Stuttgart war bisher fürs fleißige Facharbeiterle bekannt. Dann kam das Bahnhofsprojekt »Stuttgart 21 und mit ihm der Aufruhr in die Stadt. Werner Sauerborn im Gespräch mit marx21 über die derzeit größte lokale Protestbewegung der Republik
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Dieses ist die stark gekürzte Fassung eines Interviews, das in voller Länge in der nächsten marx21-Ausgabe erscheint. Das Heft ist ab 15. September 2010 erhältlich
marx21: Unverhofft kommt oft: Für die Berliner Zeitung ist Stuttgart jetzt die »Hauptstadt des Widerstands«. Was treibt die Schwaben auf die Barrikaden?
Werner Sauerborn: Die Menschen verärgert das Projekt »Stuttgart 21« an sich, ebenso die Art, wie es durchgesetzt werden soll. Die Stuttgarter befürchten, dass sich ihre Stadt zum Schlechteren verändert – zu Recht: Stuttgart 21 ist Europas größtes Infrastrukturprojekt, allenfalls vergleichbar mit dem Gotthard-Basistunnel. Die voraussichtliche Bauzeit beträgt mindestens 15 Jahre, und das im Herzen der Stadt! Um die Dimensionen deutlich zu machen, eine Zahl: Erwartet werden bis zu 2400 Lkw-Transporte, und zwar täglich.
Wenn der Gegenwert für den Aufwand stimmt…
Das tut er aber nicht. Der neue Bahnhof wird eine schlechtere Verkehrsleistung haben als der bisherige, weil sich die Zahl der Gleise reduziert. Er ist erheblich störanfälliger, es herrscht gefährliche Enge auf den Gleisen, er bietet keinen Taktfahrplan mehr und ist ungeeignet für Menschen mit Behinderungen, für Gruppen, für Radfahrerinnen und Radfahrer.
Dazu ist Stuttgart 21 ein Umverteilungsprojekt, weil es die öffentlichen Haushalte des Bundes, des Landes Baden-Württemberg und der Stadt Stuttgart auf Jahre hinaus in ohnehin angespannter Haushaltslage zusätzlich belasten würde. Die Stadt Stuttgart ist mit mindestens einer Milliarde Euro dabei. Das Geld, was hier verschwendet wird, fehlt bei unseren Schulen, beim Ausbau der Ganztagsbetreuung, es fehlt für einen preiswerten und auszubauenden öffentlichen Personennahverkehr sowie für eine gute allgemeine Gesundheitsversorgung.
Dazu ist Stuttgart 21 ein Privatisierungsprojekt, mit dem 100 Hektar Grund und Boden in bester innerstädtischer Lage aus öffentlichem Eigentum an Investoren und Spekulanten verkauft würden. Der neue Bahnhof wirkt da wie ein schlampig geplanter Begleitumstand.
Entscheidende Fakten zu Kosten, Risiken und Leistungsfähigkeit haben die Verantwortlichen jahrelang unterdrückt, um das Projekt hinter dem Rücken der Bevölkerung durchzusetzen. Dieses Vorgehen erbost viele – einer der beliebtesten Slogans auf den Demos lautet »Lügenpack, Lügenpack«. Das Vorhaben wurde zwar mehrfach in den Parlamenten abgenickt, aber nicht auf der Grundlage der jetzigen Informationen: viel höhere Kosten, unverantwortbare Sicherheitsrisiken bei Bau und Betrieb. Jetzt sind zwar alle Probleme mit Stuttgart 21 durch den Protest ans Tageslicht gezerrt worden, die Verantwortlichen halten aber weiter stur dran fest.
Etwa 7500 Arbeitsplätze würden allein durch den Bau von »Stuttgart 21« entstehen, sagen die Befürworter. Ist das nicht für die Region wichtig?
Dieses Gerücht hat Projektsprecher Wolfgang Drexler, SPD-Landtagsvizepräsident, in die Welt gesetzt. Das ist so eine typische Zahl, die durch nichts belegt ist, dem Publikum ohne irgendeinen Beleg so hingeworfen wird. Man muss das mit der Alternative vergleichen: kein Stuttgart 21, stattdessen Sanierung des Kopfbahnhofs. Das schafft sehr viel mehr Arbeitsplätze als der Einsatz riesiger Tunnelbohrmaschinen. Außerdem gäbe es dann keine Einschnitte bei der Daseinsvorsorge, sondern möglicherweise einen Ausbau. Außerdem ist entscheidend, was für Arbeitsplätze entstehen: Kaum hatten die ersten Bauvorbereitungsmaßnahmen begonnen, hat der Zoll bei einer Razzia schon überdurchschnittlich viel Schwarzarbeit, Scheinselbstständigkeit und Dumpinglöhne aufgedeckt. Ver.di befasst sich mit der fristlosen Kündigung einer Betriebsrätin bei einer berüchtigten Sicherheitsfirma, die dort den Hauptauftrag hat. Das sind alles keine Zufälle, das ist die Folge eines völlig unrealistischen Kostendrucks bei dem ganzen Projekt.
Welche Rolle spielt die Deutsche Bahn?
Die Deutsche Bahn ist eine der heftigsten Befürworterinnen des Projekts. Kein Wunder: Sie lässt sich hier ihre Infrastruktur vom Steuerzahler bezahlen und hat dazu das alte Bahnhofsgelände für eine halbe Milliarde Euro an die Stadt Stuttgart verkauft.
Bundesweit Schlagzeilen macht die Bewegung gegen »Stuttgart 21« erst seit einigen Wochen. Ist der Protest wirklich so jung?
Nein, der Widerstand gegen Stuttgart 21 ist so alt wie das Projekt selbst. Wie gesagt, eine öffentliche Information durch die Verantwortlichen fand nicht statt. Also mussten Aktivisten in mühevoller Kleinarbeit die Fakten zusammengetragen. Als die Puzzleteile zusammengefügt waren, wurde der ganze Irrwitz des Projekts deutlich. Dieses Material wurde dann aufbereitet und an die Stuttgarter Bevölkerung verteilt. In den letzten drei bis vier Jahren ist es uns so gelungen, die Hegemonie in der Stadt zu gewinnen – zwei Drittel der Stuttgarter lehnen das Projekt mittlerweile ab. Die Aufdeckung einer veritablen Vetternwirtschaft zwischen Politik, Großbanken, Bauwirtschaft und teilweise Medien hat ein Übriges getan. Letzter Skandal: Der hiesige CDU-Chef hatte verschwiegen, dass er Beiratsmitglied der Baufirma Walter & Müller war, die einen der größten Aufträge ergattert hat.
Gleichzeitig haben wir uns darum bemüht, das Thema auch bundesweit präsent zu machen. Mit Beginn der großen regelmäßigen Proteste der letzten Wochen ist uns das gelungen.
Alle Verantwortlichen sagen, »Stuttgart 21« werde jetzt durchgezogen. Welche Chancen hat der Protest angesichts dieser harten Haltung?
Die harte Haltung ist eine mühsam aufrechterhaltene Fassade. Die umgedrehte Frage ist entscheidend: Wie soll so ein Großprojekt gegen den geschlossenen Widerstand der Einwohner und der öffentlichen Meinung landes- und inzwischen bundesweit durchzusetzen sein? Jede Woche demonstrieren Zehntausende, dazu gibt es zahlreiche Aktionen wie Sitzblockaden und Ähnliches. Jeder neue Bauabschnitt ist ein Anlass für mehr Widerstand: der jetzt angelaufene Abriss des alten Bahnhofs, die drohende Abholzung von über 200 Jahre alten Platanen im Schlossgarten – das werden die Projektmacher nicht aushalten.
Durch die Breite der Proteste steigt der politische Druck auf die Parteien, die sich mit Haut und Haaren dem Projekt verschrieben haben – also im wesentlichen CDU, FDP und SPD. Erste Risse zeigen sich: Eine Gruppe »CDUler gegen Stuttgart 21« hat sich gegründet, ebenso »SPDler gegen Stuttgart 21«. Im März 2011 finden in Baden-Württemberg Landtagswahlen statt, da wird der Druck noch einmal zunehmen. Angesichts dieser Mobilisierung wird das Projekt nicht durchzusetzen sein.
(Die Fragen stellte Stefan Bornost)
Mehr im Internet:
- Protestseite: Bündnis K21