Letzte Woche erlebte der Nahe Osten vier Tage lang die Kraft von Massenbewegungen. Mauern wurden niedergerissen, ein Diktator erniedrigt und die US-Strategie, den palästinensischen Widerstand zu isolieren, lag in Scherben. Ein Bericht von Simon Assaf
Es begann am Dienstagmorgen des 22. Januar, als tausende palästinensische Frauen und Kinder bei Rafah den Grenzübergang zu Ägypten belagerten. Die Demonstrierenden verlangten den Grenzübertritt nach Ägypten, denn die Auswirkungen der israelischen Blockade des Gazastreifens wurden immer schlimmer (marx21 berichtete).
Seit Ausbruch der zweiten Intifada (Aufstand) im Jahr 2000 wurde der Gazastreifen wirtschaftlich isoliert. Im Jahr 2005 zwang der Widerstand Israel zur Aufgabe seiner illegalen Siedlungen, die nach der Eroberung des Gebiets im Krieg von 1967 dort errichtet wurden. Auf diesen Rückzug folgte dann 2006 der überraschende Wahlsieg der Hamasbewegung, einer Widerstandsorganisation, die in Opposition zu den bisherigen »Friedensabkommen« mit Israel steht, weil diese die zentralen Belange der Palästinenser gar nicht berücksichtigen. Obwohl die Wahlen allgemein als frei und fair galten, weigerte sich der Westen, die neue Regierung anzuerkennen.
Die ägyptisch-palästinensische Grenze wurde mit Hilfe einer von dem Staat Israel errichteten Mauer geschlossen. Aus diesem Grund konnten die Palästinenser den Gazastreifen nicht mehr verlassen. Hunderte Bewohner Gazas strandeten auf der ägyptischen Seite.
Israel, die USA und Ägypten unternahmen im Juni 2007 einen Staatsstreich gegen die Hamasregierung. Dieser aber scheiterte, weil palästinensische Sicherheitskräfte sich weigerten, an dem Angriff auf einen demokratisch gewählte Regierung teilzunehmen. Nach diesem vereitelten Machtübernahmeversuch ging Israel dazu über, den Gazastreifen vollständig abzuriegeln.
Die Strafblockade verwandelte sich in eine regelrechte Belagerung, nachdem Israel alle Treibstofflieferungen unterband. 1,5 Millionen Menschen versanken in Dunkelheit.
Widerstand
Die Region ist von einem der kältesten Winter seit Jahren gebeutelt, der die Frauen und Kinder zu einem verzweifelten Marsch auf die Grenzanlagen trieb. Die ägyptische Bereitschaftspolizei stellte sich ihnen in den Weg. Einige der Demonstranten skandierten Beleidigungen gegen den ägyptischen Diktator Husni Mubarak, während aufgebrachte Kinder gegen die Schutzschilder trommelten. Bei den Rufen „Feiglinge! Feiglinge!« begann die Bereitschaftspolizei zu wanken. Etwa 50 Frauen hatten den Grenzposten bereits überwunden, bevor sie mit Schüssen, Wasserkanonen und Schlagstöcken schließlich wieder zurückgetrieben wurden.
Als die Nachricht sich verbreitete, dass Mubaraks verhasste Polizei verzweifelte Palästinenserinnen zusammenschlug, riefen die Muslimbruderschaft und die Sozialistische Allianz – ein Bündnis linker Organisationen und Einzelpersonen – zu einer Demonstration für den folgenden Mittwochmorgen vor dem Gebäude der Arabischen Liga im Zentrum Kairos auf.
Mubarak in der Defensive
Ein eingeschüchterter Mubarak mobilisierte die Sicherheitskräfte und verbot die Demonstration. Hunderte Aktivisten der Muslimbruderschaft und linker Organisationen wurden aus ihren Betten gezerrt, noch bevor sie sich auf den Weg in die Hauptstadt machen konnten.
Während Mubaraks Sicherheitskräfte sich bereitmachten, den Protest in Kairo zu vereiteln, zerstörten Techniker der Hamas die Grenzmauer zwischen dem Gazastreifen und Ägypten.
Es stellte sich heraus, dass die Techniker schon seit Monaten die sechs Meter hohe Barriere aus Stahl angebohrt hatten. Mittwochabend brachten sie die ganze Konstruktion zum Einsturz.
Nachdem sich herumgesprochen hatte, dass die Grenzmauer gefallen war, strömten zehntausende Palästinenser auf die andere Seite der Grenze. Angesichts dieses Menschenstroms waren die Sicherheitskräfte machtlos. Manche verließen ihre Posten, während andere abseits standen.
In Kairo verbreitete sich die Nachricht, dass die Grenze gefallen war. Obwohl 450 führende Aktivisten im Gefängnis saßen, versammelten sich 2.000 Menschen auf dem Tahrirplatz im Zentrum Kairos.
Angesichts ihres gescheiterten Versuchs, öffentliche Proteste im Keim zu ersticken, schloss die aufgeschreckte Staatssicherheitspolizei Kairos U-Bahnstationen, durchkämmte Arbeiterbezirke und verhaftete willkürlich Menschen. Aus der Sicht des ägyptischen Staats lauerte der Feind an jeder Ecke. Die Demonstrierenden in Kairo griffen den Ruf „Feiglinge! Feiglinge!« auf. Als sich untern ihnen die Nachricht verbreitete , dass mittlerweile hunderttausende Palästinenser nach Ägypten ausgeschwärmt waren, wurden die Demonstranten von der Bereitschaftspolizei angegriffen und bis in die Seitengassen verfolgt. Über 1.500 wurden verhaftet. Dieses scharfe Vorgehen konnte die Ereignisse aber nicht aufhalten, die sich schnell in eine große Demütigung Mubaraks verwandelten. Angesichts einer verwirrten Grenzpolizei und einer Bereitschaftspolizei, die sich unter dem massenhaften Druck zurückzog, verkündete er über das Fernsehen, in Wirklichkeit habe er „die Palästinenser eingeladen«. „Ich befahl den Sicherheitskräften, den Palästinensern zu gestatten, lebenswichtige Einkäufe zu tätigen und danach nach Gaza zurückzukehren, solange sie keine Waffen oder irgendwelche illegalen Dinge bei sich tragen«, sagte er.
Die Ereignisse entlang der Grenze zu Gaza haben Mubaraks 26 Jahre währende Diktatur weiter geschwächt. Seit Dezember 2006 ist das Land von einer Streikwelle, von Fabrikbesetzungen und Protesten erfasst, die seine Angstherrschaft erschüttert haben. Diese wachsende populäre Bewegung hat eine neue Generation junger Aktivisten hervorgebracht. Oft spielen gerade Frauen und junge Arbeiter eine führende Rolle. Die rasante Entwicklung der Bewegung von unten beschrieb ein älterer linker Aktivist aus Ägypten als „schwindelerregend«. Er erzählte weiter: „Nach Jahren bescheidener Aktivitäten angesichts scharfer Repression sind wir überwältigt von der Breite und Tiefe der Bewegung«. Mubaraks Regime ist ein wichtiger Verbündeter der USA in der Region. Vor zwei Wochen schloss George Bush seine „Demokratiereise« durch den Nahen Osten mit einem Freundschaftsbesuch bei dem ägyptischen Diktator ab.
Bush wollte damit sein Bündnis von US-freundlichen Regimes gegen den Iran, die Hamas und Libanons Hisbollahbewegung festigen. Das Herz dieser Strategie bildete die Isolierung jeglichen Widerstands gegen den Imperialismus und seine Verbündeten. Im Windschatten dieses Besuchs fühlte sich Israel ermuntert, eine neue Runde mörderischer Angriffe auf den Gazastreifen zu einzuleiten. Das Kappen der Treibstofflieferungen sollte der letzte Schlag sein: Während das Gebiet in Dunkelheit versank, würden die Palästinenser ihre „Irrungen« einsehen und sich gegen die Hamasregierung wenden, so das Kalkül israelischer Strategen. Anstatt jedoch die Hamas zu demütigen, hat die Widerstandsbewegung die israelische Strategie durchlöchert. Die Belagerung verlor ihre Wirkung. Ein frustrierter israelischer Minister verkündete am Donnerstag, Israel „entledige« sich des Gazastreifens.
„Wir müssen begreifen, dass wir keine Verantwortung mehr für den Gazastreifen tragen, wenn die Grenze am anderen Ende des Gazastreifens geöffnet ist«, sagte der Minister. „Deshalb wollen wir uns davon lösen.« Diese blassen Sätze deuten darauf hin, dass nach 38 Jahren Besatzung, Siedlungsaufbau und Terrorherrschaft die Israelis endlich ihre Niederlage eingestehen.
Die israelische Stellungnahme ließ das Weiße Haus aufhorchen. Der Unterstaatssekretär im Außenministerium, Nicholas Burns, rief Mubarak an und forderte die erneute „Abriegelung der Grenze«, während der US-Kongress das Zurückhalten von 100 Millionen US-Dollar Hilfsgeldern androhte, sollten die Ägypter die Belagerung nicht wieder aufnehmen.
Verantwortung
Währenddessen verurteilte die ägyptische Regierung die israelische Stellungnahme und beharrte darauf, dass Palästina „Israels Verantwortung« sei. Die Grenze zwischen Ägypten und Gaza verwandelte sich in ein Festgelände. Am Donnerstagmorgen waren es nach Angaben der UN bereits „etwa 350.000 Palästinenser – das sind mehr als 20 Prozent der Bevölkerung Gazas von 1,5 Millionen -, die nach Ägypten spazierten, mit Autos oder auf Eselskarren hinüberfuhren.«
Am Sonntag waren es bereits 750.000 Menschen. Viele Familien besuchten Angehörige, stockten ihre Vorräte auf oder genossen einfach das Gefühl der Freiheit.
Der ägyptische Staat errichtete eine neue vorläufige Grenze in der Stadt al-Arisch, etwa 37 Meilen von Rafah entfernt. Die nahe der Stadt stationierten internationalen und US-Militärbeobachter, gaben daraufhin ihre Stützpunkte auf. Während die Palästinenser einzogen, verließen die Truppen mitsamt Ausrüstung das Gebiet.
Am Freitag befahl Mubarak seine Polizei zurück an die Grenze, während Sicherheitskräfte in al-Arisch randalierten und Ägypter angriffen, die den Palästinensern Hilfe anboten. Sie errichteten Straßenblockaden quer über den Sinai, um den Transport weiterer Lieferungen in Richtung Gazastreifen aufzuhalten. An diesem Nachmittag versuchte die ägyptische Bereitschaftspolizei, die Kontrolle über den Grenzübergang von Rafah wiederzuerlangen. Eine Kette schwer bewaffneter Polizisten stellte sich entlang der niedergerissenen Mauer auf, um weitere Palästinenser am Verlassen ihres Gazagefängnisses zu hindern.
Daraufhin ging ein Steinhagel auf sie nieder und ein weiterer Mauerabschnitt wurde von Palästinensern mit Hilfe eines Bulldozers niedergerissen. Am folgenden Tag war von der Mauer nur noch ein Haufen Schutt übriggeblieben. Die ägyptische Regierung sah sich gezwungen, sich über den von den USA und Israel verhängten Boykott hinwegzusetzen und Vertreter der Hamasregierung zu Gesprächen einzuladen. Die Israelis erklärten sich unterdessen bereit, Lieferungen in den Streifen wieder zuzulassen. Die Belagerung und die Besetzung des Gazastreifens sind beendet – vorläufig jedenfalls.
Der Artikel erschien zuerst in der englischen Wochenzeitung Socialist Worker. Aus dem Englischen von David Paenson, Bruce Paenson und Rosemarie Nünning.
Mehr im Internet:
Video: Livebericht von Al-Dschasira (in Englisch)