Unpolitisch ist out – ziviler Ungehorsam ist in. Schlussfolgerungen aus den Castor-Protesten 2010. Von Inge Höger und Carsten Albrecht
Die Castor-Proteste Anfang November im Wendland haben gezeigt, was die Demonstrationen gegen Stuttgart 21 bereits angedeutet haben: Die Rede von der unpolitischen Jugend gehört der Vergangenheit an. Bereits an der Auftaktkundgebung am 6. November waren unter den 50.000 Menschen, die laut nein zur Atomkraft gesagt haben, auch zahlreiche Teenager. Sie sind Teil einer neuen, jungen Protestkultur.
Neue Protestkultur
Liedermacher – auch jene, die den Anti-Castor-Protest ausdrücklich unterstützen – traten im Rahmenprogramm nicht auf. Auch Punkrock spielte eine untergeordnete Rolle, was die Autorin und der Autor dieser Zeilen sehr bedauern… Stattdessen spielten Musiker wie »Rainer von vielen«, der mit seinem Hip-Hop-Schlachtruf »Tanz deine Revolution« bereits den Ton für die Proteste gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm 2008 vorgegeben hat. Tanz deine Revolution – das war nicht bloß eine leere Worthülse. Dieselben Jugendlichen, die die Kundgebung in Diskostimmung versetzt haben, leisteten in den Folgetagen entschiedenen Widerstand gegen den Castor-Transport. Auch die 20stündige Gleisblockade bei Harlingen (westlich von Hitzacker), die von ca. 5000 Menschen getragen wurde, glich einer riesigen Party. Spaß haben und politische Aktivität schließen sich nicht aus – im Wendland bedingten sie sogar einander.
Anders als auf herkömmlichen Demonstrationen konnten die Aktiven im Wendland einen messbaren Erfolg verbuchen: Noch nie in der Geschichte der Castor-Transporte konnte dieses »Tschernobyl auf Rädern« (Greenpeace-Chef Kumi Naidoo) so lange aufgehalten werden. Ähnlich wie in Stuttgart sah sich die Polizei sogar gezwungen, den Demonstrierenden einen Runden Tisch anzubieten. Blockaden kann man nicht einfach ignorieren.
Nach den Protesten fand im Bundestag eine Aktuelle Stunde zum Castor-Thema statt. Auch wenn dadurch Schwarz-Gelb nicht die Verlängerung der Laufzeiten für Atomkraftwerke zurücknimmt – Schottern und Blockieren sind zum echten Problem für die Bundesregierung geworden.
Die erfolgreichen Proteste sind auf eine neue Strategie linker Atomkritikerer zurückzuführen. Das besondere an »Castor 2010« war die feste Entschlossenheit der Aktivisten, aber auch ihre eindeutig friedliche Haltung. Unter den Teilnehmenden der Aktion »Castor? Schottern!« war es Konsens, dass man es auf das Gleisbett und eben nicht auf die PolizistInnen abgesehen habe. Daran hat sich die übergroße Mehrheit der Aktivisten gehalten. Die Polizei hat sie weder beeindrucken noch provozieren können. Dies hat bei den Ordnungshütern für gewisse Irritationen gesorgt. Denn sobald ein Polizist auf eine schotternde Person zulief und mit dem Schlagstock drohte, hoben die Aktivisten die Hände und riefen »Wir sind friedlich! Was seid ihr?«
Die Atomkraftgegner boten der Polizei kaum die Gelegenheit, mit Gewalt auf ihre Aktionen zu Antworten. Allerdings ging mancherorts Gewalt von den Menschen in Uniform aus. Als am frühen Morgen des 7. November Aktivisten aus dem Camp Köhlingen in Richtung Schienen aufbrachen, hat die Polizei einige hundert von ihnen im Wald angegriffen, geschlagen und mit Pfefferspray verletzt. Dass es dennoch vielen gelungen ist, an die Gleise zu gelangen und auf 150 Meter Schienenstrecke den Schotter aus dem Gleisbett zu entfernen, zeugt erneut von der hohen Motivation der Aktiven. Ähnlich entschlossen waren die Tausenden, die bei Harlingen bei Minusgraden auf den Gleisen übernachteten.
Diese Beharrlichkeit verdient Respekt. Ihnen »gebührt der Dank des ganzen Landes«, sagt Gregor Gysi. Angemessen und verhältnismäßig ist diese Entschlossenheit allemal. Es geht um nicht weniger als um die Gesundheit der kommenden Generationen, die durch die schwarz-gelbe Atompolitik in Gefahr ist. Noch bis mindestens 2035 dürfen Vattenfall & Co. weiteren Atommüll herstellen. Pläne für eine Endlagerung gibt es nicht.
Das besondere an den Aktionen im Wendland war – ähnlich wie bei Stuttgart 21 – ihr Erfolg. Oskar Lafontaine weist zurecht darauf hin, dass es ein Fehler ist, »unter Protest nur zu verstehen, das man sich versammelt, eine Rede hält, dann gehen alle Bier trinken und anschließend nach Hause. So zerstört man die Protestkultur […]. Wir brauchen die Erfahrung, dass Proteste auch etwas in Bewegung setzen «
Die Generation derer, die jetzt 18 Jahre alt sind, ist genervt von der Ignoranz der Herrschenden. Diejenigen, die den politischen Aktionen im Wendland und in Stuttgart teilgenommen haben, werden die dort gemachten Erfahrungen nicht so schnell vergessen: Einerseits das Wissen darum, dass man durch entschlossenes Engagement etwas erreichen kann. Andererseits aber auch die brutale Repression durch die Polizei, die nicht als Freund und Helfer auftritt, sondern als gewaltbereiter Verteidiger der Interessen von vier großen Energieunternehmen. Menschen, die derartiges am eigenen Leibe erfahren, können nicht einfach wieder in ihren Alltag zurück als sei nichts gewesen. Diese Generation lässt sich die Bevormundung durch die obersten Zehntausend nicht länger bieten. Sie nimmt die hohlen Phrasen von Demokratie ernst und zieht Konsequenzen daraus.
Die BewohnerInnen des Wendlands spielen hier eine Vorreiterrolle, denn ihnen sind die Gefahren von Atomenergie und das Fehlen von Demokratie schon seit 30 Jahren bewusst. Diese atom- und herrschaftskritische Haltung zieht sich im Wendland durch sämtliche soziale Milieus und durch alle politischen Parteien. Für die Grünen auf Bundesebene haben sie ebenso wenig übrig wie für Schwarz-Gelb. Dementsprechend wurden Claudia Roth & Co. immer wieder daran erinnert, dass das schwarz-gelbe Energiekonzept nur möglich wurde, weil der rot-grüne Atomkompromiss so zaghaft war. Auch Jürgen Trittins Aufforderung von 2001, nicht mehr gegen Castor-Transporte zu demonstrieren, hat im Wendland keiner vergessen.
Konsequente Opposition
Die Partei DIE LINKE genießt im Moment noch ein relativ hohes Ansehen im Wendland. Sie trägt keine Verantwortung für die bundesdeutschen AKWs. Acht ihrer Bundestagsabgeordneten haben den Aufruf zum Schottern des Gleisbetts unterzeichnet. Einige von ihnen haben die Aktionen auch durch ihre Anwesenheit unterstützt. Wenn die Partei diesen Bonus nicht verspielen will, muss sie sich in Zukunft hörbarer gegen Atomenergie einsetzten. Das ist bei der aktuellen Medienkampagne, die die Grünen als Oppositionspartei in den Himmel schreibt, keine leichte Aufgabe.
Wenn DIE LINKE weiterhin ein glaubwürdiger Ansprechpartner für die Anti-Atom-Bewegung bleiben will, darf sie sich 2013 nicht an einer Bundesregierung beteiligen, die falsche Kompromisse mit der Atomindustrie eingeht. Die Castor-Proteste zeigen: Eine konsequente linke Oppositionspartei kann etwas bewegen.
Mehr ziviler Ungehorsam
Das Wendland ist nicht die einzige Region Deutschlands, in der sich die BewohnerInnen einig sind in ihrer Ablehnung der herrschenden Politik. In der Kyritz-Ruppiner Heide (Nordbrandenburg) gelang es den AnwohnerInnen, Druck zu machen, gegen den dortigen Bombenabwurfplatz der Bundeswehr. Im Juli 2009 musste das »Bombodrom« schließen.
Die idyllische Westpfalz wird tagein tagaus von US-Kampfjets und anderem Militärlärm gestört. Diese Region weist nach Experteninformationen ein erhöhtes Krebs- und Herzinfarktrisiko, sowie überdurchschnittliche Erkrankungen der Atemwege auf. Trotzdem darf die US-Armee dort weiter ihre Kriege vorbereiten. Es ist der Westpfalz zu wünschen, dass dort eine ähnliche Protestkultur wie im Wendland entsteht.
Aus all dem folgt, dass für eine solidarische und ökologische Gesellschaft neue Strategien vorliegen: Politischer Streik, ziviler Ungehorsam, sowie die Ausdauer von Inseln des Widerstandes wie z.B. dem Wendland. Das Kartell aus Regierung und Großunternehmen wird weiter versuchen, diese Initiativen gegeneinander aufzubringen und einige davon zu kriminalisieren. Das darf nicht gelingen. Gerade die Aktion »Castor? Schottern!« hat zum Erfolg der Castor-Blockade beigetragen, auch wenn sie nach konservativer Rechtsauslegung eine Straftat war.
Da er so erfolgreich war, sollte der zivile Ungehorsam auch auf andere Politikfelder ausgeweitet werden. Der nächste Castor rollt schon kurz vor Weihnachten nach Lubmin in Mecklenburg-Vorpommern. Wie wäre es denn, wenn die Infrastruktur der Bundeswehr ähnlich lahmgelegt würde wie die des Castor-Zuges? Wenn sich genügend Leute – entschlossen und friedlich – daran beteiligen, wird die Kriegsfähigkeit der Armee heftig in Frage gestellt. Auch hier sollte gelten, was bei den Castor-Protesten Konsens war: Wir sehen es nicht auf PolizistInnen oder SoldatInnen ab. Wir wollen nur, dass sie nicht nach Afghanistan kommen. Auch hier kann sich durch kreative Aktionen der Wille der Bevölkerung Geltung verschaffen. Das ist Demokratie.
Auch 1953 und 1989 haben sich die DemonstrantInnen nicht immer an die Auflagen des Staates gehalten. Heute verübelt ihnen niemand, dass sie an nicht angemeldeten Demos teilgenommen haben. Ähnlichen Mut gegen die Arroganz der Regierenden wird heute gebraucht.
Zu den AutorInnen:
Inge Höger, Jahrgang 1950, ist abrüstungspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag. Carsten Albrecht, Jahrgang 1982, ist aktives Mitglied der Partei DIE LINKE in Berlin-Neukölln. Beide waren an den Castor-Protesten im Wendland beteiligt.