Die konservative AKP regiert in Ankara seit zehn Jahren. Von Anfang an wurde sie von den alten Eliten bekämpft und von den neuen Profiteuren des türkischen Booms gestützt. Eine kurze Einführung in die politische Ökonomie des Landes am Bosporus von Doğan Tarkan
In einem Land wie Deutschland, in dem sich eine Partei 16 Jahre an der Macht halten konnte, erscheint ein zehnjähriges Regierungsjubiläum nicht sonderlich bemerkenswert. In einem Land wie der Türkei ist es aber doch erstaunlich – zumindest, wenn die Partei, um die es geht, der Staatsideologie fundamental entgegensteht.
Der türkische Staat ist seit seiner Gründung im Jahr 1923 eng mit einer Person, nämlich Mustafa Kemal Atatürk, und seiner Republikanischen Volkspartei (Cumhuriyet Halk Partisi, kurz CHP) verbunden. Achtzig Jahre lang waren die CHP und die Staatsideologie des Kemalismus hegemonial. Erst der politische Siegeszug der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (Adalet ve Kalkınma Partisi, kurz: AKP) nach der Regierungsübernahme im Jahr 2002 setzte dem mit ihrer Ausrichtung auf die Religion und eine starke wirtschaftliche Position im Nahen Osten etwas entgegen.
Auch schon vor den Protesten auf dem Taksim-Platz stieß die im Jahr 2001 gegründete AKP immer wieder auf Widerstand innerhalb der Türkei. Aber auch das westliche Ausland blickte meistens kritisch auf Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan und seine Partei.
Die AKP und die neue Türkei
Die Erfolgsgeschichte der AKP kann nicht von den strukturellen Veränderungen losgelöst betrachtet werden, die in der Türkei in den letzten Jahrzehnten stattgefunden haben. So ist die Entstehung der Partei eng verknüpft mit dem Aufkommen einer neuen, religiös-bürgerlichen Schicht und dem Entstehen einer intellektuellen Klasse, die sich außerhalb der staatlichen Kontrolle befindet.
Nach dem Unabhängigkeitskrieg der Jahre 1919 bis 1923 konnte sich in der jungen türkischen Republik durch wechselseitige ökonomische Abhängigkeiten und gemeinsame politische Interessen ein stabiles Bündnis aus traditionellen Großgrundbesitzern, der neuen Kleinbourgeoisie, Handwerkern und Kaufleuten sowie eine in ihrem Interesse arbeitende Bürokratenschicht entwickeln. Diesen »hegemonialen Block« führte Mustafa Kemals CHP an und die Armee sicherte ihn ab.
Aus Interesse an einer raschen nachholenden Industrialisierung wurde ein Entwicklungsmodell etabliert, das dem Staat wichtige Funktionen im Bereich der Kapitalkonzentration und der Investition übertrug. Die CHP war zunächst in der Lage, bedeutsame Reformen in Kultur und Bildung durchzuführen. So konnte sie ihre Hegemonie ausbauen.
Alle zehn Jahre ein Putsch
Zweimal putschte nach dem Zweiten Weltkrieg das Militär, 1960 und 1970, um die Vormachtstellung der CHP zu sichern und die Macht des Staatsapparates und der zivil-militärischen Bürokratie auszubauen. Diese Verbindung von Staatsaufbau und nationalistischer Ideologie wird auch als Kemalismus bezeichnet.
Bis zum Ende der 1970er Jahre regulierte der Staat die industriellen Beziehungen in der westtürkischen Großindustrie. Doch ökonomische Entwicklungen brachten bald neue Fraktionen des Bürgertums hervor, welche die CHP außer Acht ließ oder nicht in ihren »hegemonialen Block« integrieren konnte. So setzten sich zunächst zwischen 1950 und 1960 aufsteigende Agrarkapitalisten immer stärker für ein marktliberales Regime ein, während sich seit Ende der 1960er Jahre vor allem ein aufsteigendes industrielles Bürgertum gegen das Entwicklungsmodell der CHP stellte.
Den Wendepunkt von einer importsubstituierenden Wirtschaftspolitik hin zu einer marktliberalen Politik leitete letztlich aber erst 1980 ein erneuter Militärputsch ein. Mithilfe der Weltbank und des Internationalen Währungsfond (IWF) trieb die Regierung, als Reaktion auf die internationale Wirtschaftskrise, Prozesse der Marktöffnung und Privatisierung voran. Diese ließen ein neues Bürgertum entstehen, das in den folgenden Jahren an Selbstbewusstsein gewann. So profitierten vor allem klein- und mittelständische Unternehmer aus dem (zentral-)anatolischen Teil des Landes von der vorangetriebenen Marktöffnung.
Parallel zur Erstarkung dieses »anatolischen Kapitals« entwickelte sich eine religiös geprägte akademische Schicht. Diese trieb unter anderem eine Neuformulierung des Kemalismus sowie die Finanzierung von »alternativen« religiös-konservativen Institutionen in den Medien, der Bildung und Kultur voran. Abseits der wirtschaftlichen und kulturellen Hegemonie des türkischen Staates entstanden also zwei religiös geprägte Gruppierungen, die ihren Einfluss in der Gesellschaft über Jahre hinweg ausbauen konnten. Politischen Ausdruck fand diese Entwicklung im Wahlsieg der AKP im Jahr 2002.
Neoliberalismus statt Militär
Seit dem Regierungsantritt der AKP waren zwei Entwicklungen zentral: zum einen die Eindämmung des militärischen Einflusses und des »tiefen« Staats, zum anderen das Voranbringen eines neoliberalen Wirtschaftssystems. Vor allem ging die Partei gegen die »Bevormundung« des Parlamentes durch die Armee vor.
So konnte Ministerpräsident Erdoğan zunächst seinen gewählten Posten nicht antreten, da er während einer Rede ein Gedicht vorgetragen hatte, durch das sich das Militär angegriffen fühlte. Daraufhin musste er für einige Wochen ins Gefängnis. Auch als die AKP einen Staatspräsidenten aus den eigenen Reihen wählen wollte, empörte sich der »tiefe« Staat und das Verfassungsgericht erklärte die Parlamentsabstimmung zur Bestätigung der Wahl für ungültig. Die Staatsanwaltschaft erhob daraufhin Klage und beantragte die Auflösung der AKP.
Doch deckte die AKP während dieses Verfahrens auf, dass das Militär bereits Pläne für einen Putsch geschmiedet hatte. Nach und nach wurden bewaffnete Vorbereitungen der sogenannten »Ergenekon«-Struktur sowie Putschpläne seitens hochrangiger Generäle bekannt. Die AKP ließ daraufhin eine große Zahl von Generälen, hochrangigen Offizieren und deren zivilen Helfern festnehmen und vor Gericht stellen. Erst vor kurzem wurden mehr als 150 Generäle und Offiziere zu langen Haftstrafen verurteilt.
Es wurde publik, dass die Putschisten unter anderem planten, Moscheen zu bombardieren, einen Krieg gegen Griechenland anzuzetteln und allein in Istanbul 100.000 Oppositionelle festzunehmen. Darüber hinaus planten sie Attentate auf nicht-muslimische Minderheiten, einige konnten sie sogar in die Tat umsetzen. So wurden der armenische Journalist Hrant Dink, ein katholischer Priester in Trabzon und ein protestantischer Missionar in Malatya getötet.
Islam als Vorwand
Mit diesen Aktionen wollte das Militär der Bevölkerung die Islam-Politik der AKP verdeutlichen und Stimmung gegen die religiöse Ausrichtung der Regierungspartei machen. Obwohl der Großteil der Pläne nicht realisiert werden konnte, fanden seit Regierungsantritt der AKP immer wieder Massenveranstaltungen statt, die das Militär aufforderten, »seiner Pflicht« nachzukommen – sprich: die AKP zu stürzen und den Kemalismus zu bewahren.
Die Gegner der AKP stellen die Kategorie »Religion« stets dem Säkularismus innerhalb der staatlichen Bürokratie, der Streitkräfte und der oppositionellen CHP gegenüber. Zudem stellen sie sie als Antagonismus zur kemalistischen Identität der Türkei dar.
Die CHP distanzierte sich nie von den Putschplänen. Im Gegenteil: Zusammen mit den rechten Parteien stellte sie sich – zum Teil sogar öffentlich – hinter die Pläne des Militärs. Aber auch viele linke Gruppierungen unterstützen die nationalistische Linie. Nur einige kleinere Gruppen von Sozialisten (darunter auch meine Organisation, die DSIP) beteiligten sich aktiv am Kampf gegen die militärische Bevormundung und gegen den Putsch.
Die an der AKP geäußerte Kritik, dass sie eine »religiöse« Partei sei oder gar die »Islamisierung« der Türkei vorantreibe, geht am Kern der Sache vorbei. Zwar bilden gläubige Muslime die Basis der Partei, aber die Gründung eines islamischen Staates ist nicht das politische Ziel der AKP. Die Beziehung zur Religion ist bei den Mitgliedern vergleichbar der Haltung von CDU-Anhängern in Deutschland: Sie steht vor allem für eine Rückbesinnung auf konservative Werte.
Kurs auf Privatisierungen
Wenn Kritiker ihr vorrangiges Augenmerk auf die Religion legen, blenden sie dabei völlig aus, dass die AKP die türkische Partei ist, die die gnadenloseste neoliberale Politik durchführt und unverständlicherweise dadurch bisher die meisten Wähler gewann. Beispielsweise hat Erdoğan zahlreiche »Reformen« im öffentlichen Sektor durchgeführt, sprich: Privatisierungen in den Bereichen Bildung, Erziehung, Gesundheit, Kommunikation und Straßenbau. Zudem hat die Regierung das private Eisenbahnnetz massiv ausgebaut.
Nachdem die Türkei zwischen den Jahren 2000 und 2002 in eine Wirtschaftskrise gestürzt war, führte diese Politik zu einem schnellen Aufschwung, einer wachsenden Wirtschaft, zu Stabilität und vermehrten Investitionen. Damit konnte die AKP bei großen Teilen der Bevölkerung punkten. Selbst von der gegenwärtigen Finanzkrise ist die Türkei bisher nicht ernsthaft beeinträchtigt worden. Obwohl das Wirtschaftswachstum etwas gesunken ist, liegt es im europäischen Vergleich noch relativ hoch. Gleichzeitig sank während der Regierungszeit der AKP die Inflationsrate ständig.
Der Großteil der Bevölkerung, der während der 1990er Jahre noch eine gewaltige Inflation durchleben musste, war mit der stabilen Wirtschaft und der niedrigen Inflation sehr zufrieden. Die AKP wurde bisher nie ernsthaft für ihre neoliberale Politik kritisiert – gerade auch deswegen nicht, weil das Land ohnehin nie über einen wirklichen Sozialstaat verfügte. Insofern begrüßten viele die Privatisierungsmaßnahmen. Patienten, die früher stundenlang vor den staatlichen Krankenhäusern Schlange stehen mussten, hatten nun die Möglichkeit, sich gegen ein geringes Entgelt in privaten Kliniken behandeln zu lassen. Doch langsam werden die Auswirkungen der »Reformen« deutlich: Die zunächst recht geringen Behandlungskosten in den Privatklinken steigen gegenwärtig extrem schnell.
Ernüchternde Bilanz der AKP
Im Großen und Ganzen ist die Bilanz von zehn Jahren AKP-Regierung mehr als ernüchternd. Die rigorosen Privatisierungen gingen einher mit dem Abbau des schwachen türkischen Sozialstaats. Der im AKP-Programm zentrale Begriff der »Demokratisierung« wird durch die brutale Unterdrückung der Proteste auf dem Taksim-Platz ad absurdum geführt. Der Zypernkonflikt dauert an und der EU-Beitritt ist auf unbestimmte Zeit vertagt worden. Dabei gaben die meisten AKP-Wähler im Jahr 2002 an, die Partei aufgrund der versprochenen Demokratisierungsprozesse unterstützen zu wollen.
Auch in der wichtigen Kurdenfrage stehen wirkliche Veränderungen noch aus. Vor allem seit den Prozessen gegen die Putschisten hat die AKP angekündigt, große Schritte in Richtung Frieden gehen zu wollen und eine Lösung der Kurdenfrage zu finden. Doch die Lösungsansätze laufen keineswegs linear: Nach jedem Schritt vorwärts ging die Partei wieder einen Schritt zurück. Dem harten Vorgehen gegen die PKK folgt die Bereitschaft zum Dialog und umgekehrt.
Eine starke Opposition gegen die AKP ist möglich – allerdings nur, wenn sie gegen jede Form von neoliberaler Politik vorgeht und das Prinzip der Freiheit verteidigt. In der Türkei bedeutet das vor allem die kurdischen Bewegungen und ihren politischen Organe, also die legalen Parteien BDP und DTP, bedingungslos, aber (mit Blick auf die PKK) durchaus kritisch zu unterstützen. Freiheit und Gleichheit können nur mit Hilfe der Arbeiterklasse gewonnen werden. Deshalb müssen die sozialistischen Kräfte in der Türkei, die sich gegen Nationalismus und eine kurdenfeindliche Politik aussprechen, eine politische Alternative zur AKP anbieten. Nur so kann die Regierung Erdoğan wirklich erschüttert werden.
Zur Person:
Doğan Tarkan ist Gründungsmitglied der Revolutionären Sozialistischen Arbeiterpartei (Devrimci Sosyalist İşçi Partisi, kurz DSIP) in der Türkei und Redakteur der Zeitung Socialist İşçi.
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