Innenminister Friedrich will verstärkt gegen radikale Islamisten vorgehen. Damit, so meint Kulturwissenschaftler Werner Schiffauer, macht er alles nur noch schlimmer. Ein Gespräch über Assimilation, Asketen und Arbeitermoscheen
marx21.de: Die einen benutzen den Begriff »radikaler Islam«, andere sprechen von »politischem Islam«, wieder andere von »konservativem Islam« und viele schließlich von »Islamismus«. Der Begriffswirrwarr auf diesem Feld scheint groß. Sind das alles nur verschiedene Namen für dasselbe Phänomen oder gibt es Unterschiede?
Werner Schiffauer: Es gibt große Unterschiede. Politischer Islam bezeichnet die »klassischen« islamistischen Strömungen, vor allem die Muslimbruderschaft, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden sind. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts hat sich als größere Gruppe noch die islamische Gemeinschaft Milli Görüs hinzugesellt. Der politische Islam lässt sich als Antwort auf Kolonialismus und Postkolonialismus verstehen. Anders als oft behauptet, ist er weder antimodern noch »mittelalterlich«, sondern befürwortet die wirtschaftliche und gesellschaftliche Modernisierung der arabischen Welt – allerdings auf einer »wertkonservativen« Grundlage. Damit ist der politische Islam nicht weit weg von dem Konservatismus, wie wir ihn hier kennen. Er will eine ethische Durchgestaltung der Moderne.
Während der politische Islam eine sehr stark realpolitische Ausrichtung hat, haben wir mit dem Salafismus eine im präzisen Sinn »fundamentalistische« Bewegung. Er will zurück zu den Ursprüngen, zu den fundamentals der Religion. Er fordert, anders als der politische Islam, eine Rückkehr zum Ur-Islam. Er versteht sich als Reinigungsbewegung und möchte den Ur-Islam Wort für Wort in die Gegenwart umsetzen.
Diese Strömungen fließen zum Teil ineinander, grenzen sich aber auch scharf voneinander ab. Revolutionär-islamistische Gruppierungen, die sich vom politischen Islam abgespalten haben, wie der Kalifatsstaat von der Milli Görüs, hatten und haben teilweise stark salafitische Züge. Andererseits sieht der Salafismus im politischen Islam, etwa in Ägypten und Libyen, seinen größten Konkurrenten und Feind.
Der Islam kam mit der türkischen Arbeitseinwanderung in den 1950er Jahren nach Deutschland. Welche Wandlungen haben islamistische Strömungen während der zweiten und dritten Einwanderergeneration gemacht?
Grob gesagt wurden in der ersten Phase Arbeitermoscheen von unten gegründet. Arbeiter haben Räume angemietet, ihre eigenen Gebete und Zeremonien gestaltet. Der Islam wurde also von Laien neu in Deutschland etabliert. Diese Arbeit war aber quasi nebenberuflich von Einzelpersonen und Gruppen gar nicht zu stemmen, weswegen sich die Aktiven vor Ort recht schnell an unterschiedliche Dachverbände angelehnt haben, die in ihren Heimatländern aktiv waren. In Deutschland waren dies vor allem Verbände aus der mystischen Ecke, so der Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ) und die Nurculuk-Bewegung. Auf der Seite des politischen Islams kam Milli Görüs hinzu. Anfang der 1980er gab es dann aufgrund internationaler Entwicklungen einen Radikalisierungsschub. Das Jahr 1979 war das politische Schicksalsjahr des Islams mit der iranischen Revolution und dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan. Es kam zu einer großen Politisierung des Islams weltweit und auch in Deutschland.
Das war die Geburtsstunde des Salafismus in Deutschland?
Insofern der Kalifatsstaat salafitische Züge hatte, durchaus. Es gibt jedoch keine Kontinuität. Das heute zu beobachtende Erstarken des Salafismus ist ein neueres Phänomen und knüpft nicht an diese älteren Linien an. Die Radikalisierung der frühen 1980er verebbte nämlich relativ schnell und der Kalifatsstaat sank zur Splittergruppe herab. Die Nach-79er-Generation trat, etwa vergleichbar mit den 68ern, ihren »Marsch durch die Institutionen« an und öffnete sich gegenüber der vorhandenen Gesellschaft. Ein wesentlicher Grund dafür war die Ernüchterung mit dem islamischen Staat Iran: Die versprochene Gemeinschaft, soziale Gerechtigkeit und ein Ende der Korruption der Eliten sind dort nach der Revolution offensichtlich nicht gekommen. Als Folge hat die Idee einer Islamisierung des Staatswesens ihren Reiz verloren. Gemeinden wie Milli Görüs lassen sich heute als postislamistisch bezeichnen. Damit meine ich, dass die Grundsatzopposition von Islam und Westen keine Rolle mehr spielt; dass die Idee des islamischen Staats aufgegeben und dass der revolutionäre Gestus fallengelassen wurde. Ein wesentlicher Bezugspunkt wurde das Grundgesetz der Bundesrepublik: Einfach wegen der positiven Religionsneutralität, die – anders als die französische Verfassung – einen Raum für Religion in der Öffentlichkeit vorsieht.
Nun glänzen die Salafiten nicht gerade mit einem positiven Bezug aufs Grundgesetz…
Weil sie eine Gegenbewegung zu der Art und Weise sind, wie der Islam in der Bundesrepublik assimiliert wird. Das, was offiziell »Integration« genannt wird, ist mit einem erheblichen Zurechtstutzen des Islams nach den Vorgaben der deutschen christlichen Mehrheitsgesellschaft verbunden. Diese Politik läuft darauf hinaus, dass von der deutschen Gesellschaft ein wünschenswerter, sogenannter deutscher oder europäischer Islam definiert wird. Die am Gesetzesislam orientierten islamischen Gemeinden werden gedrängt, sich diesem letztendlich am Luthertum ausformulierten Ideal möglichst zu nähern. Wer sich weigert, wird ausgegrenzt – auch wenn er sich oder vielleicht auch weil er sich auf die im Grundgesetz gewährte Religionsfreiheit berufen kann. Diese Ausgrenzung hilft wiederum, die anderen Gemeinden unter dem Motto »Wenn ihr euch nicht fügt, dann …« zu disziplinieren. Wer mitspielt, wird mit Beteiligungsmöglichkeiten belohnt, die anderen bleiben außen vor. Es ist eine Zuckerbrot-und-Peitsche-Politik.
Es gibt nicht wenige Muslime, die in dieser Politik das Zeichen sehen, dass das Grundgesetz im Wesentlichen nicht für sie gilt. Für einen rechtgeleiteten Islam ist hier kein Platz. Und in dieser Situation liegt es nahe, dass Positionen zunehmend Gehör finden, die Kompromisslosigkeit predigen und behaupten, dass die Mehrheitsgesellschaft erst dann Ruhe geben wird, wenn der Islam bis zur Unerkenntlichkeit zurechtgestutzt ist, bis von ihm nur noch ein grün gefärbter Lutheranismus übrigbleibt.
Diese assimilationspolitischen Vorgaben fördern die Radikalisierung. Die Berufung auf den »authentischen«, nicht nach fremden Vorgaben zurechtgebogenen Islam wird dann unter einigen Gläubigen populär – oftmals bei jenen, die aufgrund von Diskriminierungserfahrungen ein Bedürfnis nach Abgrenzung von der deutschen christlichen Mehrheitsgesellschaft haben. Insofern ist der Aufschwung des Salafismus auch durch die deutsche Islampolitik mit befördert. Womit ich nicht sage, dass er ausschließlich dadurch erklärt werden kann.
Nun gibt es aber den Anspruch, dass die hier lebenden Menschen die Rechte anderer achten sollen. Das Frauenbild der Salafiten könne nicht einfach als kulturelle Differenz verbucht und toleriert werden…
Natürlich sind die politischen und sozialen Vorstellungen der Salafiten problematisch und reaktionär. Ich möchte selbstverständlich nicht in einer Gesellschaft leben, die von den Salafiten geprägt ist. Doch damit ist die Frage nicht erledigt, wie wir mit ihnen umgehen sollen. Und da betone ich nochmal: Der Umgang des deutschen Staates mit den Salafiten stärkt diese Gruppe anstatt sie zu schwächen. Nehmen wir zum Beispiel den Bezug auf das Grundgesetz. Ich sehe in der grundgesetzlichen Ordnung durchaus eine vernünftige Basis des miteinander Umgehens. Die Art jedoch, wie deutsche Institutionen, der Verfassungsschutz und auch die Politik, das Grundgesetz auslegen und instrumentalisieren, ist sehr bedenklich. Da wird vieles, was einfach abweicht, kurzerhand als grundgesetzfeindlich definiert – auch wenn das Bundesverfassungsgericht es explizit anders sieht. So gilt die Rechtsberatung für Familien, die ihre Mädchen vom koedukativen Schwimmunterricht abmelden wollen, als verfassungsfeindlich. Oder islamische Missionierung wird einfach als verfassungsfeindlich deklariert – obwohl das Grundgesetz sie ausdrücklich unter Religionsfreiheit schützt. Das Verteilen des Koran wird als »Angriff auf die freiheitliche Grundordnung« gebrandmarkt, das Verteilen von Bibeln hingegen greift keiner an. Das Grundgesetz wird also immer dann hochgehalten, wenn Abweichungen von der Mehrheitsgesellschaft angegriffen werden. Wenn es um den Schutz von Minderheiten geht, verschwindet es in der Schublade. Das ist eine politische Interpretation des Grundgesetzes, die mit dem Text nichts zu tun hat und die auch der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts nicht gerecht wird. Gegen DIE LINKE wird ja auch ins Feld geführt, dass die Forderung nach Verstaatlichung der Banken verfassungsfeindlich sei. Das ist eine konservative Interpretation, die man auf Grundlage der entsprechenden Grundgesetzparagrafen durchaus anders sehen kann.
Ein Beispiel aus Berlin-Spandau: Dort ist bekannt geworden, dass an einer Schule eine Gruppe männlicher Jugendlicher, die sich offensichtlich den Salafiten zugehörig fühlen, türkische Mädchen anpöbelt, die kein Kopftuch tragen. Kann eine Schulleitung das einfach hinnehmen?
Meine Position ist: Derartige Phänomene, die ich auch schlecht finde, können nur aus dem Islam heraus überwunden werden. Die Opposition der Mehrheitsgesellschaft, die Aufrufe der Politik gegen den Salafismus sind doch Wasser auf die Mühlen der Salafiten. Wir müssen stattdessen die Angebote aus den islamischen Gemeinden ernst nehmen, die sich ernsthaft mit der Frage auseinandersetzen, wie ein rechtgläubiger Muslim im Einklang mit dieser Gesellschaft auf dem Boden der existierenden Rechtsordnung leben kann. Kritik – auch radikale Kritik – an der Gesellschaft aus islamischer Perspektive muss dabei möglich sein, ohne dass deswegen jemand gleich ausgegrenzt wird. Die rechtgläubigen muslimischen Verbände wollen auf Grundlage ihrer Überzeugungen, auch der religiösen, auf die Gesellschaft einwirken. Das dürfen sie, das ist legitim wie es für jede Kirche legitim ist – auch wenn wir ihre Überzeugungen nicht teilen. Durch die Ausgrenzung der muslimischen Verbände, deren gesellschaftliches Wirken offensichtlich weniger Akzeptanz erfährt als zum Beispiel das der evangelischen und katholischen Kirche, wird aber signalisiert: Der rechtgeleitete Islam hat hier keine Existenzberechtigung. Meiner Meinung nach kommen wir mit Erscheinungen wie den Beschriebenen nur klar, wenn wir die rechtgeleiteten Gemeinden mit ins Boot nehmen. Das bedeutet: Wir müssen sie als Partner ernst nehmen. Besondere Hoffnung setze ich dabei auf den vorhin angesprochenen postislamistischen Flügel, der ja in verschiedenen Gemeinden sehr stark ist.
Nun ist aber eine weit verbreitete Annahme, dass der Islam, im Gegensatz zu den christlichen Kirchen, nicht reformfähig ist…
Die Entwicklung von Milli Görüs beweist ja gerade das Gegenteil. In den frühen 1980ern gab es dort eine starke Strömung, die nicht weit weg von dem war, wofür die Salafiten heute stehen. Diese Strömung ist heute marginal – nicht, weil deutsche Innenminister die Diskussion gesucht haben, sondern weil sie über einen Diskussionsprozess in Milli Görüs selbst marginalisiert wurde. Dabei spielten internationale Entwicklungen eine wichtige Rolle: Der islamische Staat, der Iran, hat es einfach nicht gebracht. Die islamischen Befreiungsbewegungen, zum Beispiel in Afghanistan, auf die man sich anfangs positiv bezogen hatte, sind in einem Sumpf aus Korruption, Drogen- und Menschenhandel versunken und haben es auch nicht gebracht. Und dazu haben es auch die harten Islamisten aus der eigenen Organisation nicht gebracht: Statt Tugend und rechtgläubige Lebensweise vorzuleben, haben sich die betreffenden Funktionäre in diverse Finanz- und Immobilienskandale verwickelt. Aus dem Unbehagen in der islamischen Gemeinde mit einzelnen Personen ist eine Kritik an der Idee des islamischen Staats, an der Verknüpfung von Islam und Politik erwachsen. Endergebnis ist eine Bejahung des Säkularismus durch die breite Mehrheit von Milli Görüs. Die sture Rechthaberei der ersten Generation der Gemeinschaft wurde so überwunden. Das ist nicht von außen gekommen.
Deine Empfehlung ist also: Den Salafismus aussitzen, der erledigt sich schon von selbst?
Das habe ich nicht gesagt. Meine Position ist: Wir müssen auf Bestrebungen aus den islamischen Gemeinden reagieren, die sich auf die Gesellschaft zubewegen. Wir müssen sie aktiv unterstützen und sollten sie nicht weiter ausgrenzen. Eine Politik, die dem Islam entgegentritt wie einem missratenen Kind, das man erst mal erziehen muss, ist da nicht förderlich. Ebenso wenig sind es Verbotsforderungen. Die Forderung, die Koranverteilung zu verbieten, war ein Riesenpublicityerfolg für die Salafiten. Ansonsten hätte doch niemand von der Aktion was gemerkt. Wenn die Zeugen Jehovas den Wachtturm verteilen, steht es ja auch nicht auf der Bild-Titelseite.
Man muss sich klarmachen, dass das Auftreten »fundamentalistischer« Strömungen in der Religionsgeschichte normal ist. Periodisch treten in allen Religionen immer wieder Personen und Prediger auf, die die Urgemeinde wiederherstellen wollen. Normalerweise ist die Attraktivität derartiger Bewegungen beschränkt. Das Ausmaß an Askese und Unterwerfung, das hier insbesondere jungen Menschen abverlangt wird, ist für die überwältigende Mehrheit schlicht nicht attraktiv. Denn durch eine solche Lebensweise wird die Alltagsgestaltung wahnsinnig aufreibend. Entsprechend ist der Kern dieser Strömungen sehr klein. Von daher sollten wir die »salafitische Gefahr« nicht größer reden, als sie tatsächlich ist. Man kann aber die Attraktivität derartiger Bewegungen sehr steigern, wenn man die Situation erzeugt, dass sie sich als Grundsatzopposition inszenieren können – und damit auch für Personen interessant werden, die sonst mit der Spiritualität wenig anfangen könnten. Das gelingt der deutschen Politik gerade ganz großartig.
(Das Interview führte Stefan Bornost)
Zur Person:
Werner Schiffauer lehrt Vergleichende Kultur- und Sozialanthropologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. Im Jahr 2010 veröffentlichte er das Buch »Nach dem Islamismus – Die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs. Eine Ethnographie« (Suhrkamp Verlag).
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