Unbekannte haben am 9. Januar die kurdischen Aktivistinnen Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez in Paris mit Kopfschüssen ermordet. Der Anschlag behindert die Friedensverhandlungen zwischen der PKK und dem türkischen Staat. Von Irmgard Wurdack
Die Ermordung hat unter Kurden große Bestürzung ausgelöst. Unmittelbar nach den Anschlägen protestierten Hunderttausende in ganz Europa. Auch in kurdischen Städten in der Türkei, dem Irak und Syrien gab es große Massenproteste.
Die Art und Weise des Dreifachmordes deutet darauf hin, dass die Tat von professionellen Killern begangen wurde. Die drei Frauen waren führende Aktivistinnen in der Befreiungsbewegung gegen die Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung durch den türkischen Staat. Sie haben sich für eine friedliche und demokratische Lösung der kurdischen Frage eingesetzt.
Eine der drei Frauen, Sakine Cansız, war Gründungsmitglied der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Türkische und kurdische Oppositionelle gehen davon aus, dass die Täter den derzeitigen Friedensdialog zwischen Vertretern der türkischen Regierung und dem auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali inhaftierten Vorsitzenden der PKK Abdullah Öcalan torpedieren wollten.
Militär sabotiert Friedensverhandlungen
Statt von der französischen Polizei eine schnelle Aufklärung zu fordern, behaupteten Vertreter der türkischen Regierungspartei AKP bereits unmittelbar nach Bekanntwerden der Morde, es hätte sich vermutlich um eine Abrechnung innerhalb der PKK gehandelt. Belege dafür hatten sie nicht.
Umgekehrt sabotieren das türkische Militär und türkische Regierungsvertreter selbst den so genannten Friedensdialog von Beginn an: Die türkische Armee bombardiert vermeintliche Guerillastellungen in den Kandilbergen in Südkurdistan/Nordirak. Der Regierungssprecher der Türkei Başir Atalay nannte dies eine »integrative Strategie«. Einerseits spricht die Regierung also mit Öcalan, andererseits aber kerkert sie weiter kurdische Aktivistinnen und Aktivisten ein und bombardiert kurdische Siedlungsgebiete.
Kurdische Aktivisten kriminalisiert
Die Föderation kurdischer Vereine in Deutschland (YEK-KOM) und Vertreter der kurdischen Friedens- und Demokratiepartei (BDP) verlangen eine umfassende Aufklärung des Verbrechens. Kurdische Aktivisten werden auch in Frankreich kriminalisiert und beobachtet. In den letzten fünf Jahren wurden rund 200 Kurdinnen und Kurden wegen ihres politischen Engagements festgenommen.
Das Kurdistan-Informationszentrum in Paris, in dem Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez hingerichtet wurden, wurde 24 Stunden am Tag observiert – auch am Abend des Mordes. Die Attentäter müssen also gesehen oder gefilmt worden sein.
Wiederholt Attentatspläne
Zübeyir Aydar (Mitglied des Exekutivrates der Union der Gemeinschaften Kurdistans, KCK) berichtete bereits 2011 über Informationen, dass türkische Regierungskreise Hinrichtungskommandos nach Europa entsandt haben, um führende Aktivistinnen und Aktivisten der kurdischen Befreiungsbewegung zu ermorden. Remzi Kartal (Vorsitzender des Volkskongresses Kurdistan), Haci Ehmedi (Vorsitzender der iranischen Partei für ein Freies Leben in Kurdistan, PJAK) und Zübeyir Aydar standen auf der Todesliste.
Nach Angaben der deutschen und der belgischen Polizei wurden tatsächlich zwei Hinrichtungskommandos festgenommen. In Belgien teilte die Polizei kurdischen Exilpolitikern 2012 in Charleroi mit, dass ein Attentat auf sie vereitelt worden sei.
Zusammenarbeit der Geheimdienste
Die Geheimdienste von USA und EU arbeiten eng mit dem Geheimdienst des NATO-Staats Türkei zusammen. Daher sind auch Zweifel angebracht, ob und inwieweit der oder die Mörder überhaupt unbemerkt vorgehen konnten – und inwieweit westliche Geheimdienste von den Anschlagsplänen wussten oder selbst verstrickt sind.
Auch die deutsche Staatsanwaltschaft ermittelte gegen zwei der ermordeten Frauen nach dem berüchtigten Paragraph 129b StGB (Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung). Nach diesem Paragraphen Beschuldigte müssen keine Straftat in Deutschland begangen haben. Es genügt, dass sie irgendwo auf der Welt der Zugehörigkeit einer aufgrund außenpolitischer Interessen der Bundesregierung als »terroristisch« erklärten Gruppierung beschuldigt werden.
In Hamburg festgenommen
Die in Frankreich lebende Sakine Cansız wurde 2007 tatsächlich in einem Hamburger Café festgenommen – mit der Begründung, dass das Staatssicherheitsgericht in Malatya ihr vorwerfe, Mitglied einer terroristischen Vereinigung zu sein. Cansız musste, ebenso wie die anderen wegen angeblichen politischen Straftaten in Auslieferungshaft genommenen kurdischen und türkischen Aktivisten, nach mehreren Wochen freigelassen werden.
Die Enthüllungsplattform Wikileaks hat ein Dokument der US-Botschaft in Ankara ebenfalls aus dem Jahr 2007 veröffentlicht, in dem die »Finanzexpertin« und »Strategin« Sakine Cansız als »Topziel« bezeichnet wird, das auszuschalten sei. Europäische Behörden sollten veranlasst werden, Cansız »einzukerkern«.
NATO-Schützenhilfe für die Türkei
Die Liste von Beispielen westeuropäischer und US-amerikanischer Schützenhilfe für den NATO-Partner Türkei ist lang. Die kurdischen Siedlungsgebiete in der Türkei, in Syrien, Iran und Irak sind von großer geostrategischer Bedeutung für die USA und die EU.
Die kurdische Befreiungsbewegung in der Türkei und in Syrien kämpft für demokratische Autonomie und Selbstverwaltung. Ein Erfolg der kurdischen Befreiungsbewegung und eine selbstbewusste kurdische Bevölkerung stünden im Widerspruch zu den imperialistischen Interessen von USA und EU, sowie der transnationalen Konzerne, die Rohstoffe im Mittleren Osten zu kontrollieren.
Flüchtlinge drangsaliert
Aus diesem Grund werden kurdische Flüchtlinge auch im westeuropäischen Exil kriminalisiert und drangsaliert. Die europäischen Staaten – und allen voran Deutschland – versorgen das türkische Militär mit Waffen, Munition und Panzern für seinen Krieg gegen die kurdische Bevölkerung.
Vor diesem Hintergrund erscheint die Frage durchaus legitim, ob nicht nur der türkische, sondern auch die westlichen Geheimdienste etwas von dem jüngsten Hinrichtungskommando gewusst haben oder gar selbst beteiligt waren.
Die Linke in Europa hat dazu beigetragen, Verbindungen zwischen dem türkischen und den westeuropäischen Geheimdiensten aufzudecken. Sie ist auch weiterhin gefordert, die Waffenexporte in die Türkei zu skandalisieren sowie sich mit der kurdischen Bewegung gegen die Unterdrückung durch den türkischen Staat und die Kriminalisierung kurdischer Flüchtlinge hierzulande – insbesondere gegen das PKK-Verbot – zu solidarisieren.
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