Am 24. Juni wurde der Kandidat der Muslimbruderschaft zum neuen Präsidenten erklärt. marx21.de sprach mit der ägyptischen Sozialistin Nora Schalaby über den Wahlsieger, seine Politik und die Aussichten der Linken
marx21: Mohammed Mursi wurde vor wenigen Tagen zum Wahlsieger über Ahmed Schafik – der Kandidat des Militärs – erklärt. Was bedeutet dieses Ergebnis?
Nora Schalaby: Natürlich ist der Sieg von Mursi besser als ein Wahlerfolg für Schafik. Schafik ist ein Vertreter des alten Regimes, der die Revolution erstickt und viele Aktivisten ins Gefängnis geworfen hätte. So oder so wird Mursi wegen der Dominanz der Armee nicht viel zu sagen haben. Er wird nicht mehr als eine Marionette des Regimes sein.
Die Muslimbruderschaft hat sich in der Vergangenheit immer opportunistisch verhalten und sich dem unterworfen, der gerade an der Macht war. Trotzdem sind viele der Menschen auf dem Tahrirplatz Anhänger der Bruderschaft und gleichzeitig für die Revolution. Sie haben sich auf dem Platz versammelt, um sicherzustellen, dass sich der momentan regierende Militärrat (SCAF – Supreme Coucil of Armed Forces) die Wahlen nicht unter den Nagel reißt.
Auf den Straßen ist die Lage ziemlich unklar. Kurz nach der Bekanntgabe des Ergebnisses haben 20.000 Anhänger Schafiks demonstriert. Gleichzeitig fand eine Kundgebung für Mursi auf dem Tahrirplatz statt. Viele Menschen vertrauen aber weder Schafik noch Mursi, weil beide die Revolution abwürgen werden. Wir müssen die Revolution aber fortsetzen.
Warum findet sich die Unterstützung für die Revolution nicht in den Wahlergebnissen wieder?
Die Ergebnisse des ersten Wahlgangs spiegelten die Unterstützung sehr wohl wieder. Man muss anerkennen, dass die Muslimbrüder die am besten organisierte Kraft in der Revolution waren. Man kann wirklich nicht behaupten, dass sie zu den revolutionsfeindlichen Kräften gehört haben. Sie haben sich beteiligt und viele von Mursis Wählern haben ihre Stimmen im ersten Wahlgang revolutionären Kandidaten gegeben.
Zwar wurde Schafik im ersten Wahlgang knapp Zweiter, aber wenn man die Ergebnisse des linken Kandidaten Sabahi, des unabhängigen islamistischen Kandidaten Abul Futuh und des sozialistischen Kandidaten Khaled Ali zusammenzählt, kommt man auf 10 Millionen Stimmen. Das sind viel mehr Stimmen als Schafik bekommen hat. Die Revolutionäre hatten also die Wählerstimmen, aber sie sind nicht gemeinsam angetreten. Ich glaube, dass die revolutionäre Opposition hätte gewinnen können, wenn sie sich auf einen Kandidaten geeinigt hätte.
Nach den Wahlen trafen sich Sabahi, Abul Futuh und Khaled Ali. Das brachte eine Menge Leute zusammen, die wollten, dass die Revolution weitergeht. Ich war ein paar Tage nach den Wahlen auf dem Tahrirplatz und habe viele Leute getroffen, die den Dreien zujubelten und ihnen zuriefen, dass sie die Revolution fortsetzen müssten. Sie riefen dazu auf, sich in einem Präsidium zusammenzuschließen, um den Militärrat und die Muslimbruderschaft herauszufordern. Als aber nichts passierte, löste sich diese Bewegung auf.
Wo sind die Revolutionäre jetzt?
Manche Aktivisten, die jetzt auf dem Tahrir die Muslimbrüder unterstützen, sind dort, weil sie gegen das Militär und den Staatsstreich protestieren wollen. Mein Bruder zum Beispiel ist dort, nicht weil er ein Muslimbruder ist, sondern weil er die Forderungen dort unterstützt: Gegen das neue Gesetz, das es dem Militärrat erlaubt, jeden ohne Anklage festzunehmen, und gegen die Auflösung des Parlaments. Aber generell unterstützt die Mehrheit derer, die jetzt auf dem Tahrir sind, die Muslimbruderschaft.
Einige Aktivisten nehmen an den Protesten auf dem Tahrirplatz nicht teil, weil sie nicht mit der Bruderschaft in Verbindung gebracht werden wollen. Sie haben sich dafür entschieden, bis zum Ende dieser Wahlfarce abzuwarten, um dann zu den ursprünglichen Forderungen der Revolution zurück zu kehren und die Armee loszuwerden. Sie haben sich zurückgezogen, weil die Wahlen es sehr schwer gemacht haben, mit unseren ursprünglichen Forderungen weiterzumachen.
Kannst Du etwas über den Charakter der Bruderschaft sagen? Die Führung der Bruderschaft hat mit dem Militärrat verhandelt, aber viele ihrer Mitglieder sind immer noch auf den Straßen…
Wir haben immer gesagt, dass man der reaktionären Führung der Muslimbruderschaft nicht vertrauen kann, dass aber einige der jüngeren Mitglieder revolutionäre Veränderungen fordern und mit vielen Aktionen und den Entscheidungen der Führung nicht einverstanden sind. Wir müssen feststellen, dass die Muslimbruderschaft als Organisation sich aus eigenem Interesse opportunistisch verhält. Aber manchmal ist es nötig, sich mit ihnen gegen den echten Feind – den Militärrat – zu verbünden.
Als die Muslimbruderschaft vor der Revolution vom Regime verfolgt und unterdrückt wurde, haben wir sie immer gegenüber dem Staat verteidigt. Nach der Revolution mussten wir mitansehen, wie sie sich mit den Autoritäten zusammensetzten und Deals aushandelten. Wir mussten Abstand von ihnen nehmen und klarstellen, in welcher Weise sie der Revolution Schaden zufügten.
Natürlich treffe ich nach wie vor junge Mitglieder der Bruderschaft, die sehr deutlich für die Revolution sind und Probleme mit ihrer Führung haben. Aber am Ende folgen sie dem, was die Führung sagt. Auch wenn es immer noch Widerstand gibt, glaube ich nicht, dass der Widerspruch zwischen Führung und Aktivisten noch so groß ist wie früher.
Wenn die Muslimbruderschaft keine wirkliche Gefahr für den Militärrat bedeutet, warum hat er dann das Parlament aufgelöst?
Es scheint, dass es zwischen der Bruderschaft und dem Militärrat eine Art Abkommen gab, von dem sich die Bruderschaft entfernte, indem sie einen eigenen Kandidaten in das Rennen um die Präsidentschaft schickte. Das könnte der Grund für die Auflösung des Parlaments durch den SCAF sein. Danach hat der Militärrat das Präsidentenamt jeder wirklichen Macht beraubt, um deutlich zu machen: »Wir haben das Sagen. Glaubt bloß nicht, dass ihr jemals wirklich an der Macht sein werdet.«
Es gibt momentan einen Interessenskonflikt zwischen dem Militärrat und der Bruderschaft. Es ist nicht klar, was genau passiert, aber offensichtlich ist, dass sie sich nicht mehr wie bislang das Bett teilen.
Vor 16 Monaten haben Millionen demonstriert, es gab einen Generalstreik und Mubarak wurde zum Rücktritt gezwungen. Nun werden wir Zeugen einer Konterrevolution des Militärs. Wie konnte das geschehen?
Die Strategie der Armee war sehr erfolgreich. Zuerst veranstalteten sie ein Referendum über klägliche Verfassungsänderungen, das am Ende bedeutungslos war, weil die meisten Änderungen, die vorgenommen wurden, gar nicht Teil des Referendums waren. Dann hatten wir Parlamentswahlen, wodurch die revolutionäre Welle gebrochen wurde. Vor diesen Parlamentswahlen befanden sich tausende Arbeiter im Streik. Während der Wahlen breitete sich eine bleierne Ruhe aus. Nach den Parlamentswahlen kamen die Präsidentschaftswahlen und da geschah genau das Gleiche.
Ein weiterer Faktor waren die Medien, die den Protestierenden vorwarfen, Chaos zu verbreiten. Sie machten die Demonstranten auf dem Tahrirplatz für alles verantwortlich: für die steigenden Benzinpreise, für das Warten auf die Gaslieferungen, und für die Warteschlangen vor den Bäckereien. Die Leute, die zu Hause sitzen statt auf die Straße zu gehen, denken »Oh Gott, wann hören diese Proteste endlich auf? Wann gibt es endlich wieder Stabilität?« Einige sagen sogar, dass sie lieber zurück zu der Situation unter Mubarak wollen.
Der Militärrat hat die Ägypter gegeneinander ausgespielt. Sie haben die Menschen auf der Straße zu Sündenböcken gemacht und die Kämpfe als einen Konflikt zwischen Islamisten und Säkularen dargestellt. Sie behaupten, dass die Islamisten unseren Lebensstil bedrohen, und dass Frauen nicht mehr ohne Kopftuch auf die Straße dürften, wenn sie an die Macht kämen. Bekannte von mir, die sehr für die Revolution sind, die in den 18 Tagen vor dem Sturz Mubaraks auf den Straßen waren, die Mubarak loswerden wollten, stimmen nun für Schafik, weil sie Angst vor den Muslimbrüdern haben und weil sie nicht verstehen, dass die Armee unser gemeinsamer größter Feind ist.
Dennoch wird man immer noch von Ausbrüchen plötzlichen Protests überrascht. Im November kamen Tausende zurück auf den Tahrir. Nachdem die Bereitschaftspolizei die Demonstranten angegriffen hatte, solidarisierten sich noch mehr Menschen und kehrten zurück auf die Straßen. Aber leider hat bisher keiner dieser Ausbrüche länger angedauert und sich verstetigt.
Nach den 18 Tagen bis zum Sturz Mubaraks dachten viele Ägypter, dass die Armee auf ihrer Seite ist. Gibt es solche Stimmen immer noch?
Nein, wenigstens mit diesem Mythos wurde aufgeräumt. Am 28. Januar glaubten die Leute, die Armee sei zu ihrem Schutz da und jubelten ihr zu. In Ägypten herrschte immer ein sehr romantisches Bild von der Armee als Beschützer und Retter des Volkes, der mit dem Regime nichts zu tun hat. Aber das Militär war das Rückgrat von Mubaraks Herrschaft. Ohne die Armee wäre er nie 30 Jahre an der Macht geblieben. Un nun verübt die Armee noch schlimmere Verbrechen als unter Mubarak.
Nachdem einer Frau die Kleider vom Leib gerissen und sie brutal zusammengeschlagen wurde, entstand eine Graswurzelgruppe mit dem Namen Lügner. Sie zeigten auf einer Leinwand eine Dokumentation von Gewalttaten und Folterungen durch die Armee und erklärten den Menschen: »Dies ist die Armee, die ihr verteidigt. Dies ist die Armee, von der ihr sagt, sie sei auf unserer Seite.«
Was ist der Zustand der Arbeiterbewegung in Ägypten?
Es gibt immer noch Proteste und Streiks, aber wegen der Fokussierung auf die Wahlen bekommt man nicht viel davon mit. Schon vor der Revolution gab es eine breite Bewegung für unabhängige Gewerkschaften. Als die Revolution an Fahrt gewann, wurden viele unabhängige Gewerkschaften gegründet.
Vor einiger Zeit gab es überall Streiks. Ich konnte einfach vor meine Haustür auf die Straße gehen und überall Arbeiter im Streik sehen, aber das ist stark zurückgegangen. Jetzt greift die Armee ein. Wenn in einer Fabrik die Arbeit niedergelegt wird, wird der Streik nicht mehr von der Polizei, sondern von der Armee niedergeschlagen.
Die Islamisten unterstützen keine Streiks, weil sie in ihren Herzen neoliberale Kapitalisten sind. Der Premierminister Essam Sharaf hat alle Streiks unter Androhung einer Strafe von 500.000 ägyptischen Pfund (etwa 60.000 Euro, d. Red.) oder einem Jahr Gefängnis verboten. Auch wenn dieses Gesetz anfänglich keine Auswirkungen hatte, ist das Streikniveau seitdem abgesunken.
Wie organisieren sich Sozialisten, die ohne das Geld oder die organisatorischen Möglichkeiten der Armee bzw. der Muslimbrüder dastehen?
Die Organisation, die ich unterstütze, sind die Revolutionären Sozialisten (RS), die unter Mubarak quasi im Geheimen arbeiteten und nicht öffentlich aktiv werden konnten. Seit der Revolution sind wir enorm gewachsen. Auf jeder Demonstration sieht man Aktivisten mit Fahnen der RS. Früher war das undenkbar. Sie haben sich geöffnet und bekommen Unterstützung, weil sie die grundlegenden Forderungen der Revolution vertreten.
Die Revolutionären Sozialisten organisieren ständig Treffen und Demonstrationen. Sie bekommen seit der Revolution immer mehr Unterstützung. Viele junge Leute waren vor der Revolution nie politisch aktiv, und wollen sich weder den Islamisten noch Vertretern des alten Regimes anschließen. Für diese Leute sind die RS eine attraktive Möglichkeit.
Seit den 18 Tagen vor Mubaraks Sturz sind die grundlegenden Forderungen die gleichen geblieben: Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit. Wir wollen das ganze Regime loswerden und nicht nur seine Marionetten. Wir müssen die Institutionen von unten nach oben säubern. Wir brauchen den Mindestlohn und auch eine Einkommensobergrenze. Das gesamte Innenministerium und die Polizei müssen reformiert werden. Der Militärrat und die Armee dürfen keinerlei Kontrolle über die Wirtschaft behalten.
Wie geht es für die Bewegung weiter?
Wir müssen die Menschen dort gewinnen, wo sie leben, wir müssen in die Arbeiterbezirke innerhalb und außerhalb Kairos. Die Revolution muss weitergehen. Wir müssen uns gegen die konterrevolutionäre Propaganda in den Medien stellen. Wir müssen auf den Straßen bleiben, dazu gibt es keine Alternative – und wir müssen uns besser organisieren, besonders unter den Arbeitern. Nichts ist wichtiger für die Revolution als Streiks und Proteste.
(Die Fragen stellten Phil Butland, Stefanie Fischbach und Paul Grasse)
Zur Person:
Nora Schalaby ist eine ägyptische Archäologin und Sozialistin. Sie promoviert zurzeit an der Freien Universität Berlin.
Mehr im Internet:
- Nora Schalaby auf Twitter folgen: @norashalaby
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