Millionen Ägypter fordern zum Jahrestag seiner Amtsübernahme ein Misstrauensvotum gegen Präsident Mursi. Anne Alexander über Ursprünge und Hintergründe der Kampagne »Tamarod«
Wie vieles andere, was den Gang der Geschichte geändert hat, begann auch die Kampagne »Tamarod« (deutsch: Rebellion) in Ägypten mit einer schlichten Idee. Anfang Mai startete eine Gruppe junger revolutionärer Aktivisten eine Unterschriftenkampagne für ein Misstrauensvotum gegen Präsident Mohammed Mursi und für vorgezogene Neuwahlen. Sie setzten sich das Ziel, bis 30. Juni, dem Jahrestag von Mursis Amtseid, mehr als 15 Millionen Unterschriften zu sammeln.
Gründe für eine gewisse Skepsis gab es genug. Die Initiatoren besaßen schließlich keine Organisationsstrukturen, um ihre Forderungen in harte Währung umzusetzen, nicht einmal eine gemeinsame politische Plattform konnten sie ihr eigen nennen. Die Kampagne breitete sich dennoch in Windeseile aus, am Ende der ersten Woche hatte sie schon ihre ersten zwei Millionen Unterschriften unter Dach und Fach, Anfang Juni waren es dann 7,5 Millionen und mittlerweile sind es 20 Millionen.
Sammeln auf der Straße
»Tamarod« war keine digitale Revolution, die man etwa an der Anzahl der »Likes« auf Facebook oder Twitter-Anhänger gemessen hätte. Es sind Unterschriften auf ganz realem Papier mitsamt Perso-Identitätsnummer, die für alle Ägypter Pflicht ist. Die Sammelaktion prägte bald das Straßenbild in den ärmeren Gegenden der Innenstadt Kairos: Autofahrer an Straßenkreuzungen ansprechen, sich unter die Menschen bei religiösen Feierlichkeiten und anlässlich von Arbeiterprotesten begeben, das war die Vorgehensweise. Diejenigen, die nicht unterschreiben konnten, gaben stattdessen einen Fingerabdruck ab.
Aus der »Rebellion« war schnell mehr als eine einfache Petition geworden. Der Journalist Mustafa Bassiouny meinte: »Tamarod gibt der gegenwärtigen Phase der ägyptischen Revolution einen Namen.« Politische Aktivitäten im ganzen Land drehten sich um die Vorbereitungen zum 30. Juni – trotz der verzweifelten Ablenkungsmanöver der herrschenden Muslimbruderschaft mit radikaler Rhetorik im Streit mit Äthiopien über die Nilgewässer und ihres vorgegebenen Eifers für die syrische Revolution. Die Organisatoren von »Tamarod« verkündeten eine Protestwoche mit Demonstrationen zum Präsidentenpalast – und die Muslimbruderschaft und ihre islamistischen Verbündeten riefen zu Gegendemonstrationen zur Unterstützung ihres bedrängten Präsidenten auf.
Krise der islamistischen Bewegung
Der überraschende Erfolg von »Tamarod«, den Straßen neues Leben einzuhauchen, muss im Kontext gesehen werden. Die zwanzigmillionenfach erhobene Forderung nach vorzeitigen Neuwahlen nicht einmal ein Jahr nach Amtsübernahme durch den ersten demokratisch gewählten Präsidenten in der gesamten Geschichte des Landes ist ein Indikator für die Krise, in der sich die islamistische Bewegung befindet.
Die Geschwindigkeit, mit der die Muslimbruderschaft ihren über viele Jahre geduldiger Arbeit unter dem alten Regime Mubaraks – einschließlich Jahre des Kerkerdaseins und der Folter für einige ihrer Führer – aufgebauten Vertrauensvorschuss verloren hat, ist erstaunlich. Die Unterschriftenkampagne war natürlich nicht das erste Anzeichen. Hunderttausende strömten bereits im Dezember 2012 auf die Straßen, um gegen Mursis Verfassungsänderungsvorschläge zu protestieren. Bei einer landesweiten Volksabstimmung stimmte eine Mehrheit dann doch dafür, aber in der Hauptstadt Kairo fielen sie durch.
Hoffnung auf soziale Gerechtigkeit
Der eigentliche Grund für die Tiefe der Krise der Islamisten ist einer, den »Tamarod« allerdings nicht erwähnt. Denn es sind nicht bloß die gebrochenen Demokratieversprechen, die die wiederholten Massenmobilisierungen anspornen, sondern die enttäuschten Hoffnungen auf soziale Veränderung. Genauer, es ist die Kombination einer sich vertiefenden wirtschaftlichen und sozialen Krise, gesteigerter Hoffnungen, dass die Revolution für die Armen Ägyptens endlich soziale Gerechtigkeit bringen wird, und drittens und vor allen Dingen der andauernden und umfassenden Mobilisierung dieser Armen mit in ihrem Zentrum die organisierte Arbeiterklasse.
Laut Statistiken des International Development Centre machten Arbeiterproteste ein Drittel der 864 gezählten Proteste im Januar 2013 aus. Im März stieg diese Zahl auf 1345 Proteste, darunter 334 Arbeiterproteste, im April waren es 1462, einschließlich 462 von Arbeitern. Das im Vergleich zu 4000 Streiks und Protesten für das gesamte Jahr 2012. Auch der Zeitpunkt ist wichtig. Gerade, als revolutionäre Aktivisten mit ihrer ausschließlichen Orientierung auf die Bewegung auf den Straßen entmutigt und richtungslos wurden, nahmen die Mobilisierungen in den Betrieben und in den Armenvierteln neuen Auftrieb.
Versäumnisse der Liberalen
Der Erfolg von »Tamarod« ist nicht nur Gradmesser für die Krise der Muslimbruderschaft, er ist auch ein Zeichen für die Schwäche der etablierten säkularen Gegner. Liberale und nasseristische Persönlichkeiten wie Mohamed el-Baradei und Hamdeen Sabahi ritten noch im Dezember auf der Welle der Proteste gegen die geplante Verfassung. Aber sie versäumten es, eine Massenbewegung gegen die Bruderschaft aufzubauen, die die sozialen und politischen Klagen der Bevölkerung vereint hätte, und konzentrierten sich stattdessen auf das Schmieden von Bündnissen mit Repräsentanten des alten Regimes wie Amr Moussa.
Sabahi machte der Bruderschaft gelegentlich immerhin gelegentlich den rhetorischen Vorwurf der restlosen Kapitulation vor dem Neoliberalismus und führte auch Kampagnen gegen die Forderungen des IWF nach massiven Kürzungen der Subventionen für Lebensmittel und Energie. Aber damit blieb er weit unter seinem eigenen Potenzial noch vom letzten Jahr während der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen, als er etwa fünf Millionen Stimmen auf sich vereinigte für eine klare Alternative zum Neoliberalismus. Nicht einmal von oben waren die Liberalen und Nasseristen fähig, der Bewegung auf der Straße Führung anzubieten. Es bedurfte der Initiative von unten – von einer Gruppe junger revolutionärer Aktivisten außerhalb der Führung der etablierten Parteien -, um die Proteste gegen Mursi zu neuem Leben zu erwecken.
Chancen und Gefahren der Revolution
Das zentrale Problem für die Islamisten wie für ihre Gegner ist folgendes: Die Kerninstitutionen von Mubaraks Staatsapparat bleiben erhalten und sie sehen keine Alternative, als mit ihnen zu paktieren. Manche dieser Institutionen wie der Justizapparat sind zugegebenermaßen durch die internen Streitereien zwischen der Bruderschaft und den Anhängern des alten Regimes teilweise gelähmt. Der Bruderschaft ist es auch in jüngster Zeit gelungen, neue Posten für ihre Günstlinge beispielsweise als Provinzgouverneure mit all ihrer Machtfülle zu schaffen.
Aber Tatsache ist – wie es eine Wandmalerei in der Mohammed-Mahmoud-Straße unverblümt zum Ausdruck bringt: »Das Innenministerium ist genauso wie es war.« Das Gleiche gilt für die Führung der Streitkräfte: Nach ihrem Rückzug von anderthalb Jahren direkter Herrschaft, um ihre Wunden zu lecken, verbleibt sie in der zweiten Reihe hinter den alten Waffenkameraden Mubaraks.
»Tamarods« stürmische Geburt ist daher eine große Hoffnung, die allerdings mit großen Gefahren behaftet ist. Sie beweist die fortdauernde Vitalität der Revolution von unten und die Schwäche der reformistischen Politiker – ob Islamisten oder Säkularen -, die davon zu profitieren hoffen. Sie wirft aber auch ein Schlaglicht auf die drohende Gefahr – wenn es der Revolution nicht gelingt, eine Bewegung hervorzubringen, die es vermag, die Energien der vielen sozialen und politischen Kämpfe der letzten beiden Jahre in ein effektives Instrument zu verwandeln, das den alten Staatsapparat stürzen kann -, dass dann Mubaraks Generälen womöglich das letzte Lachen vorbehalten sein wird.
(Aus dem Englischen von David Paenson)
- Solidaritätserklärung von Christine Buchholz MdB (auch in Englisch und Arabisch)