In »Lincoln« erklärt Regisseur Steven Spielberg, was ein Präsident tun soll, wenn die Abgeordneten nicht seiner Meinung sind: sie bestechen. Von Hans Krause
Obwohl der Film schon Anfang 2012 fertig war, ließ Steven Spielberg (»Die Abenteuer von Tim und Struppi«) »Lincoln« erst ab 9. November in den US-amerikanischen Kinos laufen, drei Tage nach der Präsidentschaftswahl. Der Grund war nach eigener Aussage, dass der Regisseur sich nicht vorwerfen lassen wollte, in den Wahlkampf eingegriffen zu haben.
Denn Präsident Barack Obama wird von den US-amerikanischen Medien seit Beginn seiner Amtszeit mit Lincoln verglichen und er sonnt sich in diesem Vergleich. Deshalb schwor Obama seinen Amtseid diesen Januar auf die persönlichen Bibeln von Martin Luther King und Abraham Lincoln. Und deshalb hat er mal behauptet, er könnte sein Amt nicht ohne das Sachbuch »Ein Team aus Gegnern – das politische Genie des Abraham Lincoln« von Doris Kearns Goodwin ausüben.
Lincolns strategisches Superhirn
Auf eben diesem Buch basiert teilweise der Film Steven Spielbergs. Er zeigt Lincoln (Daniel Day-Lewis) entsprechend dieses Titels als strategisches Superhirn, das die verschiedenen politischen Fraktionen im Parlament und in der eigenen Regierung für seine Ziele gewinnt.
Lincoln war Republikanischer Präsident von 1861 bis 65 und wird heute jedem US-amerikanischen Schulkind als Lichtgestalt der Politik dargestellt. Zum einen weil in Lincolns Amtszeit der Sieg der Nordstaaten der USA im Sezessionskrieg gegen die Konföderation der Südstaaten fällt. Zum anderen, weil die Sklaverei abgeschafft wurde. Außerdem trug die Ermordung des Präsidenten durch den fanatischen Rassisten John Wilkes Booth zur Mystifizierung Lincolns bei.
Abschaffung der Sklaverei
Im Gegensatz zu heute waren die Republikaner damals eine liberale Partei, die Sklaverei mehrheitlich ablehnte. Während die Demokraten konservativ waren und Sklavenhaltung in den Südstaaten erhalten wollten.
Im Film erscheint der Präsident als weiser Politiker mit hohen moralischen Idealen. Von der ersten Minute bis zu seiner Ermordung verfolgt er unnachgiebig die Abschaffung der Sklaverei.
Dieses Bild kann Spielberg nur mit einem plumpen Trick zeichnen: Obwohl der Titel »Lincoln« einen biographischen Film vermuten ließe, spielt er fast ausschließlich im Januar 1865.
Lincoln sah zu dieser Zeit eine taktisch günstige Situation, im Parlament die notwendige Zweidrittelmehrheit zu erhalten, um ein Verbot der Sklaverei in die Verfassung zu bringen. Im Rest seines Lebens tat er jedoch wenig, um die schwarzen Sklaven zu befreien.
Rettung der Vereinigten Staaten
Wie viele Politiker damals und heute unterschieden sich Lincolns persönliche Ansichten stark von seinen politischen Forderungen. Was ihn von heutigen Präsidenten unterscheidet, ist, dass er dies zugab und daraus eine politische Philosophie machte. Während des Sezessionskriegs schrieb Lincoln 1862 in einem Brief:
»Ich will die Union [der USA] sichern. Wer die Union nicht will, wenn die Sklaverei darin nicht gerettet wird, dem stimme ich nicht zu. Wer die Union nicht will, wenn die Sklaverei darin nicht zerschlagen wird, dem stimme ich nicht zu. Mein vorrangiges Ziel ist dieser Kampf um die Sicherung der Union, und es ist nicht die Rettung oder Zerschlagung der Sklaverei. (…)
Ich habe hier meine Sichtweise dargelegt, entsprechend meiner offiziellen Pflicht. Diese beinhaltet keine Veränderung meines oft geäußerten persönlichen Wunsches, dass alle Menschen überall frei sein sollten.«
20 fehlende Stimmen
Dementsprechend setzte Lincoln die entscheidende Abstimmung über das Verbot der Sklaverei erst im Januar 65 an. Nachdem er für eine zweite Amtszeit gewählt und der Krieg praktisch gewonnen war.
Für die Zweidrittelmehrheit fehlen ihm am Monatsanfang 20 Stimmen. Und der Film handelt zweieinhalb Stunden fast ausschließlich davon, wie er sich diese Stimmen bis zur Abstimmung am 31. Januar »besorgt«.
Ohne Sklaven und Soldaten
Wer glaubt, dass sei langweilig, liegt richtig. Obwohl 1865 Millionen Menschen im Sezessionskrieg kämpften und hunderttausende Sklaven ihn zur Flucht in die Freiheit nutzten, spielt der Film überwiegend im Weißen Haus und in Parlamentsgebäuden. Darin diskutieren Lincoln und andere alte, weiße Männer mit Taschenuhr an der Kette, Backenbart und hohen Zylindern.
Der Präsident erreicht schließlich die erforderliche Stimmenzahl, hauptsächlich indem er Abgeordnete mit Posten und Geld besticht, was von seinen Mitstreitern und Regisseur Spielberg absurderweise als strategische Großtat gefeiert wird.
Grotesk und langweilig
Endgültig grotesk wird »Lincoln«, als der Präsident den Abgeordneten Thaddeus Stevens (Tommy Lee Jones) überzeugt, seine Meinung im Parlament zu verleugnen. Stevens war Vorsitzender der sogenannten »Radikalen Republikaner«, die nicht nur Sklaverei ablehnten, sondern Schwarzen auch volle Bürgerrechte und das Wahlrecht geben wollten. Lincoln stimmt Stevens Forderungen inhaltlich zu, bittet ihn aber, sie nicht auszusprechen, damit die bestochenen demokratischen Skalverei-Befürworter nicht abspringen.
In einer lächerlichen Szene wird Stevens im Parlament von den Demokraten gefragt, ob er glaube, dass alle Menschen gleich seien. Stevens überlegt, wartet, bis sich die Filmmusik zu jubilierenden Trompetenfanfaren verändert, und flüchtet sich triumphierend in schwammiges Politikergeschwätz: Die Menschen seien nicht gleich, sollten aber vor dem Gesetz gleich sein. Das stellt die schwankenden Abgeordneten zufrieden und die Abstimmung wird knapp gewonnen.
Beschränkter Blick auf Politik
Dass »Lincoln« weitgehend langweilt und enttäuscht, liegt an diesem beschränkten Blick auf Politik und Geschichte, die hier ausschließlich in Regierungs- und Parlamentsgebäuden stattfindet. Normale Menschen treten nur in zwei kurzen Szenen auf, die zeigen sollen, dass Schwarze Lincoln unterstützen und dass Weiße fast alle dumpfe Rassisten sind.
Vor allem Letzteres ist falsch: Die Bewegung zur Beendigung der Sklaverei, in den USA »Abolitionismus« genannt, war so alt wie die Sklaverei selbst. Seit dem 18. Jahrhundert wurden in den USA und der früheren Kolonialmacht Großbritannien hunderttausende Unterschriften gesammelt und große Boykott-Kampagnen von Waren organisiert, die mit Sklavenarbeit hergestellt wurden. Es war hauptsächlich der Erfolg dieser Bewegungen, dass die »Einfuhr« von Sklaven aus Afrika 1808 verboten wurde und die Sklaverei bis 1830 in allen nördlichen Bundesstaaten abgeschafft wurde.
Die sogenannte »Untergrundbahn« war ein informelles Netzwerk aus Schwarzen und Weißen, dass im 19. Jahrhundert mit geheimen Routen, Schutzhäusern, Fluchthelfern und verschlüsselter Kommunikation etwa 100.000 Sklaven die Flucht in den Norden und damit in die Freiheit ermöglichte.
Parlamentarische Winkelzüge
All das erwähnt der Film mit keinem Wort, denn mit all dem wollte Lincoln nie etwas zu tun haben. Weil er sich wie heutige Politiker auf Krieg und Parlamentarismus stützte, konnte er die Sklaverei jahrelang gar nicht und 1865 nur mit undemokratischen Mitteln beenden.
Auch dass es nach Abschaffung der Sklaverei über 100 weitere Jahre nicht mal formelle Gleichberechtigung von Schwarzen gab, wird nicht erwähnt. So ist es in den USA erst seit 1968 verboten, die Vermietung einer Wohnung »nur für Weiße« anzubieten.
Dementsprechend spiegelt auch der Film »Lincoln« eine kapitalistische Gesellschaft wieder, deren Elite glaubt, dass Politik aus parlamentarischen Winkelzügen besteht. Wobei demokratische Grundsätze nicht immer eingehalten werden können.
Daniel Day-Lewis überzeugt
»Lincoln« ist trotz des interessanten Themas der Sklaverei in den USA ein konservativer und langatmiger Film. Das ist umso bedauerlicher, als einer der voraussichtlich zahlreichen Oscars tatsächlich verdient ist: Daniel Day-Lewis (»Gangs of New York«) gelingt es in den wenigen emotionalen Szenen beeindruckend, die in vielen historischen Quellen erwähnte Kauzigkeit, den verschmitzten Humor und die Traurigkeit von Abraham Lincoln auf die Leinwand zu bringen.
Und wer sich den Film trotz dieser Kritik antut, sollte sich ein historisches Foto Lincolns ausdrucken und mit ins Kino nehmen. Die Ähnlichkeit ist verblüffend.
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