Nach acht Monaten erbitterter Auseinandersetzung liegt im Einzelhandel endlich ein Tarifabschluss vor. Doch der verspricht lediglich eine Atempause.
Von Olaf Klenke
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Die Arbeitgeber im Einzelhandel sind mit ihrem zu Beginn des Jahres 2013 gestarteten Generalangriff auf die Tarifverträge vorerst gescheitert. Das ist vor allem dem streikfreudigen und kampffähigsten ver.di-Bezirk Baden-Württemberg zu verdanken. Hier kamen Gewerkschaft und Arbeitgeber am 5. Dezember 2013 überein, den Manteltarifvertrag wieder in Kraft zu setzen. Dieser Abschluss ist in allen Bundesländern übernommen worden. Der Streik im Einzelhandel stimmt zuversichtlich. Die Beschäftigten haben gezeigt, dass sie sich trotz der widrigen Bedingungen organisieren und erfolgreich kämpfen können. Mit neuen Streikformen legten sie Mut und Kreativität an den Tag. Allerdings fehlt der Gewerkschaft ver.di ein einheitliche Streik- und Arbeitskampfstrategie. Möglichkeiten, positive Erfahrungen zu verallgemeinern, die Streikbewegung auszuweiten, zuzuspitzen und zu politisieren blieben ungenutzt.
Der Abschluss von Baden-Württemberg sieht über einen Zeitraum von zwei Jahren eine Lohnerhöhung von insgesamt 5,1 Prozent vor. Dieses Ergebnis sehen viele Beschäftigten positiv, da es Reallohnsteigerungen gewährleistet. Das war bei vergangenen Abschlüssen häufig nicht der Fall. Entscheidender als die Entgeltrunde war jedoch der Konflikt um den Manteltarifvertrag, der wesentliche Arbeitsbedingungen regelt, etwa Arbeits- und Urlaubszeiten oder Zuschläge für Spät-, Nacht- und Feiertagsarbeit. In allen Bundesländern außer Hamburg hatten die Arbeitgeber diesen Vertrag aufgekündigt. Angesichts einer schwindenden Tarifbindung im Einzelhandel nahmen sie die Manteltarifverträge als Faustpfand, um eine Absenkung der Standards einzufordern. Sie forderten eine »Modernisierung« der Tarifverträge, um das Lohnniveau zu senken.
Manteltarifvertrag verteidigt
Mit der Einigung wird nun der Manteltarifvertrag rückwirkend wieder in Kraft gesetzt. Eine Abgruppierung der Kassiererinnen und Kassierer wurde verhindert und die Durchlässigkeit für Angelernte in die Fachangestelltengruppe erhalten. Die Arbeitszeit wird nicht weiter flexibilisiert. Das ist ein großer Erfolg. Allerdings enthält die Einigung auch Zugeständnisse an die Arbeitgeber. Es gibt eine neue Entgeltgruppe für die »Warenverräumung« und die Verpflichtung, bis zum Jahr 2015 über »neue Entgeltstrukturen« zu verhandeln. Zudem ist festgeschrieben, diese Verhandlungen ohne Arbeitskampf zu führen. Jetzt muss innerhalb von ver.di durchgesetzt werden, dass nicht in geschlossenen Verhandlungen die Entgeltstruktur geändert wird, ohne das Mittel des Streiks zu nutzen.
Mindestens ebenso wichtig wie die Bewertung des Abschlusses ist der Blick auf die ermutigenden Entwicklungen während des Arbeitskampfs. Im Laufe der Auseinandersetzung traten über 25.000 Beschäftigte in die Gewerkschaft ein. Bis Ende Oktober 2013 hatte ver.di nach eigenen Angaben mehr als 130.000 Beschäftigte in 900 Betrieben zum Streik aufgerufen.
Arbeitgeber setzen viele Streikbrecher ein
Wie schon bei früheren Auseinandersetzungen im Einzelhandel trugen vor allem Frauen die Streikbewegung. Doch diesmal hat sich die Zusammensetzung der Streikenden etwas geändert. Die Beschäftigten von Kaufhäusern waren in einigen Regionen weniger bis gar nicht präsent. Stattdessen prägten die Belegschaften von Selbstbedienungswarenhäusern wie Kaufland, Real und Ikea, sowie von Modeketten, Bau- und Supermärkten das Geschehen.
Bei drei Millionen Beschäftigten ist wegen des oft kleinteiligen Filialbetriebs und eines gewerkschaftlichen Organisationsgrades von unter zehn Prozent ein Arbeitskampf im Einzelhandel nicht einfach zu organisieren. In der Regel wurde nur an einzelnen Tagen gestreikt. In Baden-Württemberg streikten Beschäftigte von H&M oder Kaufhof allerdings durchaus zwei bis drei Wochen am Stück. Mehr als ein Dutzend Betriebe hatten über achtzig Streiktage. In einigen Landkreisen, vor allem im Osten und Norden Deutschlands, gab es hingegen überhaupt keine Streiks.In bestreikten Betrieben ist es meist schwierig, den Geschäftsablauf tatsächlich zu stören, weil die Arbeitgeber innerhalb kurzer Zeit Streikbrecher rekrutieren.
Beschäftigte bauen öffentlichen Druck auf
Als Antwort darauf kamen neue Aktionsformen zum Einsatz, mit denen man schon in vergangenen Einzelhandelsstreiks experimentiert hatte. Ein Beispiel dafür ist die Raus-Rein-Strategie, bei der ohne Vorankündigung aus dem laufenden Geschäft gestreikt wird. Der streikende Teil der Belegschaft verlässt das Geschäft. Sobald der Arbeitgeber Streikbrecher organisiert hat, nehmen die Streikenden die Arbeit wieder auf. Öffentlichkeitswirksam war auch der kollektive Besuch von Kaufhäusern und Einkaufszentren durch Streikende aus verschiedenen Betrieben. Es gab eine Vielzahl unterschiedlicher Aktionen, oft mit Unterstützung aus dem linken und gewerkschaftlichen Spektrum. So gelang es trotz der vergleichsweise schwachen gewerkschaftlichen Organisation, bei Schlüsselunternehmen Unruhe zu schaffen, die Geschäftsabläufe zu stören und öffentlich Druck aufzubauen. Nur aufgrund der Handlungsfähigkeit in einzelnen Streikbetrieben konnte ver.di in Baden-Württemberg glaubhaft damit drohen, das Weihnachtsgeschäft zu stören.
Die wohl wichtigste Lehre der Streikbewegung betrifft jedoch das enorme Potential und die Kreativität der Beschäftigten im Arbeitskampf. Nicht selten waren erfahrene Kolleginnen und Kollegen von dem Engagement der Belegschaften genauso überrascht wie diese selbst. Ein Streik erfordert gemeinsame Diskussionen und mutige Entscheidungen. Jede erfolgreiche Aktion bestärkt das Selbstbewusstsein. In der vordersten Reihe standen dabei meist Frauen, oft junge Migrantinnen.
Kämpferische Kerne aufgebaut
Doch die positiven Streikerfahrungen sind nicht vom Himmel gefallen. Den Ausgangspunkt bildeten oft kämpferische Kerne, die sich in einzelnen Belegschaften über die vergangenen Jahre gebildet haben. Sie sind häufig durch betriebliche Auseinandersetzungen entstanden, etwa weil sich neu gegründete oder gewählte Betriebsräte gegen eine aggressive Geschäftsleitung behaupten mussten. Ihre Aktionen strahlten auf Gewerkschaftsmitglieder anderer Einzelhandelsunternehmen aus und halfen, innerhalb von ver.di Druck für eine mutigere Streikstrategie zu machen. Ob es zu einem Streik kam und in welche Ausmaß, hing entscheidend davon ab, welche Vorarbeit ver.di und betriebliche Aktivisten geleistet hatten.
Streikende brauchen bundesweiten Austausch
Eine Schwäche der Streikbewegung war die fehlende Vernetzung der kämpferischen Gewerkschaftsaktiven, um eine alternative Führung zur ver.di-Spitze anbieten zu können. Diese wollte den Streik nie wirklich führen und konnte es wohl auch nicht. Das ist sicherlich eine Aufgabe, die für die nächste Auseinandersetzung noch aussteht. Ende Oktober 2013 organisierten die Rosa Luxemburg Stiftung und die Bundestagsfraktion der LINKEN in Kassel einen Ratschlag zum Einzelhandelskonflikt mit 130 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Hier zeigte sich ansatzweise, wie sehr man sich durch bessere Vernetzung gegenseitig bestärken und die Mobilisierung verbreitern könnte.
Betriebliche Streikaktivisten forderten mehr zentrale Aktionen und eine Blockade der Logistik. Viele waren froh, sich endlich mit streikenden Kolleginnen und Kollegen aus anderen Unternehmen und Bundesländern austauschen zu können. Auch für die Streikvorreiter aus Baden-Württemberg war dieser Ratschlag wichtig. Sie sahen, dass sie nicht allein kämpfen. Ver.di hätte im Streik hunderte, wenn nicht tausende Beschäftigte zusammen bringen können. Statt aber das Entstehen einer bundesweiten Streikbewegung zu fördern und den Konflikt zu politisieren, setzte die ver.di-Führung hinter den Kulissen auf eine Einigung mit den Arbeitgebern. Ein Konflikt entstand zwischen dem sozialpartnerschaftlichen Flügel, der auf »konstruktive« Verhandlungen mit dem »vernünftigen« Teil der Arbeitgeber setzte, und einem sich neu bildenden kämpferischen Flügel. Teilweise musste ver.di anfangs beinahe erpresst werden, streikwillige Belegschaften den Arbeitskampf führen zu lassen, statt auf andere zu warten. Bernd Riexinger betonte hingegen auf der Konferenz »Erneuerung durch Streik« der Rosa Luxemburg Stiftung im März 2013: »Wer besser streiken kann, muss vorangehen und ein positives Beispiel setzen.«
LINKE kann entscheidend helfen
Auch die Partei DIE LINKE machte wichtige neue Erfahrungen. Zum ersten Mal begleitete sie einen Tarifkonflikt von Anfang an. Bereits im Vorfeld wurde Informationsmaterial an die Kreisverbände verschickt. Die Bundestagsfraktion stellte Anfragen im Parlament, produzierte eine Solidaritätspostkarte in hoher Auflage und führte mit der Rosa Luxemburg Stiftung den bundesweiten Ratschlag durch. In Berlin baute die Landesarbeitsgemeinschaft Betrieb und Gewerkschaft einen Verteiler mit mehreren Dutzend Streikunterstützern auf, die kurzfristig per SMS oder Email informiert wurden. Die Solidaritätsarbeit reichte von symbolischer Unterstützung in Einkaufstraßen über die Teilnahme an Streikaktionen bis zu Blockaden und Flashmobs. DIE LINKE und der Studierendenverband Die Linke.SDS hatten dabei eine Scharnierfunktion zum antikapitalistischen Spektrum inne. In Berlin entwickelte sich eine Kooperation zwischen einer kämpferischen H&M-Filiale und dem Blockupy-Bündnis. Streikende besuchten mit Unterstützerinnen und Unterstützern in einer sogenannten »Blitzaktion« H&M-Filialen, die sich bisher kaum oder gar nicht am Streik beteiligt hatten. Im Sommer blockierten Unterstützerinnen und Unterstützer die Frankfurter Haupteinkaufsstraße und in der Vorweihnachtszeit eine H&M-Filiale in der Berliner Friedrichstraße.
DIE LINKE sollte nicht versuchen, die Rolle von Gewerkschaften einzunehmen. Aber sie kann einen Unterschied machen, indem sie streikbereite Kolleginnen und Kollegen unterstützt und so eine Entwicklung innerhalb der Gewerkschaften befördert.
Nun gilt es, die kommenden Monate zu nutzen, um die kämpferischen Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter besser zu vernetzten. Neben regionalen Treffen sollte die Streikkonferenz der Rosa Luxemburg Stiftung im Oktober 2014 in Hannover der zentrale Termin sein, um die Erfahrungen des Einzelhandelsstreiks zu diskutieren und nächste Schritte zu beratschlagen. Zudem steht mit einem möglichen Streik im öffentlichen Dienst die nächste Bewährungsprobe bevor. Auch hier sollte sich DIE LINKE unbedingt einbringen.