Politische Polarisierung
Die Arbeitslosen und die Mittelschichten waren die beiden Gesellschaftsgruppen, die am härtesten von der Krise getroffen wurden. Aus diesen beiden Gruppen rekrutierte sich größtenteils die Anhängerschaft der Nationalsozialisten.
Für die Mittelschichten, also vor allem Handwerker, Kleinunternehmer, mittlere Beamte und Geschäftsinhaber war die Krise deshalb so schlimm, weil sie von zwei Seiten unter Druck standen. Sie »sahen oder fühlten sich gleichermaßen bedroht von der zunehmenden Konzentration des industriell-gewerblichen oder handelskapitalistischen Besitzes auf der einen, wie von den Ansprüchen der gut organisierten Industriearbeiterschaft auf der anderen Seite«, wie es der Soziologe Arno Klönne ausdrückt. Die sowohl gegen das Großkapital als auch gegen die organisierte Arbeiterschaft gerichtete Demagogie der Nationalsozialisten fiel hier auf fruchtbaren Boden.
Die Situation der Arbeitslosen war noch verzweifelter als die der Mittelschichten. Da alle sozialen Sicherungssysteme zusammengebrochen waren, bedeutete arbeitslos zu sein, in den meisten Fällen den Kampf ums Überleben zu führen. Gleichzeitig ließen die hohen Arbeitslosenzahlen keine Hoffnung zu, bald wieder angestellt zu werden. Die SA und andere Terrororganisationen der Nationalsozialisten konnten so zum Auffangbecken für Arbeitslose werden. Hier konnten diese eine soziale Heimat, Kameradschaft und ein neues Machtgefühl finden. Der Rassismus und Antisemitismus der Nazis erlaubte es ihnen wieder stolz zu sein, weil es nach dieser Ideologie Menschen gab, die noch unter ihnen standen: Juden, Ausländer, Homosexuelle.
Ein weiterer Aspekt war, dass die NSDAP eine radikale Alternative zum Weimarer Staat versprach. Gerade »die jungen und die Dauer-Arbeitslosen (waren) von Verzweiflung und Ungeduld bestimmt; ihnen konnte man nicht mit einer ,langfristigen Perspektive‘ kommen, sondern sie wollten Arbeit und Brot, hier und jetzt. (…) Die NSDAP versprach Abhilfe gegenüber ihrer Not in kürzester Frist«, so Klönne. Auf diese Weise gelang es Hitlers Partei innerhalb weniger Jahre eine wirkliche Massenbewegung aufzubauen. Im Juli 1932 war die Mitgliedschaft der SA auf 400.000 angewachsen.
Aber die Wirtschaftskrise hatte nicht nur das Erstarken der extremen Rechten zur Folge. Vielmehr bewirkte sie eine politische Polarisierung – auch die Linke gewann an Bedeutung. So bescherte die erste Wahl nach Beginn der Krise den Kommunisten einen Stimmenzugewinn von 1,3 Millionen. Bis 1932 wuchs die Anzahl ihrer Mitglieder von 100.000 (1928) auf eine Viertelmillion. Die Partei organisierte Demonstrationen und immer wieder kam es auch zu direkten Konfrontationen mit den Nazis. Wie stark die Linke auch noch kurz vor dem Sieg der NSDAP war, zeigt sich daran dass bei den letzten freien Wahlen 1932 die beiden Parteien der Arbeiterklasse, SPD und KPD, zusammen mehr Stimmen als die Nationalsozialisten erhielten:
Ergebnisse der Reichstagswahlen 1928 bis 1932:
20.5.1928 | 14.9.1930 | 31.7.1932 | 6.11.1932 | |
NSDAP | 2,8 % | 18,3 % | 37,3 % | 33,1 % |
SPD | 29,8 % | 24,5 % | 21,6 % | 20,4 % |
KPD | 10,6 % | 13,1 % | 14,3 % | 16,9 % |
Leo Trotzki, der sich damals intensiv mit der Lage in Deutschland auseinander setzte, beschrieb die Situation 1931 wie folgt: »Setzt man eine Kugel auf die Spitze einer Pyramide, so kann ein geringer Anstoß sie nach links oder rechts hinabrollen lassen. Das ist die Lage, der sich Deutschland mit jeder Stunde nähert. Es gibt Kräfte, die wünschen, die Kugel möge nach rechts Rollen und der Arbeiterklasse den Rücken zerschmettern. Es gibt Kräfte, die wünschen, die Kugel möge sich auf der Spitze halten. Das ist eine Utopie. Die Kugel kann sich auf der Pyramidenspitze nicht halten. Die Kommunisten wollen, die Kugel möge nach links hinabrollen und dem Kapitalismus den Rücken zerschlagen.«