Frank Deppe hat ein Buch über die jüngste Geschichte der Gewerkschaften veröffentlicht – und warnt vor deren Politik des »Krisenkorporatismus«. Ein Gespräch über Co-Manager und Löcher in der Tariflandschaft
marx21.de: Dein neues Buch trägt den Titel »Gewerkschaften in der Großen Transformation«. Warum gerade jetzt ein Buch über die Arbeitnehmervertretungen?
Frank Deppe: Die Gewerkschaften stehen vor großen Herausforderungen. Seit dem Ende der 1970er Jahre vollziehen sich tiefgreifende Umbrüche in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Währungs- und Finanzkrisen erschüttern die Weltwirtschaft. Die jetzige Krise, die seit 2008 anhält, stellt den Übergang in eine Periode der längeren Stagnation und der Austeritätspolitik dar. Die Gewerkschaften sind in den letzten Jahrzehnten fast überall in die Defensive geraten – durch Druck von oben und durch die neoliberale Politik der Privatisierung, Deregulierung und Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Aber auch von unten stehen die Gewerkschaften unter Druck: Sie verlieren Mitglieder, mussten Streikniederlagen hinnehmen und ihr Einfluss auf Regierungen und Parteien hat nachgelassen.
Mir geht es darum, die Erfahrungen, die die Gewerkschaften in dieser Umbruchkonstellation und in der Krise seit 2008 gemacht haben, zu analysieren. Denn sowohl bei den Funktionären als auch bei den Mitgliedern muss sich ein Bewusstsein von den gewerkschaftlichen Handlungsbedingungen im Sinne einer historisch-politischen Standortbestimmung entwickeln. Ansonsten stolpern wir blind den Managern der Krise in Unternehmen und Politik hinterher.
Warum sind Gewerkschaften für Linke überhaupt von Bedeutung? Sind sie nicht typische Repräsentanten der »alten, männlichen Arbeiterbewegung«?
Nein, das denke ich nicht. Zum einen ist der Anteil von Frauen an der globalen Arbeiterklasse gestiegen, von 33 Prozent (1970) auf 40 Prozent (2000). Frauen arbeiten heute überproportional häufig im Niedriglohnsektor, in Teilzeitarbeit und halblegalen Beschäftigungsverhältnissen. Eine Folge davon ist, dass der Durchschnittslohn für Frauen viel niedriger ist als der für Männer. Einige Gewerkschaften haben in der Vergangenheit versucht, speziell in diesen Berufsgruppen Frauen zu organisieren und für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne zu kämpfen. Ver.di beispielsweise hat in jüngster Zeit zahlreiche Streiks in neuen Bereichen wie dem Einzelhandel, Krankenhäusern oder Kindergärten organisiert – mit einer hohen Beteiligung von Frauen.
Die Gewerkschaften sind, da können wir an Marx anschließen, eben die »elementaren Organisationen« der Lohnabhängigen. Sie sind die wichtigsten Akteure, wenn es darum geht, den Widerstand gegen Lohnkürzungen und den Abbau von Arbeitnehmerrechten zu organisieren, die Austeritätspolitik zu bekämpfen und für gesellschaftliche und politische Alternativen zu werben.
Einen Schwerpunkt deines Buches bildet die Politik der Gewerkschaften in Deutschland. Du kritisierst deren »Krisenkorporatismus«. Was verstehst du darunter?
Mit Beginn der Krise im Jahr 2008 hat sich in Deutschland ein neuer Typus des »Krisenkorporatismus« entwickelt. Der Begriff charakterisiert das gemeinsame Handeln von Betriebsleitungen, Belegschaften sowie Betriebsräten und Gewerkschaften zur Rettung eines Betriebes und eines Großteils der Arbeitsplätze. Der »Krisenkorporatismus« ordnet aber die gewerkschaftliche Interessenvertretung dem Primat der Wettbewerbsfähigkeit unter und fordert von den Beschäftigten Verzicht. Diese Strategie bietet zwar den schrumpfenden Stammbelegschaften der Gewerkschaften in bestimmten Bereichen der Industrieproduktion noch Vorteile, wird jedoch letztlich die Gewerkschaften schwächen.
Warum schwächen? Für diese moderate Politik erhielten sie große Anerkennung – sogar von der Bundeskanzlerin, den Medien und den Arbeitgeberverbänden …
Ja, aber das Lob ist vergiftet. Es beruht überwiegend darauf, dass die Gewerkschaften ihre Lohnforderungen zurückstellten, auf Streiks und auf politische Mobilisierung gegen die Politik im Interesse des Finanzmarktkapitalismus verzichteten und sich Betriebsräte zusammen mit Betriebsleitungen für die Rettung ihrer Betriebe engagierten. Der »Krisenkorporatismus« ist eine kurzatmige Rettungsstrategie. Er lässt viele, für die Gewerkschaften wichtige und heftig umkämpfte Aufgabenfelder außen vor: Die notwendigen Reallohnsteigerungen, die Korrektur der Verteilungsverhältnisse, die gesetzliche Regelung von Mindestlöhnen und die Begrenzung von prekärer Beschäftigung.
Aber gibt der Verlauf der Krise den Architekten des »Krisenkorporatismus« nicht Recht? Während viele Euro-Länder unter der Schuldenkrise leiden, boomt in Deutschland die Konjunktur. Die Arbeitslosenzahlen sind so niedrig wie in keinem anderen Land Europas …
Einspruch! Die angeblich positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland seit Beginn der Krise ist nicht Ausdruck eines größeren Beschäftigungsvolumens, sondern nur erklärbar durch das enorme Anwachsen des Niedriglohnsektors. Wir haben einen der größten Niedriglohnsektoren weltweit. Auch dadurch hat die soziale Polarisierung extrem zugenommen. Angesichts der Kurzarbeit, der Zunahme von Leiharbeit- und Teilzeitarbeitsverhältnissen ist es unverantwortlich, von einem Jobwunder zu sprechen. Die Gewerkschaften müssen sich dafür einsetzen, dass die Löhne wieder stärker steigen als in den vergangenen Jahren. Nur so kann die ständige Umverteilung zugunsten der Gewinneinkommen beendet, der Binnenmarkt gestärkt und Ungleichgewichten in der EU entgegengewirkt werden.
Der IG-Metall-Vorsitzende Berthold Huber plädiert dagegen für angepasste Löhne und flexiblere Arbeitsmärkte in Krisenstaaten. Was findest du daran falsch?
Lohnverzicht, Leiharbeit und Niedriglohnjobs werden die Krise nicht lösen, sondern sie vertiefen. Seit ihren Anfängen ist es der Grundgedanke der Gewerkschaftsbewegung, die Konkurrenz der abhängig Beschäftigten untereinander zu unterbinden und durch Solidarität zu ersetzen. Das gilt für die nationale wie die internationale Ebene.
Mit solchen Aussagen zeigt Huber nur seine mangelnde Bereitschaft, sich mit den wirklichen Ursachen der Krise auseinanderzusetzen. Angesichts der deutschen Hegemonie im Übergang zur Austeritätspolitik sind der DGB und seine Gewerkschaften in besonderer Weise herausgefordert, ihre Positionen und Handlungsmöglichkeiten auf europäischer Ebene zu überprüfen. Ansonsten geraten sie in Gefahr, dass sie von außen – auch von ihren Kolleginnen und Kollegen in anderen europäischen Staaten – als Juniorpartner oder gar als Hilfstruppen des deutschen Kapitals kritisiert oder verachtet werden.
Eine wirkungsvolle europäische Gewerkschaftspolitik hätte nicht nur die Aufgabe, nationale Protestaktionen und Streiks zu unterstützen, über sie europaweit zu informieren und Formen grenzübergreifender Solidarität zu organisieren. Sie ist auch gefordert, sich mit der Eurokrise und dem unter deutscher Hegemonie durchgezogenen Krisen- und Schuldenmanagement kritisch – das heißt: aus der Position von Lohnabhängigen – auseinanderzusetzen. Es gibt ja Ansätze für Alternativen zur Fiskaldiktatur, zum Beispiel das Programm des DGB für einen europäischen Solidarpakt.
In deinem Buch zeigst du die Herausforderungen auf, vor denen die Gewerkschaften in Deutschland stehen. Der Flächentarifvertrag, der dafür sorgen sollte, der Konkurrenz zwischen den Arbeitern entgegenzuwirken, ist mittlerweile so löchrig wie ein Schweizer Käse. In fast jeder Branche konnten die Arbeitgeber Öffnungsklauseln durchsetzen. Wie konnte das geschehen?
Der Flächentarifvertrag ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten unter enormen Druck geraten. Die Arbeitgeberverbände haben immer schon an seiner Aushebelung gearbeitet. Sie haben argumentiert, dass sich die Lohnforderungen der Gewerkschaften flexibel an den Interessen der Unternehmen, also an deren Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt, orientieren müssen. Solche Öffnungsklauseln tauchten zum ersten Mal 1984 nach einem sechswöchigen Streik der IG Metall für die 35-Stunden-Woche auf. Im sogenannten Leber-Kompromiss wurde für den IG-Metall-Tarifbezirk Baden-Württemberg der Weg für Vereinbarungen auf der betrieblichen Ebene frei geräumt, die die Unterschreitung von Tarifnormen ermöglichen. Das bezog sich zu Beginn vor allem auf die Arbeitszeiten. Unternehmer konnten von nun an die Arbeitszeit der Beschäftigten in den einzelnen Betrieben so ansetzen, wie es die Produktion vorgab.
War das für die Arbeitgeber eine Art »Weichenstellung«?
Ja. Ausgehend von diesem Kompromiss hat sich die weitere Flexibilisierung über die »Pforzheimer Tarifvereinbarung« von 2004 als Modell durchgesetzt. Dieser »Wettbewerbskorporatismus« konnte sich etablieren, weil sich innerhalb der Gewerkschaften diejenigen Kräfte durchsetzten, die diese subalterne Anpassung als notwendige Modernisierung im Zeitalter der Globalisierung sahen. Darin eingeschlossen war für sie die »Entideologisierung« der Gewerkschaften, also der Abschied vom Klassenkampfdenken.
Die Verbetrieblichung der Tarifpolitik – in Form von Härtefallregelungen, Nottarifverträgen, Öffnungsklauseln, Korridorlösungen und betrieblichen Bündnissen – hat den Flächentarifverträgen viel ihres ursprünglichen Inhalts geraubt. Die Kapitalseite nutzte diese Entwicklung, um sich im globalen Wettbewerb Vorteile zu verschaffen: Die »Flexibilisierung der Arbeitszeitregulierung« gilt heute in der metallverarbeitenden und der Automobilindustrie als einer der wichtigsten Konkurrenzvorteile deutscher Produktionsstandorte. Die Gewerkschaften hat diese Politik jedoch geschwächt. Denn je löchriger die Tariflandschaft wird, desto mehr besteht für sie die Herausforderung, Tarifverträge im »Häuserkampf«, also auf betrieblicher Ebene, durchzusetzen. Das ist eine ungemein schwere Aufgabe.
Wo genau siehst du das Problem bei der »Verbetrieblichung« der Tarifpolitik?
Die Rolle der Betriebsräte für die Gewerkschaftspolitik ist seit den 1990er Jahren stark aufgewertet worden. Betriebsräte sind jedoch keine Gewerkschaftsorgane, sondern sie sollen, so die gesetzliche Vorgabe, auf das »Wohl« des Betriebes hinarbeiten. Die meisten Betriebsräte sind gute Gewerkschafter. Sie genießen in der Gewerkschaft schon deshalb eine starke Machtposition, weil sie meist für einen hohen Organisationsgrad im Betrieb und damit für die Einnahmen der Gewerkschaften Sorge tragen. Doch die zumeist vorherrschende sozialpartnerschaftliche Orientierung professionalisierter Betriebsräte bewirkt, dass sie sich oft mit den Unternehmensleitungen gegen die Gewerkschaften verbünden und zugleich Tarifforderungen bremsen. Sie verstehen sich eher als Co-Manager denn als Klassenkämpfer.
Was ist daran schlecht, wenn dabei die Interessen der Beschäftigten im Mittelpunkt stehen?
Ein Beispiel: Der im Jahre 2011 ausgeschiedene Gesamtbetriebsratsvorsitzende von Opel, Klaus Franz, war zugleich auch stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender. Er wurde als mächtiger Krisen- und Co-Manager berühmt, der eigene Vorschläge zu Personalabbau, Werksschließungen, und Kostenreduzierungen unterbreitete. Er galt als der »Retter« von Opel und von den Arbeitsplätzen seiner Kolleginnen und Kollegen in Rüsselsheim.
Seine Rolle macht die ganze Ambivalenz der Politik des Co-Managements deutlich: Die Kolleginnen und Kollegen im Betrieb hoffen, ihre Arbeitsplätze zu erhalten und sind bereit, dafür Zugeständnisse beim Lohn, bei der Arbeitszeit oder bei der Arbeitsintensität zu machen. Sie nehmen es auch hin, dass Betriebe an anderen Orten, beispielsweise in Antwerpen oder in Bochum ganz geschlossen oder von massiven Entlassungen betroffen werden. Die Tragik seiner Politik besteht darin, dass sie punktuell Erfolge zu erzielen vermag: Zeitweilig schützt sie die Kolleginnen und Kollegen im Betrieb vor Entlassungen und dem sozialen Abstieg. Aber insgesamt ist sie der Macht des Konzerns unterlegen und vermag die Schwächung der Gewerkschaften nicht aufzuhalten. Im Gegenteil: Sie verstärkt sie noch, weil sie in letzter Instanz vom Wohlwollen der Unternehmensleitungen abhängig ist. Die aktuellen Entwicklungen bei Opel zeigen, in welche Sackgasse diese Politik führt.
Siehst du Anzeichen dafür, dass sich die Gewerkschaften von ihrer Krise erholen?
Ja, und das ist auch dringend erforderlich. Gegenwärtig gewinnt der gewerkschaftliche Widerstand in Europa an Kraft. In vielen Ländern fanden Generalstreiks und große Protestaktionen gegen die Austeritätspolitik der EU statt, bei denen die Gewerkschaften eine zentrale Rolle spielten. Es sind auch neue Bündniskonstellationen zu beobachten, in denen Gewerkschaften mit anderen sozialen Bewegungen zusammenarbeiten. Auch in Deutschland sind neue Streikbewegungen mit selbstbewussten Streikaktiven entstanden. Der Streik der Reinigungskräfte, die Arbeitskämpfe im Einzelhandel und der Erzieherinnen und Erzieher, aber auch der Kampf der IG Metall für die Regulierung der Leiharbeit und die Übernahme der Auszubildenden sind Beispiele dafür. Diese Entwicklungen tragen zur Stärkung der gewerkschaftlichen Gegenmacht bei.
Solche Erfahrungen sind wichtig, weil hierzulande mit dem Übergang in eine neue Rezession der »Krisenkorporatismus« der IG Metall und anderer Gewerkschaften sicher auf eine harte Probe gestellt wird. Es könnte schnell eine Konstellation entstehen, die der Bereitschaft zum »Krisenkorporatismus« ökonomisch den Boden entzieht. Zugleich könnten politisch neue Angriffe auf die Macht der Gewerkschaften in den Betrieben einsetzen. Deswegen sollten sich Gewerkschafter auf diese Art des »Krisenkorporatismus« nicht verlassen.
(Das Interview führte Yaak Pabst)
Zur Person:
Frank Deppe lehrte bis 2006 als Professor für Politikwissenschaft an der Universität Marburg. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher zur politischen Theorie und zur Geschichte und Politik der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung, darunter »Politisches Denken im 20. Jahrhundert« (4 Bände, VSA 1999-2010).
Weiterlesen:
Frank Deppe: Gewerkschaften in der Großen Transformation. Von den 1970er Jahren bis heute. Eine Einführung (Papyrossa 2012).
Mehr im Internet:
- »Erneuerung durch Streik« vom 1.-3. März in Stuttgart: Anmeldung und weitere Infos unter www.rosalux.de/streikkonferenz
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