»Spekulanten«, »Krisengewinner«, »Schmarotzer«: Der Finanzsektor steht am Pranger. Volkhard Mosler erklärt in seinen elf Thesen zur Krise, woher die neue Macht des Finanzkapitals kommt und warum die Unterscheidung zwischen »bösen Banken« und »guter Realwirtschaft« wenig hilfreich ist
1. Es scheint unter Kritikern des Kapitalismus fast unumstritten, dass die gegenwärtige Krise daraus resultiert, dass sich das Finanzkapital von der Realwirtschaft gelöst hat. Daher könne sie – vereinfacht ausgedrückt – durch eine Rückführung und Anbindung des Finanzsektors an die »reale« Wirtschaft überwunden werden. Ich vertrete dagegen den Standpunkt, dass eine Trennung von Finanzkapital und Industriekapital nicht möglich ist und dass die Verselbständigung des Finanzkapitals nur Ausdruck einer zeitlich und ursächlich vorangegangenen Überakkumulation und daraus resultierender Realisierungsengpässe des Kapitalismus insgesamt war.
2. Der Finanzsektor ist bis zur Wirtschaftskrise 2008/09 in bis dahin nie gekanntem Ausmaß gewachsen. Die Werte aller Aktien des Finanzsektors betrugen im Jahr 2004 in den USA 29 Prozent der Aktienwerte der Realwirtschaft. Damit lagen sie viermal so hoch wie der Vergleichswert von 1979. Im Jahr 2005 betrugen die Finanzwerte weltweit 316 Prozent des (jährlichen) Weltsozialprodukts, 1980 lag ihr Wert nur bei 109 Prozent. Mit anderen Worten: Seit Beginn der 1980er Jahre ist der Finanzsektor etwa drei bis vier mal so schnell gewachsen wie die »Realwirtschaft«.
3. Die wachsende Bedeutung des Finanzsektors hinterließ in der Weltwirtschaft deutliche Spuren. Jeder Aufschwung in den Konjunkturzyklen dieser Zeit war von Finanzspekulationen begleitet: Sie schlugen sich in massiven »Übertreibungen« (oder »Blasen«) auf den Aktienmärkten in den USA und Großbritannien (Mitte der 1980er und Mitte der 1990er Jahre) nieder, ebenso in einem gewaltigen Anstieg der Aktien- und Immobilienwerte in Japan Ende der Achtziger, im Boom der neuen Technologien (»dotcom«) zum Ende der Neunziger und schließlich im noch gewaltigeren Immobilien- und Häuserboom in den USA und großen Teilen Europas in den ersten sieben Jahren des neuen Jahrhunderts. Eine weitere Begleiterscheinung waren Wellen von Übernahmen und Zusammenschlüssen riesiger Firmen, finanziert durch Kredite der Finanzwirtschaft.
4. Zugleich wuchs die allgemeine Verschuldung von Regierungen, großen Firmen der Realwirtschaft und Konsumenten. Das Kreditwesen wuchs um ein vielfaches im Vergleich zur Realwirtschaft. Das Kreditvolumen verdoppelte sich in den USA und verdreifachte sich in Japan in den 1980er Jahren. Der massive Boom im Eigenheimsektor in der Mitte des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts (2005/06) wurde in den USA, Großbritannien, Spanien und Irland von massiver Verschuldung des Mittelstands und der Arbeiterklasse »finanziert«. Der italienischer Marxist Riccardo Bellofiore nannte diese Entwicklung treffend »privatisierten Keynesianismus«. Zusätzliche effektive Nachfrage wurde nicht durch Staatsverschuldung, sondern durch Verschuldung von privaten Haushalten erreicht.
5. Das Wachstum des Finanzsektors geschah nie losgelöst vom produktiven Sektor. Es war das Produkt der Internationalisierung des Kapitalismus einerseits und einer auf lange Sicht allmählichen Verlangsamung der Akkumulation von Kapital andererseits. In den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs das Finanzkapital im Gleichklang mit der realen oder produktiven Wirtschaft. Auch auf die weniger industrialisierten Staaten wirkte der neue Finanzsektor. Seit den späten 1970er Jahren hatten Anleihen des IWF und von Banken eine endlose Kette aus Schulden, Zinsen, Tilgung und darauf folgenden »Umschuldungsprogrammen« geschaffen. Im Jahr 2003 betrug die Schuldenlast des globalen Südens 2,5 Billionen Dollar.
6. Die allmähliche und langfristige Verlangsamung der Akkumulation ist selbst Ausdruck des Rückgangs der Profitraten von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis Ende der Siebziger. Im Jahr 1973 waren die Profitraten weltweit auf ein so niedriges Niveau gefallen, dass eine Rohstoffkrise (Erste Ölkrise), verursacht durch einen Krieg im Nahen Osten, mit steigenden Ölpreisen ausreichte, um die erste Weltrezession seit 1945 auszulösen. Die Durchschnittsprofitrate aller Länder (Bruttogewinn im Verhältnis zum eingesetzten Kapital) betrug 1950 noch 22 Prozent. Sie fiel allmählich auf einen Tiefpunkt von nur 3 Prozent im Jahr 1986, stieg bis 2006 wieder auf 14 Prozent, um bis 2009 erneut auf 5 Prozent zu sinken.
7. Die Ursache der sinkenden Profitrate können hier nur angedeutet werden. Karl Marx hat mit seinem »Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitraten« (Das Kapital, 3. Band) eine Erklärung für dieses Phänomen geliefert: Da nur die lebendige Arbeit Quelle von Wert sei, Maschinen und Anlagen im Laufe ihrer Lebenszeit ihren Wert nur auf die Produkte übertragen (»Abschreibung«) und weil der technische Fortschritt tendenziell mit einer Verdrängung der lebendigen durch »tote« Arbeit (Maschinen) einhergehe, wachse die »organische Zusammensetzung« des Kapitals, das heißt das Wertverhältnis von konstantem zu variablen Kapital (oder: »fixe Kosten« zu Arbeitskosten). Dass die Profitraten seit Mitte der 1980er Jahre wieder angestiegen sind, ist die Folge von erhöhten Ausbeutungsraten (Verhältnis bezahlter zu unbezahlter Arbeit) durch Lohnabbau, Arbeitszeitverlängerung und Deregulierungsmaßnahmen der Unternehmer in der Zeit des Neoliberalismus.
8. Die relative Erholung der Profitraten in den 1980er und 1990er Jahren nahmen eine Reihe kritischer Ökonomen (Heiner Flaßbeck, Michael Houston, Michael Schlecht) zum Anlass zu argumentieren, dass es gerade die »zu hohen« Gewinne im Vergleich zu Löhnen und damit Massenkonsum seien, die zur Krise geführt hätten. Nach dieser als Unterkonsumtionsthese bezeichneten Annahme müssten eigentlich die Perioden mit einem relativ hohem Anteil der Arbeitnehmer am Volkseinkommen (Lohnquote) auch solche mit hohem Wirtschaftswachstum sein und umgekehrt müssten Perioden mit niedrigen Lohnquoten auch solche mit niedrigem Wachstum oder Kriseneinbrüchen sein. In der Realität war es aber genau umgekehrt. Im Durchschnitt der 1950er Jahre betrug die Lohnquote der Bundesrepublik 59,4 Prozent und das jährliche Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) 8 Prozent. In den 1970er Jahren war die Lohnquote auf durchschnittlich 72,2 Prozent gestiegen, das jährliche BIP-Wachstum dagegen auf 3 Prozent zurückgegangen. Es gibt kein Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem die Einkommensverteilung so ungleich war wie in den 1950er Jahren und umgekehrt so hohe BIP-Wachstumsraten erzielt wurden. Umgekehrt waren die 1970er Jahren einerseits von den höchsten Reallohnzuwächsen und andererseits von einer Rückkehr von Wirtschaftskrisen geprägt. Höhere Lohnquoten waren also mit niedrigerem Wachstum verbunden. Marx' These, dass steigende Löhne (im Verhältnis zu den Unternehmergewinnen) historisch als »Sturmvogel der Krise« oder als Vorboten der Krisen auftreten bestätigt sich also. Hohe Profitraten treiben die Akkumulation von Kapital an, niedrige lähmen sie. Damit soll freilich nicht die Unternehmerthese verteidigt werden, die auch bei Schröders Agenda 2010 Pate stand, dass nämlich die Senkung der Löhne und der Lohnstückkosten der Schlüssel zur Überwindung von Krisen seien. Marx' Krisentheorie geht gerade umgekehrt davon aus, dass nicht die steigenden oder fallenden Lohnkosten die langfristig wirkende Ursache von Krisen sind, sondern die fixen oder Kapitalkosten. Deren langfristig steigende Tendenz im Verhältnis zum eingesetzten Gesamtkapital führt zum Fall der Profitraten und damit zur Krisenanfälligkeit des Systems.
9. Eine Folge fallender Profitraten war, dass die Konzerne und Unternehmen keine oder verringerte Gewinnchancen sahen und daher dazu tendierten, weniger in der Realwirtschaft zu investieren und stattdessen nach »anderen« Anlageformen im Finanzsektor suchten, wo höhere Gewinne in Aussicht standen. Der Soziologe und Geldtheoretiker Christoph Deutschmann schreibt: »Weil die Profitabilität der Unternehmen stagnierte, kam es nicht zu einem Anwachsen der Realinvestitionen, die die anwachsenden Finanzvermögen hätten verwerten und in den gesamtwirtschaftlichen Kreislauf zurücklenken können.« (Kapitalistische Dynamik, Wiesbaden 2008, S. 164) Volkswagen, General Motors, Siemens und viele andere Weltkonzerne haben seit den 1980er Jahren einen zunehmenden Teil ihrer Gewinne im Finanzsektor »investiert«. Die daraus entstandenen Gewinne sind freilich nur Papiergewinne, ihnen entsprechen keine wirklichen Werte. Dies stellt sich allerdings erst heraus, wenn die Finanz- (beispielsweise Derivate), Immobilien- und andere Spekulationsblasen (Dotcom) platzen, die in Erwartung von endloser Wertsteigerung durch die hohe Nachfrage nach solchen »Werten« entstehen, und sie in der Vernichtung von solchen Versprechungen auf zukünftige Wertsteigerung der realen Wirtschaft münden.
10. Eine Trennung von »gutem« und »schlechtem« Kapital, von produktiver Realwirtschaft und unproduktivem Finanzsektor, macht keinen Sinn, wenn das Wachstum der Finanzwirtschaft nur Ausdruck und Folge einer Krise der Realwirtschaft ist. Umgekehrt: Das Wachstum des Finanzsektors und damit verbundener spekulativer Nachfrage nach bestimmten Anlagewerten (Gold, Kunstgegenstände, Nahrungsmittel, Immobilien oder neue Technologien) hat dazu beigetragen, die Krise der Realwirtschaft hinauszuzögern. Allerdings geschah das zu dem Preis, dass von Mal zu Mal die Einsätze steigen und damit auch die Risiken und Verluste – ähnlich wie bei Drogenabhängigen. Dementsprechend können die Krisen nicht mit Lohnerhöhungen und Steigerung des Massenkonsums überwunden werden, so wünschenswert diese Maßnahmen auch sind. Der Kampf für höhere Löhne kann von zwei gegensätzlichen Perspektiven geführt werden. Aus der unterkonsumtionistischen oder keynesianischen Perspektive führt er nicht nur zur Erhöhung von Löhnen und zu einem besseren Lebensstandard der Arbeiterklasse. Zugleich stellt er den Weg aus der Krise dar, indem er die Massenkaufkraft steigert. Doch diese Perspektive geht letztlich von einem gemeinsamen Interesse von Arbeit und Kapital aus. Die marxistische Perspektive hingegen unterstützt den Kampf für höhere Löhne nicht minder, aber er wird mit der Perspektive eines unversöhnlichen Gegensatzes zwischen den beiden zentralen Klassen geführt. Der Kampf für höhere Löhne und Sozialreformen schwächt die Kapitalistenklasse und stärkt die Arbeiterklasse.
11. Kapitalismus ist die Steuerung von Investitionen und Konsum vermittels des Profits am Markt. Dieses System hat abgewirtschaftet. Der Investitionsverweigerung stehen weltweit Mangel, Hunger und Not gegenüber. Deshalb muss die Produktion am Bedarf statt am Profit orientiert werden. Eine progressive Millionärssteuer (»Reichensteuer«) und eine demokratische Entscheidung über die daraus finanzierten staatlichen Investitionen wäre ein erster Schritt in diese Richtung.
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