Die norwegische Bevölkerung steht unter Schock, ist aber entschlossen, die multikulturelle Gesellschaft zu verteidigen, schreibt Thomas Kvilhaug aus Oslo
Das Attentat von Anders Behring Breivik war ein Angriff auf die norwegische Arbeiterbewegung, auf soziale Gerechtigkeit, Antirassismus, Toleranz und internationale Solidarität. Norwegen ist ein kleines Land, so viele Menschen kennen jemanden, der bei dem grausamen Massaker getötet oder verletzt wurde. Wir sind alle überwältigt von Leid und Trauer. Das Hauptziel des Terrors waren die norwegischen Jungsozialisten (Arbeidernes Ungdomsfylking, AUF) auf der Insel Utøya. Die AUF ist die größte politische Jugendbewegung und das seit Jahrzehnten. Gerade vor dem Massaker hatte es eine Gedenkfeier für die AUF-Mitglieder gegeben, die im Spanischen Bürgerkrieg in den 1930igern umkamen.
Die erste Reaktion auf den Angriff vergangene Woche war ein »Blumenmarsch« am Montagabend »gegen Terror«. Mindestens 200.000 Menschen nahmen daran teil, und Oslo hat gerade einmal 605.000 Einwohner. Die Menschen trugen Blumen bei sich. Der Platz vor dem Rathaus und die umgebenden Straßen waren so voll, dass es nicht möglich war, eine Demonstration abzuhalten. Das war die Versammlung des wahren, multikulturellen Oslo: Menschen aller Hautfarben, Nationalitäten und Religionen.
Wir haben alle das alte Antikriegslied »An die Jugend« des sozialistischen Dichters Nordahl Grieg gesungen. Darin wird zu internationaler Einheit gegen Hunger und Ungerechtigkeit aufgerufen.Ministerpräsident Jens Stoltenberg sprach zu der Menge und rief zu »Toleranz in einer offenen Gesellschaft« auf. Der Chef der AUF, Eskil Pedersen, sagte: »Die sich auf Utøya versammelt hatten, traten für Gerechtigkeit, Gleichheit und gegen Rassismus ein.« Er ergänzte, dass es für jeden wichtig sei, diesen Kampf fortzusetzen. Der Trauermarsch war die beste unmittelbare Antwort auf den Angriff, aber nach der Trauer kommt die Wut. Der terroristische Angriff von Anders Behring Breivik entstand aus einem tiefsitzenden Hass auf Sozialisten und auf die Arbeiterbewegung. Wir werden unsere multikulturelle Gesellschaft aktiv verteidigen und Rassismus aktiv entgegentreten müssen. Die sozialdemokratische Arbeiterpartei ist seit dem Jahr 2005 in der Regierung. Sie steht einer »rot-grünen« Koalition mit der Sozialistischen Linkspartei und der Zentrumspartei der Bauern vor. Breivik beschuldigte die Sozialdemokraten, »zu nett« mit Einwanderern und Minderheiten umzugehen. Tatsächlich aber haben die sozialdemokratischen Regierungspolitiker bei den allgemeinen Angriffen auf Asylsuchende und die Flüchtlingsrechte mitgemacht.
Die AUF ist radikaler als ihre Mutterpartei, ihre Mitglieder äußern häufig Kritik an der Führung und beteiligen sich an Protesten gegen Entscheidungen der Regierung. Sie sind Genossen im Kampf gegen Faschismus und organisierten Rassismus und bei den Protesten gegen die Unterdrückung von Flüchtlingen und den Krieg in Afghanistan, den die Regierung unterstützt hat. Das jährliche Sommerlager der AUF auf Utøya findet jetzt seit über 50 Jahren statt. Niemand hätte sich je solch einen Angriff darauf vorstellen können.
Der Killer Breivik war bis zum Jahr 2007 Mitglied des populistischen rechten Flügels der Fortschrittspartei. Er verließ sie, weil er der Partei »Feigheit« vorwarf. Vermutlich war ihm das Vorgehen der Partei gegen Einwanderer und die mulitkulturelle Gesellschaft zu weich. Die Fortschrittspartei ist die zweitgrößte Partei im norwegischen Parlament. Sie war die Hauptquelle von Intoleranz, Rassismus und der Propaganda gegen Asylsuchende und Muslime. Sie ist keine faschistische Partei, hat aber rassistische Elemente angezogen. Ihre Führung hat Extremisten rausgeworfen, wenn sie es für »notwendig« hielt. Vor dem Angriff zog sie bis zu 25 Prozent der Wählerstimmen auf sich. In der Vergangenheit hat Breivik seine große Abneigung gegen den »Kulturmarxismus«, Multikulturalismus und den Islam auf rechten Internetforen formuliert. Er wuchs bei seiner Mutter im eher wohlhabenderen Westen Oslos auf. Er behauptet, er habe in seiner Kindheit Einwanderer als Freunde gehabt, sagt aber jetzt, das sei ein »Fehler« gewesen. Er sagt, das sei Ergebnis einer Art sozialer Verschwörung der »Kulturmarxisten« gewesen. Er bewundert die mittelalterlichen Tempelritter und die Kreuzzüge.
Er hat sich von der islamophoben britschen English Defense League (EDL, Liga zur Verteidigung Englands – Eine Analyse dazu gibt es hier) anregen lassen, allerdings fordert er sie zu spektakuläreren Aktionen auf. Er scheint seinen Gewaltangriff seit einigen Jahren vorbereitet zu haben. Breiviks Verbindungen zu rechtsradikalen Bewegungen im Ausland und in Norwegen sind noch nicht völlig geklärt. Laut Angaben von Mitgliedern der EDL hat Breivik sich im vergangenen Jahr während des Besuchs des niederländischen Rechtsradikalen Geert Wilders in England mit etlichen führenden EDL-Mitgliedern getroffen. Sie behaupten auch, das Breivik auf ihrer Website sehr aktiv war.
In Norwegen sind Rassisten und Faschisten durch eine Reihe von Massenprotesten und kämpferischen Massenaktionenen seit den 1980er Jahren zurückgedrängt worden. Im Jahr 2001 demonstrierten 60.000 Menschen durch Oslo, nachdem die Nazis einen fünfzehn Jahre alten Schwarzen ermordet hatten. In diesem Jahr haben Antifaschisten schon zwei Moblilisierungsversuche der Liga zur Verteidigung Norwegens (Norskforsvarsallianse) verhindert. Im April haben wir gemeinsam mit der AUF 1.500 Leute auf die Beine gebracht – und die Rassisten gerade neun.
Gewerkschafter, Sozialisten und andere Aktivisten haben sich nach den Anschlägen getroffen, um eine Demonstration für die Zeit nach den Beerdigungen und der Trauer zu organisieren. Gewerkschafter und Linke begreifen den Angriff als politisch motiviert. Am Montag hat die Transportarbeitergewerkschaft in Oslo die geplante Demonstration diskutiert und wird sie voraussichtlich sich zur Unterstützung entschieden. Der Osloer Gewerkschaftsbund LO (vergleichbar dem DGB) wird sich voraussichtlich ebenfalls daran beteiligen. Wir hoffen, dass der norwegische Vorstand der LO sie zu einer offiziellen Initiative macht. Wir gehen selbstverständlich davon aus, dass die Jungsozialisten (AUF) im Mittelpunkt einer solchen Demonstration sein werden. Natürlich müssen sie jetzt großes Leid verkraften, aber sie haben deutlich erklärt, dass sie ihre politischen Aktivitäten zu Ehren der Opfer fortsetzen werden. Wir wünschen uns eine Demonstration in Solidarität mit der AUF, aber auch für eine multikulturelle Gesellschaft, für Toleranz und Einheit gegen Rassismus.
Zum Text: Der Text erschien zuerst in der Zeitschrift Socialist Worker. Übersetzung ins Deutsche von Rosemarie Nünning
Über den Autor: Thomas Kvilhaug ist aktiv bei den Internationalen Sozialisten in Norwegen