Er konfrontierte die Traumfabrik mit der Realität des amerikanischen Lebens. Aus dem Zusammenprall entstanden die ganz großen Kinomomente. Martin Scorsese zum Siebzigsten von David Meienreis
Am 17. November feierte Martin Scorsese seinen 70. Geburtstag. Unzählige Fans haben an diesem Tag das Glas auf diesen Regisseur, Produzenten, Drehbuchautor und Darsteller erhoben, der in den über 40 Jahren seiner Arbeit Klassiker des Films geschaffen und vielen Schauspielern den Durchbruch ermöglicht hat.
Scorsese hat zu Recht praktisch alles an Preisen erhalten, was die internationalen Festivals und Kritikerzirkel zu vergeben haben. Bemerkenswerterweise war er von Anfang an eher ein Liebling des Cannes Festivals und erhielt seinen ersten Oscar erst 2007 für die Regie im Film »The Departed«.
Das neue Hollywood
Scorsese gehört einer Generation von Filmemachern an, die in den sechziger Jahren die amerikanische Filmindustrie aufmischten und New Hollywood begründen sollten. Als er Anfang der siebziger Jahre aus New York kam, stieß er zu Leuten wie Dennis Hopper, Francis Ford Coppola, Robert Altman, Peter Bogdanovich, Fay Dunaway, Warren Beatty und Jack Nicholson, auch George Lukas und Steven Spielberg waren damals dabei.
Sie waren angeödet vom traditionellen Hollywoodkino und viele von ihnen Teil der emanzipatorischen Bewegungen der 1960er Jahre, die sich gegen den Vietnamkrieg und die repressive, konservative, von Sexismus, Rassismus, Klassenspaltung und sexueller Unterdrückung geprägte Kultur der USA wandten.
Genug große Lüge
Schon 1960 hatte eine Gruppe New Yorker Filmemacher, die New American Cinema Group, ein Manifest veröffentlicht, das die Hollywood-Rebellen der sechziger und siebziger Jahre umsetzten. Darin hieß es: »Das offizielle Kino der Welt hat sich erschöpft. Es ist moralisch verkommen, ästhetisch überholt, thematisch oberflächlich und vom Temperament her langweilig (…) Wir haben genug von der ›Großen Lüge‹ im Leben und in den Künsten. Wir wollen keine scheinheiligen, polierten, glatten Filme, wir haben sie lieber roh, unpoliert, aber lebendig: Wir wollen keine rosigen Filme – wir wollen die Farbe des Blutes.«
Die Farbe des Blutes kommt in Scorseses Filmen nicht zu kurz. Als Sohn sizilianischer Einwanderer, die sich im Little Italy New Yorks mit schlecht bezahlten Jobs und gelegentlichen Statistenrollen über Wasser hielten, war er in dem »anderen Amerika«, das in der Darstellung des Wirtschaftswundermainstreams nicht vorkam, groß geworden. Er hatte Diskriminierung, Armut, Kriminalität und Gewalt ebenso kennengelernt wie das Streben der Außenseiter nach Ankunft im Mittelklassewohlstand. Neben Sergio Leone und Francis Ford Coppola hat niemand das Leben der Italoamerikaner so einfühlsam auf die Leinwand und ins Massenbewusstsein gebracht wie Scorsese – auch wenn er einmal anmerkte, dass er sie wohl ein wenig zu oft als Mafiosi dargestellt hat.
Vorbild Europa
Robert de Niro hat Scorsese mit Hauptrollen in Filmen wie »Taxi Driver«, »Raging Bull« oder »Casino« zu einem Star gemacht, aber auch Harvey Keitel, Joe Pesci und die junge Jodie Foster verdanken ihren Rollen in Scorseses Filmen viel. In den letzten Jahren ist mit Leonardo di Caprio ein weiterer Italo-Amerikaner durch Scorseses Hilfe zu einem anerkannten und ernst zu nehmenden Schauspieler aufgestiegen.
Die Filmemacher des Neuen Hollywood blickten bei ihrer Kritik am etablierten US-Kino, für das Gesichter wie Doris Day, Ronald Reagan oder John Wayne standen, nach Europa. Ihre Vorbilder waren Jean-Luc Godard, Ingmar Bergmann oder Federico Fellini. Lionel Rogosin, ein Mitautor des New Cinema Manifestes, zeigte ihre Filme in seinem Kino in der Bleecker Street, Zentrum der damaligen Bohème. Das europäische Kino dieser mutigen und nicht unumstrittenen Regisseure wagte einen neuen Realismus, den Blick auf Randgruppen und Verpöntes, Verbotenes, Intimes. Und sie ließen ihre Charaktere zu gesellschaftlichen Problemen Position beziehen.
Generalstreik und Demonstrationen
Diese neue Ernsthaftigkeit brachten die jungen US-amerikanischen Filmemacher auch nach Hollywood. Scorsese verbrachte den Sommer 1968 in Paris, als mit dem Generalstreik und den Studentendemonstrationen eine revolutionäre Stimmung aufkam. Zwei Jahre später drehte er »Street Scenes«, eine Dokumentation über die Studentenproteste in den USA, nachdem an der Kent State Universität demonstrierende Studenten von der Nationalgarde erschossen worden waren.
Bei der Verfilmung des Woodstock-Konzerts beteiligte er sich am Schnitt, und kurz darauf arbeitete er als Produzent der Dokumentation der Medicine Ball Caravan, einer landesweiten Tour von Hippies und Musikern, die die amerikanische Provinz mit dem New Age bekannt machen wollten und dabei in der Realität das erlebt haben, was im Film »Easy Rider« gezeigt wird.
Vietnamkrieg ganz anders
Und auch der Vietnamkrieg fehlt in Scorseses Filmen nicht, auch wenn er anders als Coppola (»Apocalypse Now«), Michael Cimino (»The Deer Hunter«) oder Stanley Kubrick (»Full Metal Jacket«) nicht das Kriegsgeschehen selbst thematisiert, sondern in »Taxi Driver« die zerstörerischen Folgen der Brutalisierung und Traumatisierung durch den Krieg darstellt.
Seit dem Jahr 1970 engagierte sich Scorsese zusammen mit Studenten im New York Cinetracks Collective gegen die Anwerbung junger Menschen für das Militär an Schulen und Universitäten. »Taxi Driver« machte nicht nur bei seinem Erscheinen im Jahr 1976 Furore, sondern auch einige Jahre später, als John Hinckley, der erfolglose Ronald-Reagan-Attentäter, angab, die Geschichte von Travis Bickle (gespielt von Robert de Niro) habe ihn zu seiner Tat inspiriert.
Im nächsten Leben Musik
Auf die Frage nach seinem verrücktesten Traum für die Zukunft antwortete Scorsese einmal, er würde in einem nächsten Leben gerne Musik machen. In diesem Leben hat er Musik, und zwar gerade die Musik der 68er-Generation, nicht nur virtuos in viele seiner Filme eingearbeitet, sondern den Ikonen der wilden Jahre auch eigene Denkmäler gesetzt: »The Last Waltz«, eine Dokumentation über das Abschiedskonzert von The Band, in der auch Bob Dylan, Neil Young, Muddy Waters und Eric Clapton auftreten, »Woodstock« und mehrstündige Filme über Bob Dylan (»No Direction Home«) und die Rolling Stones (»Shine a Light«). Außerdem führte er Regie bei Michael Jacksons Video »Bad«.
Scorsese war lange Zeit eher ein umstrittener und provokanter als ein kommerziell erfolgreicher Regisseur. Ende der siebziger Jahre, als die Welle der Revolte zurückrollte und New Hollywood an sein Ende kam, versank er nach »Taxi Driver« und »New York, New York«, einem Misserfolg, in einer Sinnkrise und Drogen. Nach einer Überdosis verbrachte er längere Zeit in Krankenhäusern und Reha-Kliniken, wo ihn Robert de Niro täglich besuchte und ihn mit der Idee für einen neuen Film aufbaute: »Raging Bull«, die Verfilmung der Biographie des Boxers Jake la Motta, zeigt, obwohl in Schwarz-Weiß gedreht, wieder die Farbe des Blutes und wurde ein Erfolg. Scorsese ging trotzdem davon aus, dass dies sein letzter Film gewesen sei, und wollte sich eigentlich nun einen anderen Beruf suchen.
Kommerzielles Hollywood
Anders als George Lukas (»Star Wars«) oder Steven Spielberg (»Der Weiße Hai« etc.) hat Scorsese nie den einfachen Weg genommen, sein offensichtliches Talent in den Dienst einer künstlerisch nichtssagenden, aber kommerziell erfolgreichen Karriere zu stellen. Anders als viele andere seiner Generation wie Hal Ashby (»Harold and Maude«), Michelangelo Antonioni (»Zabriski Point«) oder Mike Nichols (»Die Reifeprüfung«) schaffte er jedoch letztlich den Übergang von der experimentellen Phase des New Hollywood zu Filmen, die einem breiten Publikum, das über die Aktivisten der Studentenrevolte hinausreicht, zugänglich sind.
Dabei folgt er Fragen und Themen, die ihn selbst interessieren und berühren. Heraus kam dabei in den 1980er Jahren dann »Die Farbe des Geldes«. Sicherlich kein tiefschürfender philosophischer Film, aber einer, der Scorseses Dauerthema, den Aufstiegskampf von Außenseitern, behandelt. Im Jahr 1988 drehte er »Die letzte Versuchung Christi« und legte sich dabei nicht nur mit der katholischen Kirche Little Italys, sondern mit der gesamten, in den USA einflussreichen christlichen Gemeinde an.
Film und Religion
»Die letzte Versuchung Christi« ist die Verfilmung des gleichnamigen Buches von Nikos Kazantzakis und wagt eine provokante Neuinterpretation der Aktivitäten der kleinen Gruppe um Jesus Christus. Scorsese sagte, das Thema habe ihn jahrzehntelang – seit er in jungen Jahren die Ausbildung zum Priester aufgegeben hatte – beschäftigt, bevor er die Geschichte drehte. In dem Film streiten Jesus (Willem Defoe), Judas (Harvey Keitel) und die anderen Jünger über die Frage, ob man Gewalt anwenden dürfe, um ein neues Zeitalter herbeizuführen, und ob Jesus der Bewegung mehr dient, wenn er lebt oder wenn er einen Märtyrertod stirbt.
Der Film kommt stellenweise wie eine Low-Budget-Produktion der frühen Jahre daher. Ständig fällt auf, dass ein Stromkabel im Filmrand sichtbar wird oder ein Schauspieler sich ein Kaltgetränk von der Crew reichen lässt. Die Distanz zwischen Publikum und Darstellung ist gebrochen. Die Erzählung lebt von den Charakteren und ihren Auseinandersetzungen, eine Rückkehr zum Manifest des New Cinema und den improvisierten, lebensnahen Darstellungen der experimentellen Filme der Sechziger. Scorseses Aussage, sein Leben bestehe aus Film und Religion, sonst nichts, erhält durch diesen herausfordernden und spannenden Film eine ausführliche Erläuterung.
Das Amerika von Ronald Reagan und Billy Graham, Evangelikale und Katholiken waren schockiert.
Aktiv und kreativ
In den folgenden Jahren drehte Scorsese »Good Fellas«, der Maßstäbe im Mafia-Genre setzte, die Neuverfilmung von »Cape Fear« mit Nick Nolte und Jessica Lang, »Casino«, »Kundun« und in den 2000er Jahren »Gangs of New York«, »Shutter Island«, »The Departed« und die bereits erwähnten Musiker-Dokumentationen.
»Wenn man älter wird, verändert man sich«, hat Scorsese gesagt, »Ich mache heute andere Filme als früher«. Scorsese ist ein aktiver und kreativer Künstler und sich in dieser Wandelbarkeit treu geblieben. »Ich bin tatsächlich schwierig und wütend«, hat er den Kritikern erwidert, die seine Filmsprache rau und kratzbürstig nannten. Zu dieser Kratzbürstigkeit und einem wichtigen Platz in der Filmgeschichte gratulieren wir dem großen filmischen Zeugen einer bewegten Zeit.
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