»Das Böse« gehört zu den Dingen, denen man im Leben nicht ausweichen kann. Bis in unsere Zeit hinein ist die Geschichte der Menschheit vom Bösen betroffen, jeder oder jede einzelne von uns. Das Böse ist politisch, denn wir kämpfen für eine bessere Welt, in der es das Böse nicht mehr gibt oder wenigstens möglichst wenig. Der marxistische Literaturkritiker Terry Eagleton hat sich des schwierigen Gegenstandes angenommen. Thomas Walter hat sein Buch gelesen
Terry Eagleton, katholisch erzogen, beginnt mit mittelalterlicher Theologie, um zu beschreiben, was das Böse eigentlich ist oder sein könnte. Die mittelalterlichen Theologen wollten den Glauben an einen gütigen Gott verteidigen, der die Welt erschaffen habe. Das Problem war, dass die Schöpfung Gottes voll von Bösem war, was ja einem gütigen Schöpfergott widersprach. Dialektisch löste der Theologe Thomas von Aquin dieses Problem, indem er das Böse einfach zum Nichts erklärte. Die Welt ist eine Art Schweizer Käse. Der Käse selbst ist gut, die Löcher böse. Zum Schweizer Käse gehört aber beides, um gut zu sein.
Diese auf den ersten Blick einfältige Vorstellung findet sich in abgewandelter Form später wieder. Hegel z.B. erklärte »Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig«. Unvernünftiges ist also nicht wirklich. Bei Marx sind alle Klassengesellschaften, auch der Kapitalismus, »Vorgeschichte«. Die eigentliche Geschichte beginnt erst mit der zukünftigen Befreiung von der Entfremdung des Kapitalismus, der die letzte Klassengesellschaft darstellt. Klassengesellschaften sind so noch nicht, erst die befreite Gesellschaft ist.
Böse sind eigentlich tot
In der Literatur, die der Literaturkritiker Eagleton anführt, werden Böse denn auch als eigentlich Tote, als Nichtse beschrieben. In einem Roman von William Golding erfährt der Leser am Ende, dass die böse Hauptperson schon zu Beginn der Geschichte gestorben ist, aber andererseits nicht sterben kann. Ähnlich in einem Roman des irischen Schriftstellers Flann O’Brian, in welchem, vom Leser zunächst unbemerkt, der böse Täter schon zu Beginn stirbt und nach seinem Tod in eine Zeitschleife gerät. Eine Szene vom Anfang des Buches wiederholt sich in genau gleicher Weise am Ende der Erzählung.
Die Vorstellung, dass böse Menschen einerseits tot sind, andererseits nicht sterben können, wenn sie nicht irgendwie erlöst werden, findet sich in zahlreichen Mythen, etwa vom Fliegenden Holländer. Für Jean-Paul Sartre waren die anderen die Hölle (»L’enfer, c’est les autres«). Eagleton überlegt, ob nicht für böse Menschen vielmehr das eigene Ich, das zur Unsterblichkeit verurteilt ist, die Hölle ist.
Entfremdet von der Menschheit
Bei Thomas Mann findet sich das Böse und der Tod in dem genialen Komponisten Adrian Leverkühn vereinigt. Dieser Leverkühn steckt sich absichtlich mit einer tödlichen Geschlechtskrankheit an und wird zum Mörder. Er will so aus diesem Bewusstseinszustand heraus bis zu seinem Ende einerseits kunstvolle, andererseits Karikaturen, letztlich sinnlose musikalische Meisterwerke komponieren.
Eagleton sieht diesen Roman als ein Gleichnis auf den Nationalsozialismus. Faschisten sind nach Walter Benjamin so entfremdet, dass sie nicht nur den Untergang der anderen, sondern auch ihren eigenen als »Gemeinschaftserlebnis«, als imposantes »gewaltiges« Kunstwerk, als Götterdämmerung, anstreben.
Freud und der Todestrieb
Vom Bösen als Nichts, als einem scheinbar Lebendigen, das in Wirklichkeit tot ist, geht Terry Eagleton zum Todestrieb der Psychoanalyse von Sigmund Freud über. Den Todestrieb erklärt Freud weniger mystisch, sondern über die Evolution. In der Evolution des Lebens hat sich nicht nur Nächstenliebe und Solidarität (»Eros«) herausgebildet, sondern auch der Todestrieb (»Thanatos«).
Auch diese Fähigkeit, andere oder auch sich selbst zu zerstören, war zum Überleben der Art notwendig. Freud erklärte sich die Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts nicht zuletzt über diesen von den Menschen nicht beherrschten Trieb. Er hatte eine pessimistische Weltsicht.
Schlecht vs. böse
Schließlich unterscheidet Eagleton »evil« von »wickedness«, was der deutsche Übersetzer durch »Böse« und »Schlechtigkeit« wiederzugeben versucht. Evil oder das Böse definiert Eagleton als das Böse schlechthin, das Böse als Selbstzweck. Es kann nicht auf andere Ursachen zurück geführt werden und ist deshalb eine besonders unheimliche Art von Bösartigkeit. »Wicked« (»schlecht«) ist dagegen das Böse als Instrument, um anderes wie Macht oder Reichtum zu erreichen. Diese Art von Bösartigkeit erscheint leichter zu erklären und ist deshalb nicht so unheimlich.
Hier stellt sich die Frage nach den Unterschieden zwischen dem »bösen« Hitler und den »schlechten« Stalins oder Maos. Eagleton stellt fest, dass es den Opfern wenig hilft, ob sie von einem Verrückten umgebracht oder wegen irgendeinem sozusagen »nachvollziehbaren« Zweck, Aufbau der Sowjetunion oder der Volksrepublik China, Stärkung der staatlichen Macht usw. ermordet wurden.
Zu selten, um Angst zu haben
So unheimlich das reine Böse sein mag, hält es Eagleton doch nicht für etwas, das uns schlaflose Nächte bereiten sollte. Dazu ist es einfach zu selten, meint Eagleton. Der größte und schlimmste Schaden käme immer noch von banaler Schlechtigkeit, Kriege um Öl, Ausbeutung und Unterdrückung anderer Menschen, Machtkämpfen, Quälereien im kapitalistischen Alltag.
Angesichts des Nationalsozialismus überrascht diese Auffassung etwas. Vielleicht sollte man hier ergänzend überlegen, ob nicht auch absolut Böses oft erklärbar ist, also »Schlechtigkeit« darstellt, selbst wenn es sich um auf den ersten Blick unerklärliche Taten handelt.
Elend der Vergangenheit
Eagleton wird bei manchen Marxisten, für die Optimismus zur marxistischen Weltanschauung gehört, auf Widerspruch stoßen, wenn er etwa die These Freuds vom Todestrieb ernst nimmt. Eagleton hält Geschichte nicht für gesetzmäßig fortschrittlich. Er hinterfragt, ob Kommunismus wirklich nur durch den vorausgehenden Kapitalismus als zwar schmerzliche, aber eben doch notwendige Voraussetzung, erreicht werden kann.
Schließlich weist Eagleton (ähnlich wie vor ihm Jean-Paul Sartre) darauf hin, dass für Millionen Menschen der Vergangenheit jede Hilfe zu spät kommt. Auch ein zukünftiges kommunistisches Paradies kann das Elend vergangener Einsamkeit und Sinnlosigkeit, vergangener Kriege und Massenmorde nicht ungeschehen machen.
Hoffnung durch Veränderung
Hoffnung schöpft Eagleton aus einer materialistischen Weltanschauung. Letztlich ist das Böse nicht von der Welt losgelöst, absolut, auch wenn es das sein möchte, sondern immer an materielle Umstände gebunden. Da die materielle Welt durch uns, die wir Teil der materiellen Welt sind, verändert werden kann, ist das Böse nichts absolutes, sondern überwindbar.
Vielleicht ist das nicht so weit von Thomas von Aquin und seiner Vorstellung entfernt, dass das Böse nicht wirklich Teil der Welt, insofern ein Nichts ist. Trotz Todestrieb und vieler böser und schlechter Erfahrungen haben wir als materielle Wesen in einer materiellen Welt die Chance, eine bessere Welt zu schaffen.
Das Buch:
Terry Eagleton
Das Böse
Aus dem Englischen von Hainer Kober
Ullstein Verlag
Berlin, 2011
208 Seiten, gebunden
18 Euro
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