Der Krieg gegen Gaza hat Israel international geschadet, die Autonomiebehörde von Abbas geschwächt, aber Hamas‘ und Ägyptens Position gestärkt. Jetzt kommt es darauf an, den Druck auf die Beendigung der Gaza-Blockade zu richten. Von Paul Grasse und Lucia Schnell
Die Menschen im Gazastreifen feiern die Waffenruhe. Denn das Abkommen zwischen Israel und der Hamas sieht zunächst einen Stopp aller Angriffe vor, gefolgt von Verhandlungen über einen dauerhaften Waffenstillstand. Auch soll der Grenzübergang Rafah zwischen Ägypten und dem Gazastreifen wieder geöffnet werden. Gaza steht seit Jahren unter israelischer Blockade und die Öffnung von Rafah war eines der Wahlversprechen der in Ägypten regierenden Muslimbruderschaft.
Die breite internationale Solidarität mit den Palästinensern im Gazastreifen und die Kräfteverschiebung durch die arabische Revolution hat die Waffenruhe zwischen Israel und der Hamas ermöglicht. Die ganze Welt hat die Zerstörung des Gazastreifens verfolgt. Die israelische Armee tötete fast 170 Palästinenserinnen und Palästinenser, darunter viele Frauen und Kinder, und verletzte 1000. Das drohte zu einem Gesichtsverlust für Israels Premierminister Benjamin Netanjahu zu werden, der für eine Bodenoffensive mobil machte und weiterhin behauptete, Israel würde sich lediglich verteidigen.
Israel hat sich nicht verteidigt, sondern angegriffen
Doch es war kein Krieg von gleichen Parteien, sondern eher ein Überfall von Israel als hochgerüstetem Staat auf die eingeschlossene, von UN-Hilfslieferungen abhängige Bevölkerung des extrem dicht besiedelten Gazastreifens. Zum Auftakt ermordete die israelische Armee den Militärchef der Hamas Ahmed Dschabari, der dabei war, mit Israel einen Waffenstillstand auszuhandeln. Das sagt der Unterhändler Gershon Baskin, der im Auftrag Israels mit Dschabari verhandelt hatte. Der Vertrag steht mittlerweile im Netz. Dschabari war schon während der Verhandlungen um die Freilassung Gilad Shalits Verhandlungsführer auf palästinensischer Seite.
Innerhalb der Hamas vertrat Dschabari in letzter Zeit eine Position, die weniger auf Konfrontation mit Israel zielte, so ein Kommentar der Tagesschau. Seine Al-Kassam-Brigaden – der militärische Arm der Hamas – konnten garantieren, dass auch andere Organisationen und militante Splittergruppen sich an den Waffenstillstand halten. Der israelische Anschlag auf Dschabari zielte darauf ab, jede Perspektive auf einen Waffenstillstand zu zerstören. In der Folge töteten palästinensische Raketen aus Gaza sechs Israelis.
Arabische Revolution stärkt Palästinenser
US-Außenministerin Hillary Clinton hat Netanjahu zur Waffenruhe gedrängt, weil die US-Regierung angesichts der israelischen Bodenoffensive eine Destabilisierung ihrer verbündeten Regime durch Massenproteste in der Region fürchtete.
In Ägypten forderten Demonstranten von Präsident Mursi die Öffnung des Grenzübergangs nach Gaza. 500 ägyptische Linke waren Teil einer Solidaritätsdelegation, die über Rafah einreiste. Die Regierung Mursi konnte es sich nicht leisten, sie nicht nach Gaza passieren zu lassen. In Jordanien protestierten Hunderttausende in Solidarität mit Gaza und für den Sturz des vom Westen gestützten Königs Abdullah, bei der Niederschlagung von Protesten wurde mindestens ein Mensch getötet.
Israels Regierung gespalten
Auch im Westjordanland gingen Jugendliche, unter ihnen Anhänger der regierenden Fatah, gegen die Angriffe Israels und für Gaza auf die Straße. Die Proteste weiteten sich schnell aus. Mehrere Demonstranten wurden durch israelische Soldaten getötet. Das schwächte Abbas‘ Politik der Zugeständnisse an Israel noch weiter, während die Hamas sowohl unter den Palästinensern, als auch regional gestärkt aus dem Konflikt hervorgeht. Noch 2011 scheiterte der Versuch einer Einigung von oben zwischen Hamas und Fatah trotz des Versprechens, Milliarden von den arabischen Staaten zu bekommen. Die Proteste und der Widerstand gegen die israelischen Angriffe vereinigten nun die Palästinenser auf der Straße von unten.
Angesichts der Aussicht auf einen politischen Misserfolg war auch in der israelischen Regierung die von Netanjahu geplante Bodenoffensive umstritten. Die Tagesschau vom 22. November meldete: »Die Spaltung geht offenbar mitten durch die Regierung. Außenminister Avigdor Lieberman war für die Bodenoffensive, Verteidigungsminister Ehud Barak für den Waffenstillstand. Und Regierungschef Benjamin Netanjahu war irgendwo dazwischen, bis ihn US-Präsident Barack Obama überzeugt hatte, der Feuerpause zuzustimmen.« Innenpolitisch sollte der Angriff die Achse zwischen Netanyahu und dem Rechtsradikalen Liebermann in Vorbereitung auf die Wahlen stärken.
Kriegsgefahr besteht weiter
Obama hat Israel zugesichert, die Waffenruhe zu nutzen, »um die Sicherheit Israels zu stärken und den Waffenschmuggel nach Gaza zu unterbinden«, wie die FAZ vom 22. November schreibt. Netanjahu behält sich eine Bodenoffensive in der Zukunft vor. Finanzielle Zusagen von Obama an den ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi sollen das ägyptische Militär dazu bewegen, den Schmuggel durch den Sinai nach Gaza zu beenden. Im Klartext heißt das: Israel wird für den nächsten Krieg aufgerüstet, während Waffenlieferungen nach Gaza unterbunden werden sollen.
Israel verlangt außerdem, dass die Hamas und die ägyptische Regierung diese Waffenruhe auch gegenüber allen anderen Parteien im Gaza durchsetzen: »Vom Feind, der gestürzt werden muss, ist die Hamas zum Feind geworden, der das kleinere Übel ist«, zitiert Spiegel online den israelischen Journalisten Alex Fischman. Obwohl es nach wie vor offizielle Position des jüdischen Staates sei, die Hamas nicht als Gesprächs- oder Verhandlungspartner anzuerkennen, mache sich Israel die Hamas jetzt zunutze, indem es sie damit beauftragt habe, die noch radikaleren Gruppen im Gaza-Streifen in Schach zu halten. Vor 20 Jahren war das genau das Ergebnis der Verträge von Oslo – nur dass es damals die Fatah betraf. Dieses vermeintliche Ankommen auf der internationalen Bühne brachte die Fatah in große Schwierigkeiten.
Die israelische Bevölkerung glaubt nicht, dass der Waffenstillstand von Dauer ist. 88 Prozent sind überzeugt, dass er allenfalls für kurze Zeit hält. Und 70 Prozent halten Israels Zustimmung zu dem Abkommen sogar für falsch, ergab eine Umfrage des israelischen Fernsehsenders Kanal 2. Israel hat in der Vergangenheit mehrfach Waffenstillstandsabkommen mit der Hamas gebrochen – so im Dezember 2008, als Israel den letzten Gaza-Krieg begann.
Blockade muss beendet werden
Der Krieg hat den blockierten Gazastreifen erneut ins Zentrum der Weltöffentlichkeit gerückt. Das kann auch eine Chance sein, das Ende der Blockade wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Schon nachdem Israel im Mai 2010 Schiffe der internationalen Gaza-Solidaritätsflottille beschoss und neun türkische Aktivisten tötete, gab es weltweite Solidaritätsdemonstrationen. Sogar die EU forderte in den Schlussfolgerungen des Rates für Auswärtige Angelegenheiten vom 14. Juni 2010, »die unmittelbare, bedingungslose und dauerhafte Öffnung von Zugängen zu Gaza für den Verkehr von humanitärer Hilfe, kommerziellen Gütern und Personen nach und aus Gaza.«
Alle fünf Parteien im Deutschen Bundestag stimmten in einem Antrag dafür, »die Forderung der Europäischen Union nach einer sofortigen Aufhebung der Gaza-Blockade mit Nachdruck zu unterstützen«. Natürlich beinhaltete der Antrag auch vielfache Verpflichtungen für die angeblich gefährdete Sicherheit Israels und den Verdacht, dass die Organisatoren der Flotte mit islamistischen Organisationen in Kontakt gestanden hätten. Anschließend, als der Aufruhr sich gelegt hatte, startete die bürgerliche Presse gemeinsam mit einem Großteil der im Bundestag vertretenen Parteien eine erbarmungslose Hetzkampagne gegen die Gaza-Flotte und ihre Teilnehmer, aber dennoch: der Beschluss war das höchste Maß an Kritik, das sich der Bundestag jemals gegenüber Israel geleistet hatte.
Deutsche Waffenlieferungen
Seit dem Beschluss des Bundestags hat die Regierung nichts für eine Ende der Gaza-Blockade unternommen. Sie liefert immer noch Waffen nach Israel. Drei weitere U- Boote der Dolphin-II-Klasse, die auch mit atomwaffenfähigen Marschflugkörpern bestückt werden können und tausende Seemeilen unerkannt unter Wasser fahren können, will die Bundesregierung an Israel liefern. Während der Bombardierung von Gaza flog der deutsche Außenminister Guido Westerwelle demonstrativ nach Jerusalem und sicherte Israel weitere deutsche Unterstützung zu. Bei Treffen mit Staatspräsident Schimon Peres und Regierungschef Benjamin Netanjahu sagte Westerwelle: »Wir stehen an der Seite unserer Freunde in Israel. Israel hat das Recht, sich selbst und seine Bevölkerung zu verteidigen.«
Die Bundesregierung versucht, den Waffenstillstand auch als Verhandlungserfolg Westerwelles zu verkaufen. Aber die Bundesregierung ist klar parteiisch und deshalb als Unterhändler vollkommen untauglich gewesen. Das unterstreichen Blogger aus Haifa treffend: »Zum ersten Mal waren die Palästinenser nicht auf sich gestellt. Die Welle nach Gaza reisender arabischer Würdenträger machte das deutlich. Israel dagegen musste sich mit dem deutschen Außenminister Guido Westerwelle bescheiden (..), der kam, um Israel in seiner einseitigen Kampagne zu bestärken, die für alle Ewigkeit das Recht Israels unterstreichen soll, politische Aktivisten zu ermorden sowie Bauern und Fischer zu beschießen. Obama hat nicht einmal seine Reise nach Ostasien unterbrechen wollen und Hillary Clinton kam erst, als es Zeit war, den Israelis zu sagen, dass es reicht.«
Erschossen trotz Waffenruhe
Ob Israel also wirklich die Blockade lockert, hängt davon ab, wie stark der Druck auf Israel ist. Die palästinensischen Fischer dürfen nun 3 Meilen weiter auf das Meer rausfahren als vorher. Die Grenzübergänge nach Israel bleiben weiter geschlossen. Auch in den letzten Tagen sind mehrere Palästinenser in Gaza von israelischen Soldaten erschossen und Dutzende verletzt worden – trotz Waffenruhe.
Die Hamas zeigt sich unbeeindruckt und erklärt, palästinensische Verstöße gegen die Waffenruhe seien »Sünde«. Sie hat in den letzten Jahren ein umfassendes Regime in Gaza etabliert. Keine ihrer Aktivitäten konnte eine Perspektive auf Befreiung oder auch nur ein Ende der Blockade bieten. Nicht einmal die Öffnung Rafahs konnte sie gegenüber ihrer Schwesternpartei – den ägyptischen Muslimbrüdern – durchsetzen.
Dafür unterdrückt sie Proteste, und zwar nicht nur den bewaffneten Widerstand kleinerer Splittergruppen, sondern auch Demonstrationen auf der Straße. Aktivisten trauen sich nicht, ihre Namen öffentlich zu machen und die Todesstrafe wird in Gaza vollzogen. Je länger der Status Quo in Gaza anhält, umso korrupter wird auch der Hamas-Apparat werden. Für ein wirkliches Ende der Blockade ist internationale Solidarität gefragt.
Mehr auf marx21.de:
- Warum Israel Krieg führt: Israels Armee verschärft die Angriffe auf den Gazastreifen. Offizieller Auslöser für diesen Krieg war wie immer der Raketenbeschuss durch die islamische Hamas und die ihr nahestehenden Kassam-Brigaden. Doch das sind nicht die einzigen Gründe für die israelische Regierung, meint Jules Jamal El-Khatib
- »Wir alle haben die rote Linie überquert«: Israelische Soldaten berichten über ihren Einsatz in den besetzten Gebieten. Ihr Buch ist jetzt auf Deutsch erschienen. Paul Grasse hat eine Ausstellung mit ihren Bildern besucht
- Der Weg zum Frieden in Nahost: Kaum eine Frage ist in der Linken so umstritten wie die Haltung zum Nahostkonflikt. Dazu ein Diskussionsbeitrag von Mitgliedern des Koordinierungskreises des marx21-Netzwerks