (…) durch Dinge und Umstände, die sie selbst machen«, betont Fromm. Deshalb müsse die Emanzipation von diesen Umständen politisch zwar die Form der Arbeiteremanzipation annehmen, aber eben nicht, um die bestehende kapitalistische Herrschaft durch die neue Herrschaft einer Klasse über andere zu ersetzen, sondern weil in der Befreiung der Arbeiter die Befreiung aller Menschen enthalten ist.
Potenzial zur Befreiung
Erich Fromm versucht im »Menschenbild bei Marx« zu zeigen, dass die kapitalistische Gesellschaftsordnung nicht nur der »Natur des Menschen« widerspricht, sondern dass eben die menschliche Natur auch das Potenzial zur Befreiung von den selbst geschmiedeten Fesseln bereithält. Seine philosophiehistorische Herleitung überzeugt zwar nicht durchgängig, doch schmälert das keineswegs den Gesamteindruck. Fromm zeigt sehr schön, dass die Kerngedanken aus den frühen, philosophischen Schriften von Marx auch für sein Spätwerk zentral sind. Neben vielen Zitaten im eigentlichen Text gibt es einen Anhang mit umfangreichen Auszügen aus den Frühschriften von Marx.
»Marx-Kenner mögen bitte dazu nicht bemerken, dies sei nicht neu«, hieß es in der Buchbesprechung der Zeit. »Für Millionen von Menschen, die über Marx jeden Tag lesen, seinen Namen jeden Tag nennen (und meist verfluchen), sind diese Tatsachen durchaus neu.« Leider gilt das noch heute. Grund genug, Fromms Buch zu lesen.
Das Buch:
Erich Fromm
Das Menschenbild bei Marx. Mit den wichtigsten Teilen der Frühschriften von Karl Marx
Ullstein Verlag
Frankfurt am Main
Wiederauflage 1980
Nur noch antiquarisch erhältlich
Zur Autorin:
Carla Assmann ist Redakteurin von marx21 und verzweifelt seit der Lektüre dieses Klassikers nicht mehr so oft an ihren Mitmenschen.
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