In Südeuropa protestieren und streiken Hunderttausende – in Deutschland bleibt es vergleichsweise ruhig. Fünf Thesen, warum das so ist und wie wir es ändern können. Von der marx21-Redaktion
1. Die Bundesregierung will ein »Europa der Wettbewerbsfähigkeit« unter deutscher Führung. Ihre Politik führt nicht nur zu massenhafter Verelendung in Südeuropa, sondern auch zu einem großen Aufschwung des Widerstandes.
Oberflächlich betrachtet erscheint die Position der Bundesregierung unangreifbar. Merkel hat im Land durch ihre Krisenpolitik sogar noch an Zustimmung gewonnen. Die CDU steht in Umfragen knapp unter der Vierzig-Prozent-Marke, das sind die besten Zahlen seit vier Jahren. Die meistgehassten deutschen Politiker in Südeuropa, Merkel und Schäuble, sind mit Abstand die beliebtesten Politiker hierzulande. In den EU-Institutionen konnte die Bundesregierung im Großen und Ganzen ihre Positionen durchsetzen. Der französische Premier Francois Hollande, nach seiner Wahl als Gegenpol zu Merkel gefeiert, hat jetzt kleinlaut die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit der französischen Wirtschaft als sein vorrangiges Ziel verkündet.
Doch wie sagte schon Rosa Luxemburg im Januar 1919: »›Ordnung herrscht in Berlin!‹ Ihr stumpfen Schergen! Eure ›Ordnung‹ ist auf Sand gebaut.« Auf heute übertragen heißt das: Die Regierung Merkel hat mit ihrer Europapolitik Prozesse ausgelöst, die sie nicht unter Kontrolle hat. Wenn ein Untoter des Politikbetriebes wie Helmut Schmidt warnt »Wir stehen vielleicht vor einer Revolution in Europa«, dann gibt er reale Ängste der europäischen Herrschenden wieder. Der Geist des Widerstandes ist in Südeuropa aus der Flasche, und niemand kann sagen, ob die dortigen Eliten ihn wieder eingesperrt bekommen.
Die Bundesregierung ist offensichtlich bereit, das Risiko einer dauermobilisierten Bevölkerung in Südeuropa in Kauf zu nehmen, weil der zu erwartende Gewinn hoch genug ist. Ihr Projekt ist ambitioniert und hat mit einer »Krisenlösung«, gar im Interesse der breiten Bevölkerung, bestenfalls am Rande zu tun. Vielmehr sieht sie (und das sagt sie ganz offen) die Krise als Chance, eine auf die Interessen der deutschen Wirtschaft zugeschnittene Neuordnung der europäischen Verhältnisse durchzusetzen.
Die deutsche Wirtschaft hat sich seit dem Jahr 2003 durch einen Frontalangriff auf Löhne, Arbeitnehmerrechte und Sozialstaat saniert. Dieses Modell soll jetzt auf ganz Europa übertragen werden. Natürlich weiß auch die Bundesregierung, dass die von ihr verfügten Kürzungsprogramme die europäische Wirtschaft in die Rezession treiben. Doch das wird nicht notwendigerweise als schlecht angesehen. Die Logik lautet: Je desolater die Lage desto höher der »Reformdruck«. Auch in Deutschland wurde und konnte die Agenda 2010 nur vor dem Hintergrund von knapp fünf Millionen Arbeitslosen durchgesetzt werden.
Nur ein Problem hat Merkel: Sie kann zwar über die europäischen Institutionen Druck machen – durchsetzen müssen die Angriffe aber die Regierungen vor Ort. Die verlieren angesichts des anhaltenden Widerstands aber zunehmend an Unterstützung. Die griechische Regierung hatte bei der Abstimmung über ein neuerliches Sparpaket Mitte November nur noch eine hauchdünne Mehrheit.
Prekär ist auch die Lage der spanischen Regierung unter dem Konservativen Mariano Rajoy. Der jüngsten Umfrage des Meinungsumfrageinstituts Metroscopia zufolge haben 84 Prozent der Spanier das Vertrauen in ihren Premierminister verloren, im Falle vorgezogener Neuwahlen könnte Rajoy nur noch auf 30,8 Prozent der Stimmen zählen, im März waren es noch 46,3 Prozent.
Im Aufwind hingegen sind die Bewegungen in Südeuropa, deren unfreiwilliger Geburtshelfer Merkels Politik ist. Der internationale Aktions- und Streiktag am 14. November war ein deutlicher Ausdruck davon und ein großer Schritt vorwärts für die europäische Widerstandsbewegung. Diese Kämpfe bilden auch die Grundlage einer Wiederbelebung der europäischen radikalen Linken – am deutlichsten im Falle des griechischen Linksbündnisses Syriza, das nach neuesten Umfragen erneut Chancen hat, im Falle einer Neuwahl stärkste Kraft zu werden. In Spanien hat sich der Stimmanteil des Linksbündnisses Izquierda Unida in den Umfragen innerhalb eines Jahres auf knapp 13 Prozent verdoppelt. Noch haben die nationalen Regierungen eine schwache Mehrheit. Aber eine massenhafte Wendung nach links ist durchaus möglich. Damit würde auch Merkels Projekt eines Europas der Wettbewerbsfähigkeit auf Kosten der Bevölkerung einen Rückschlag erleiden – da nützen gute Umfragewerte in Deutschland auch nichts.
2. Die relative Ruhe in Deutschland ist nicht Ausdruck eines deutschen Nationalcharakters oder der allgemeinen Trantütigkeit des »deutschen Michels«.
Gerne wird zur Erklärung des niedrigen Niveaus der Kämpfe hierzulande die vermeintliche Schlafmützigkeit des »deutschen Michels« herangezogen, der laut einem Lenin zugeschriebenen Bonmot selbst in der Revolution erst eine Bahnsteigkarte löst, bevor er den Bahnhof stürmt. Das ist aber Unsinn, auch in Deutschland ist Bewegung möglich und es hat sie schon gegeben. Zehntausende Aktivisten halten seit vier Jahrzehnten die größte und mobilisierungsstärkste Anti-Atom-Bewegung der Welt am Laufen. In den Jahren 1997 und 2009 gingen Hunderttausende Studierende auf die Straße.
Ihr Protest war in Umfang und Beteiligung durchaus mit den neueren Kämpfen von Studierenden in südeuropäischen Ländern vergleichbar. Als das Ausmaß der Agenda-Attacke von Gerhard Schröder langsam in das öffentliche Bewusstsein einsickerte, protestierten Hunderttausende dagegen. In fataler Fehleinschätzung der Auswirkungen des Angstmachers Hartz IV auf die betriebliche Widerstandsfähigkeit entschieden die gewerkschaftlichen Führungen damals jedoch, die Proteste nur verbal, aber nicht unter Einsatz des gewerkschaftlichen Apparats zu unterstützen. Die Bewegung gewann nicht, Hartz IV ist immer noch da.
Das ist aber schwerlich mangelnder Ablehnung und fehlendem Widerstandswillen in der Bevölkerung anzulasten. Die Tatsache, dass dreizehn Generalstreiks die griechische Regierung bisher nicht zum Einlenken gebracht haben, ist ja auch kein Beleg für die Passivität der griechischen Bewegung.
Orakeln über den deutschen Volkscharakter führt bei der Frage nach dem Stand der Klassenkämpfe nicht weiter – sehr wohl aber der Blick auf die objektive Lage.
3. Die anhaltende Wirtschaftskrise hat in Deutschland, im Gegensatz zu den meisten europäischen Ländern, bislang keine oder vergleichsweise geringe Verelendungsprozesse nach sich gezogen. Insbesondere gab es keine starke Erhöhung der Arbeitslosenquote.
In Spanien hat sich die Arbeitslosenquote zwischen 2008 und 2012 mehr als verdreifacht (von 8 auf 25 Prozent). Ähnlich sind die Zahlen für Griechenland. In Portugal hat sich die Quote mit einem Anstieg von 4,5 auf 15,9 Prozent fast vervierfacht.
In Deutschland ist die Zahl der Arbeitslosen dagegen im gleichen Zeitraum leicht gesunken, die Quote ging von 7,8 auf 6,5 Prozent zurück. Noch drastischer fällt der Vergleich bei der Jugendarbeitslosigkeit aus. In Spanien und Griechenland sind nahezu die Hälfte aller Erwerbsfähigen zwischen 15 und 24 Jahren arbeitslos, in Frankreich sind es immerhin 25,7 Prozent. In Deutschland ist die offizielle Jugendarbeitslosigkeit dagegen seit dem Jahr 2007 auf acht Prozent zurückgegangen. Selbst wenn man berücksichtigt, dass es sich hier um geschönte Zahlen handelt, weil 300.000 Jugendliche in sogenannten berufsvorbereitenden Lehrgängen geparkt sind, liegt die Quote noch immer noch weit unter den Zahlen in Südeuropa, Frankreich oder Großbritannien.
Hintergrund für die unterschiedliche Entwicklung der Arbeitslosenzahlen ist die unterschiedliche Entwicklung der Wirtschaft, aber auch die unterschiedlichen Reaktionen der Politik. Die Krise von 2008/09 ist die erste in Deutschland, in der die Arbeitslosigkeit nicht oder kaum zugenommen hat, obwohl der Einbruch des BIP um 5,1 Prozent mehr als doppelt so hoch war wie in frühere Krisen.
Der Hauptgrund für die konstante Arbeitslosenquote in Deutschland liegt in einer einmaligen Regelung zum Kurzarbeitergeld. Die Große Koalition verlängerte 2008/09 die Zeit für den Bezug von Kurzarbeitergeld von maximal sechs auf bis zu 24 Monate. Im Juni 2009 bezogen 1,4 Millionen Arbeitnehmer Kurzarbeitergeld, der durchschnittliche Arbeitsausfall betrug 31,2 Prozent, in der Metallindustrie war zu diesem Zeitpunkt gut jeder dritte Beschäftigte in Kurzarbeit. Da die Bundesanstalt für Arbeit 60 bis 67 Prozent des Gehaltes für die Ausfallzeiten übernimmt, blieben die Nettogehälter auch bei Kurzarbeit bei durchschnittlich neunzig Prozent.
Der leichte Anstieg der Arbeitslosigkeit in Deutschland betraf fast ausschließlich Leiharbeiter, etwa 300.000 verloren im Krisenjahr ihren Job. Die Stammbelegschaften blieben weitgehend verschont. Betriebsräte und Gewerkschaften rührten sich nicht und waren insgeheim erleichtert, dass die Krise »nur« die prekär Beschäftigten und die Arbeitslosen betraf.
Diese Spaltung setzte sich im Jahr 2010 fort. Das damals verabschiedete Sparpaket der Bundesregierung betraf vor allem Menschen mit geringem Einkommen, die Arbeitslosen und die Niedriglöhner. Auch hier blieben Gut- und Normalverdiener weitgehend verschont. Merkels Rechnung ging auf, ein angekündigter »heißer Herbst« blieb aus.
Bis heute ist die Grundstimmung in den Betrieben geprägt durch diese zweifache Spaltung. Deutschlands Stammbelegschaften sind von der Krise und ihren Folgen weitgehend verschont geblieben, weil das deutsche Kapital gestärkt aus der Krise hervorgegangen ist. Der Einbruch von 2008/09 war bereits 2011 überwunden: Das BIP stieg zwischen 2009 und 2011 um 1,5 Prozent, während es in der gesamten EU um 0,6 Prozent schrumpfte. Das bedeutet nicht, dass es keine Verarmung und keine Polarisierung der Klassenverhältnisse gäbe, ganz im Gegenteil. Aber diese Prozesse, namentlich die Agenda 2010 und ihre Folgeprogramme wie die Rente mit 67 liegen für die große Mehrheit schon längere Zeit zurück. Zudem konnten die Lasten der Krise in die süd- und westeuropäischen Staaten »exportiert« werden.
4. Für große Teile der Gewerkschaftsführungen in Deutschland scheint internationale Solidarität ein Fremdwort zu sein. Das bremst die Bewegung hierzulande.
Allen, die wissen wollen, was gegenwärtig in der deutschen Gewerkschaftsbewegung falsch läuft, seien die Auftritte des IG-Metall-Chefs Berthold Huber ans Herz gelegt. In einem Fernsehinterview kritisierte er, dass die spanischen Gewerkschaften in den vergangenen Jahren höhere Löhne erkämpft hatten: »Damit haben die spanischen Gewerkschaften ihren Vorteil verspielt, dass sie nämlich billiger als die deutsche Industrie waren.« Kurz darauf bezeichnete er in einem Zeitungsinterview die gemeinsamen Streikaktionen am 14. November als »Unfug«.
Dabei sind es nicht die spanischen Gewerkschaften, die sich rechtfertigen müssten, sondern Huber und viele seiner Kollegen. Deutschland hatte in den Jahren 2000 bis zum Vorkrisenjahr 2008 die schwächste Reallohnentwicklung in der gesamten EU. Bei den Beschäftigten im Niedriglohnsektor betrugen die Einbußen 16 bis 22 Prozent, im Durchschnitt aller Beschäftigten sind die Reallöhne um 2,5 Prozent zurückgegangen. Diese extreme Standortpolitik trägt nun für die Unternehmen Früchte in Form von höheren Profiten und einer relativ guten Konjunkturentwicklung. Das wiederum rechnet sich Huber hoch an – und verwechselt so die Interessen der deutschen Wirtschaft mit den Interessen der Gewerkschaftsmitglieder. Dieser sogenannte »Korporatismus«, die Zusammenarbeit von Kapital und Gewerkschaften zum Wohle der Industrie, hat in Deutschland eine lange Tradition, vor allem in der Exportindustrie. Diese Tradition wurde in der Krise eher gestärkt als gebrochen. Viele Belegschaftsvertreter verstehen sich derzeit als Co-Manager und teilen das Ziel der Geschäftsführung, die Konkurrenzfähigkeit des Betriebs im kapitalistischen Wettbewerb zu erhalten. Das untergräbt das Klassenbewusstsein der Arbeiter, indem es sie an die Profitinteressen Unternehmen, in denen sie arbeiten, bindet.
Diese Ideologie wird auch von der Sozialdemokratie vertreten, die seit Bestehen der Bundesrepublik die dominierende politische Kraft in den Gewerkschaften ist. Sie behauptet, die Interessen von Kapital und Arbeit seien vereinbar. Diese Haltung kombinieren die Sozialdemokraten mit einer Politik des Stellvertretertums, wonach die Interessen der Beschäftigten am besten durch kluge Politiker, Experten und Personalräte vertreten werden, anstatt durch Kämpfe am Arbeitsplatz und auf der Straße.
Hier liegt ein wesentlicher Grund für das Gefälle zu den Bewegungen in Südeuropa. Schließlich wurden die dortigen Demonstrationen und Streiks maßgeblich von den Gewerkschaftsverbänden organisiert. Wenn diese großen Mobilisierungsmaschinen ausfallen – und das tun sie in Deutschland – und dazu noch die größten Oppositionsparteien SPD und Grüne im Kern die Krisenpolitik der Regierung unterstützen, dann ist eine große Mobilisierung natürlich eine Herausforderung.
5. Die Ruhe in Deutschland ist aber vor allem eins: relativ. Bei der besonderen Konstellation hierzulande sollten wir die bisherigen Fortschritte nicht gering schätzen. Eine Solidaritätsbewegung mit den europäischen Kämpfen befindet sich im Aufbau und kann im kommenden Jahr große Schritte nach vorne machen.
Die Blockupy-Demonstration in Frankfurt am Himmelfahrtswochenende brachte 30.000 Menschen auf die Straße. Das ist im Vergleich zu den südeuropäischen Generalstreiksbewegungen wenig, im deutschen Kontext jedoch ein echter Durchbruch. Schließlich war es ein Protest gegen Angriffe der deutschen Regierung in anderen Ländern – nicht in Deutschland selbst. Hier zeigte sich auch, dass mangelnde Solidarität mit den Kämpfen in Südeuropa kein Problem »der Gewerkschaften« ist. Zahlreiche Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter nahmen an den Protesten teil, die DGB-Jugend Frankfurt spielte eine zentrale Rolle, weil sie während eines massiven Polizeieinsatzes Rückzugsräume und Infrastruktur bereitstellte.
An diesen Faden kann im kommenden Jahr angeknüpft werden. In Florenz kamen Mitte November anlässlich des zehnjährigen Jubiläums des Europäischen Sozialforums 4000 Aktivisten aus ganz Europa zu einem Treffen zusammen. Sie verabredeten eine europaweite Mobilisierung zum EU-Frühjahrsgipfel am 23. März 2013 in Brüssel. Diese Aktion soll und kann zum zentralen Fokus für den Protest gegen Merkels Politik werden und eine Klammer für die ebenfalls für 2013 geplanten Aktionen von Blockupy in Frankfurt und des Umfairteilen-Bündnisses darstellen. Es gibt also diverse Ansatzpunkte, nächstes Jahr die Bewegung in Rahmen dessen, was zurzeit in Deutschland möglich ist, auf ein höheres Niveau zu bringen.
Auch abseits von großen Protesten gibt es Anlass zu vorsichtigem Optimismus. Im kleineren Maßstab gibt es Durchbrüche für kämpferische Gewerkschaftspolitik. In Halle an der Saale haben die Beschäftigten des Sparkassencallcenters S Direct nach 117-tägigem Streik einen Tarifvertrag erkämpft. Sie konnten die meisten ihrer Forderungen durchsetzen und über den Streik die gewerkschaftliche Präsenz im Betrieb massiv ausweiten. Ähnliches ist in der Vergangenheit den Beschäftigten des größten Krankenhauses Deutschlands, der Berliner Charité, gelungen, die gegenwärtig auf eine größere neue Auseinandersetzung zusteuern. Solche kämpferischen Ansätze gilt es zu verallgemeinern – das bloße Jammern über die Passivität der gewerkschaftlichen Führung ändert die Verhältnisse nicht, aktives Eingreifen als Teil der absehbaren Kämpfe 2013 gegen Merkels Politik hingegen schon.
Jetzt das neue Heft Probelesen!
- Hier die aktuelle Ausgabe als Einzelheft bestellen (3,50 plus Porto) oder marx21 abonnieren (4 Euro pro Heft, frei Haus) bzw. das Jahresabo-Angebot (20 Euro plus Buchprämie, frei Haus) nutzen.
- Wer bisher noch keine marx21-Ausgabe bestellt hat, kann einmalig ein kostenloses Probeheft ordern (in der Drop-Down-Liste »Art des Abonnements« die Option »Ich will eine Ausgabe von marx21 kostenlos testen« auswählen. Felder zu Kontoangaben einfach leer lassen.)