Dass die Regierungen dieser Welt ausgerechnet Piraten den Krieg erklären, wer hätte das im Jahr 2009 gedacht? Independent-Kolumnist Johann Hari erklärt, warum es immer mehr Seeräuber gibt.
Derzeit nimmt die Britische Marine – unterstützt durch Kriegsschiffe aus über zwei Dutzend Nationen, darunter die USA, Deutschland und China – Kurs auf somalische Gewässer, um es mit Männern aufzunehmen, die in unserer Fantasie immer noch als Stummfilmschurken mit einem Papagei auf der Schulter herumgeistern. Bald werden sie somalische Schiffe bekämpfen und die Piraten sogar bis ins Landesinnere verfolgen – in einem Land, das wie kaum ein anderes zerstört wurde. Hinter der belustigenden Sonderbarkeit dieser Erzählung verbirgt sich allerdings ein unsäglicher Skandal. Die Menschen, die unsere Regierungen zu einem der "größten Bedrohungen unserer Zeit" hochstilisieren, haben Unglaubliches erlebt und handeln durchaus mit einigem Recht. Doch Piraten waren noch nie das, wofür wir sie halten.
Hirnlose Wilde?
Im "goldenen Zeitalter der Piraterie" – von 1650 bis 1730 – wurde das Bild des hirnlosen, wilden Blaubartes, das heute noch herumgeistert, von der britischen Regierung mit großem propagandistischem Aufwand aus der Taufe gehoben. Viele einfache Menschen ließen sich allerdings nicht täuschen: Dank der Unterstützung durch große Menschenansammlungen blieb Piraten ein Todesurteil oft erspart. Wie kam es dazu? Was sahen sie, was wir nicht sehen können?
In seinem Buch "Villains of All Nations" durchwühlt der Historiker Marcus Rediker Berge von Zeugnissen. Wer damals als hungriger junger Mann von der Handelsflotte oder der Kriegsmarine von den Docks des Londoner Ostends aufgelesen wurde, landete in einer schwimmenden Hölle aus Brettern. Er musste zu jeder Tageszeit auf engstem Raum inmitten einer halb verhungerten Mannschaft schuften, und sobald er nachließ, wurde er vom allmächtigen Kapitän mit der neunschwänzigen Katze ausgepeitscht. Und wenn er zu oft nachließ, konnte er über Bord geworfen werden. Nach vielen Monaten oder Jahren dieser Behandlung wurde er dazu noch oft um seinen Lohn geprellt.
Piraten waren die ersten Rebellen gegen diese Welt. Sie meuterten und schufen einen neuen Arbeitsethos auf den Meeren. Sobald sie das Schiff in ihrer Gewalt hatten, wählten sie ihre Kapitäne und trafen alle Entscheidungen gemeinsam, ohne Foltermittel. Sie teilten sich die Beute nach "einem der egalitärsten Pläne für die Ressourcenverteilung, die das achtzehnte Jahrhundert kannte". Sie nahmen sogar flüchtige afrikanische Sklaven auf und lebten mit ihnen als Gleichberechtigte zusammen. Die Piraten zeigten "ganz deutlich – und auf sehr subversive Art -, dass Schiffe nicht nach den brutalen und unterdrückerischen Methoden der Handelsschiffe und der königlichen Flotte geführt werden mussten." Daher galten sie als romantische Helden, obwohl sie nur unproduktive Diebe waren. Die Worte eines jungen Piraten jenes vergangenen Zeitalters, ein Brite namens William Scott, hallt in unserer Epoche der Piraterie nach. Unmittelbar vor seiner Hinrichtung in Charleston, South Carolina, sagte er: "Was ich tat, tat ich, um mich vor dem Untergang zu retten. Ich war gezwungen, mich als Pirat zu betätigen, um zu überleben."
Westliche Konzerne laden Atommüll ab
Im Jahr 1991 kollabierte die somalische Regierung und seitdem taumeln ihre neun Millionen Einwohner am Rande des Hungertods. Bestimmte Kräft im Westen haben das als Gelegenheit betrachtet, die Lebensmittvorräte des Landes zu stehlen und unsere radioaktiven Abfälle in ihre Meere zu kippen. Ja, richtig gelesen: Atommüll. Sobald die Regierungsgewalt verschwand, tauchten mysteriöse europäische Schiffe vor den Küsten Somalias auf, von denen große Fässer über Bord geworfen wurden. Die Küstenbevölkerung erkrankte. Es waren zunächst unerklärliche Hautausschläge, Übelkeit und missgebildete Kinder. Nach dem Tsunami von 2004 wurden dann hunderte der abgeworfenen und mittlerweile undichten Fässer an die Küste gespült. Die Menschen wurden radioaktiv verseucht und über 300 starben.
Der UNO-Gesandter für Somalia, Ahmedou Ould-Abdallah, sagte mir: "Jemand verklappt hier Atommaterial. Es sind auch Blei und Schwermetalle wie Kadmium und Quecksilber – und was man sich sonst noch vorstellen kann." Ein Großteil davon kann bis zu europäischen Krankenhäusern und Fabriken zurückverfolgt werden, die es allem Anschein nach an die italienische Mafia zur billigen "Entsorgung" weitergeben. Als ich Ould-Abdallah fragte, was die europäischen Regierungen dagegen unternähmen, seufzte er nur und sagte: "Nichts. Es gibt weder Umweltsanierung noch Wiedergutmachung, es sind keine Präventionsmaßnahmen getroffen worden."
Zugleich sind andere europäische Schiffe damit beschäftigt, die somalischen Gewässer ihrer wertvollsten Ressource zu berauben: Nahrung. Unsere eigenen Fischbestände haben wir durch Überausbeutung dezimiert – und jetzt greifen wir ihre an. Es werden jährlich Thunfisch, Schrimps und Hummer im Wert von mehr als 300 Millionen Dollar durch illegale Trawler gestohlen. Mittlerweile verhungern die einheimischen Fischer. Mohammed Hussein, Fischer aus der Stadt Marka, 100 Kilometer südlich von Mogadischu, sagte Reuters: "Wenn nicht bald etwas unternommen wird, wird es in naher Zukunft kaum noch Fische in unseren Küstengewässern geben."
Die neuen Piraten
Das ist der Hintergrund, vor dem die neue "Piraterie" entstanden ist. Somalische Fischer haben sich Schnellboote beschafft, um die Kippentlader und Trawler von ihren Vorhaben abzubringen oder zumindest eine "Steuer" zu kassieren. Sie nennen sich die freiwillige Küstenwache Somalias – und einfache Somalier stimmen dem zu. Das unabhängige somalische Nachrichtenportal WadheerNews fand heraus, dass 70 Prozent der Befragten "die Piraterie als Form der Landesverteidigung ausdrücklich befürworten".
Geiselnahmen werden dadurch nicht zu einer guten Sache und es ist offensichtlich, dass manche bloße Gangster sind – vor allen Dingen diejenigen, die Lebensmittellieferungen des Welternährungsprogramms aufgehalten haben. Einer der Piratenführer sagte aber in einem Telefoninterview: "Wir betrachten uns nicht als Seeräuber. In unseren Augen sind jene, die unerlaubt in unseren Gewässern fischen und dort den Müll abladen die Banditen." Das wäre auch William Scott eingeleuchtet. Hatten wir erwartet, dass hungernde Somalier passiv vom Strand aus zugucken oder mitten im toxischen Abfall herumpaddeln, während wir ihnen den Fisch wegnehmen, um ihn in teuren Restaurants in London, Paris oder Rom zu verzehren? Gegen dieses Verbrechen unternehmen wir nichts, verweigern uns einer vernünftigen Lösung, aber sobald manche der Fischer reagieren und die Transitroute für 20 Prozent der weltweiten Öllieferungen stören, entsenden wir sofort Kanonenboote.
Der Charakter des derzeitigen Krieges gegen Piraterie wurde treffend von einem anderen Piraten auf den Punkt gebracht, der im vierten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung lebte. Er wurde gefangengenommen und Alexander dem Großen vorgeführt. Der wollte vom Piraten wissen, was dieser damit meine, wenn er die See besitzen wolle. Der Pirat lächelte und antwortete: "Und was meinst du damit, wenn du die ganze Welt eroberst? Weil ich das mit einem mickrigen Schiff mache, nennt man mich Räuber. Während du Kaiser genannt wirst, weil du das Gleiche mit einer großen Flotte tust." Heute sind unsere großen imperialen Flotten wieder unterwegs – aber wer ist der Räuber?
(Aus dem Englischen von David Paenson)
Zum Autor:
Johann Hari ist ein bekannter britischer Journalist und Kolumnist der Zeitung "Independent". Abdruck des Arikels auf marx21.de mit freundlicher Genehmigung des Autors.