Während die türkischen Generäle den Irak angreifen, demonstrieren Kurden und Türken für den Frieden, berichtet Cem Uzun, Sozialist aus Istanbul.
Letzten Sonnabend überschritten, in einer gefährlichen Eskalation des Konfliktes im Mittleren Osten, türkische Truppen die Grenze des Iraks. Unterstützt von Helikoptergeschützen und Artillerie, griffen sie eine Gruppe angeblicher Kämpfer an, die der kurdischen nationalen Guerillaorganisation der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) angehören.
Am gleichen Tag demonstrierten in der Stadt Merzan, in Hakkari, der türkischen Provinz, von der die Angriffe ausgingen, Tausende für den Frieden. Sie wurden von der prokurdischen Partei der demokratischen Gesellschaft (DTP) organisiert. Die Obrigkeit versuchte Protestierende mit Straßensperren davon abzuhalten an den Demonstrationen teilzunehmen. Dennoch versammelte sich eine größere Menschenmenge mit Plakaten, auf denen zu lesen war: "Wir wollen keinen türkisch-kurdischen Krieg!" und „Nein zu grenzübergreifenden Operationen!" Einer der beiden Vorsitzenden der DTP, Emine Ayna, kritisierte Premierminister Tayyip Erdogan. Sie sagte: „Erdogan hat uns gesagt, wir sollten die Friedenspolitik in die Städte tragen und nicht in den Bergen kämpfen. Nun hat er sein Versprechen gebrochen. Wir verfolgen unsere Ziele im Parlament, nicht in den Bergen. Und dennoch hat Erdogan eine Lynchkampagne gegen die DTP gestartet." Die Demonstration wurde von der Polizei mit Tränengas aufgelöst. Emine Ayan wurde verletzt ins Krankenhaus gebracht.
Die Einmischung der Türkei im nördlichen Irak ist nicht neu. Mehr als 20 grenzüberschreitende Operationen haben in den letzten 15 Jahren stattgefunden. Jedoch hat die türkische herrschende Klasse auch weitreichende wirtschaftliche Interessen im Irak. Nicht wenige große türkische Firmen nehmen an Bauvorhaben in der Region teil. Viele Verbrauchsgüter im Nordirak werden dieser Tage aus der Türkei importiert. Selbst Nahrungsmittel kommen hauptsächlich aus der Türkei.
Die USA versuchen verzweifelt, die zerbrechliche Stabilität des irakischen Kurdistans aufrechtzuerhalten, des einzigen relativ friedlichen Teils des Iraks nach der alliierten Invasion. Dennoch ist das türkische Militär ein wichtiger potentieller Bündnispartner in jeglicher Aktion gegen den Iran, und George Bush ist auch bemüht, die türkischen Generäle auf seiner Seite zu halten. Die türkische Regierung hat der Armee die Befugnis erteilt, eine Reihe von grenzüberschreitenden Operationen gegen die PKK durchzuführen. Die USA liefert Informationen zu den Positionen der Guerillas, um eine groß angelegte türkische Intervention zu vermeiden, die einen erneuten Bürgerkrieg im Norden Iraks auslösen könnte. Dennoch entwickelt jede militärische Operation ihre eigene Logik, und es wird vielleicht nur eines kleinen Unfalls bedürfen, um in einem weiteren Konflikt zu eskalieren. Es gibt viele im türkischen Militär, die gerne sehen würden, das es sich so entwickelt.
Dabei hatten türkischen Parlamentswahlen im Juli dieses Jahres die Hoffnung gebracht, dass Demokratie und Frieden auf der Tagesordnung stehen würden. Die 46 Prozent der Stimmen für die Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) waren eine Ohrfeige für die Generäle, die mit einem Putsch gedroht hatten. Die Wahl von 20 unabhängigen kurdischen Parlamentariern war ein Lichtblick. Sie hatten ihren Wahlkampf im Bündnis mit der Linken geführt und hatten sich für eine friedliche politische Lösung der kurdischen Frage ausgesprochen.
Die Generäle schlagen zurück
Aber die türkischen Generäle kämpften zurück. Sie spielten die nationalistische Karte aus. Seit 2004 haben die Generäle den militärischen Konflikt mit den Kurden in der Türkei verschärft. Dies zwang die PKK, ihren einseitig erklärten Waffenstillstand, der von 1999 bis 2004 gehalten hatte, selbst aufzukündigen. Im Juni dieses Jahres versuchte die PKK noch ein Moratorium, und das türkische Militär antwortete wiederum auf die gleiche Weise. Eine Reihe von Morden – von denen manche ganz klar nicht auf das Konto der PKK gingen – wurden der PKK angelastet. Zusammen mit einer Medienhetze gegen „Terrorismus" wurden diese genutzt, um den Nationalismus gegen die Kurden zu schüren. Sowohl die Hauptoppositionsparteien – die Faschisten der MHP und die rechten Sozialdemokraten der CHP – nutzten nationalistische Rhetorik, um die Regierung anzugreifen. In dieser aufgehetzten Atmosphäre stimmte das Parlament einem Antrag zu, der die Regierung autorisierte, türkische Truppen in den Irak zu schicken. Dies war eine schwierige Zeit für die Anti-Kriegsopposition auf den Straßen und innerhalb der Universitäten. Pro-Kriegs- und Pro-Invasionsdemos waren größer als die für den Frieden. Der erste große Erfolg für die Friedensbewegung kam, als 40.000 am 3. November in der türkischen Hauptstadt Ankara marschierten. Ursprünglich hatte die Beamtengewerkschaft (KESK) zu dieser Demo aufgerufen, zusammen mit den Berufsvereinigungen der Ingenieure und der Ärzte. Sie forderten freie Bildung und Gesundheitsfürsorge und kritisierten den Neoliberalismus der vorgeschlagenen neuen türkischen Verfassung. Aber sofort nach dem Antrag zum Einmarsch in den Nordirak waren die dominierenden Losungen für den Frieden, gegen eine Invasion und für eine politische Lösung der kurdischen Frage. Beim Treffen zwischen Premierminister Erdogan und US-Präsident George Bush am 5. November gingen viele nicht auf die Straße, weil man annahm, dass die USA der Türkei nicht erlauben würde, die Grenze zu überschreiten.
Hetze gegen Kurden
Die nationalistische Hysterie wandte sich nun gegen die 20 kurdischen Abgeordneten und die Partei, deren parlamentarische Gruppe sie nun gegründet haben, die DTP. Alle Medien riefen die DTP auf, den „Terrorismus der PKK" zu verurteilen. Sollte sie es nicht tun, drohe ihr der Ausschluss vom demokratischen Prozess. Die kurdischen Abgeordneten wurden ins Parlament mit den Stimmen der Kurden gewählt, die gesehen haben, wie 3000 kurdische Dörfer vom Staat zerstört wurden und denen über Jahrzehnte verwehrt wurde, ihre eigene Sprache zu sprechen. Die allgemeine Wehrpflicht bedeutet, dass die meisten türkischen Familien eine natürliche Sympathie für Soldaten in der türkischen Armee haben. Wenn Soldaten getötet werden, nutzen dies die Medien, Nationalismus zu schüren. Als jedoch acht türkische Soldaten von der PKK als Geiseln genommen und in den Nordirak transportiert wurden, offenbarte sich die Scheinheiligkeit der Medien und des Staates. Drei kurdische Parlamentsabgeordnete reisten in den Irak und sicherten die Freilassung der Soldaten. Die drei Abgeordneten sollen nun verfolgt werden. Die Soldaten, weit davon entfernt, von den Spitzenchargen der Armee freudig willkommen geheißen zu werden, sind ins Militärgefängnis gesteckt worden und unter anderem angeklagt worden, „das Land ohne Erlaubnis verlassen zu wollen."
Nun hat letzte Woche der Hauptstaatsanwalt der Hauptstadt Ankara eine Gerichtsaktion gestartet, um die DTP aus dem Verkehr zu ziehen. Die Anklage rief nicht nur zur Ächtung der Partei auf, sondern auch zum Verbot jeglicher organisierter politischer Aktivität für alle 150.000 Mitglieder der Partei und zum Ausschluss von 20 Abgeordneten der DTP aus dem Parlament. Es findet eine offene Hexenjagd gegen die DTP und ihre Abgeordneten statt. Parteibüros sind verwüstet und Parteikundgebungen attackiert worden. Die durch die Invasion des Iraks geschaffene Instabilität bedeutet, dass nun die Kurden der Türkei unter vermehrter Repression zu leiden haben.
Der Widerstand wächst
Der Widerstand, zunächst einmal gegen die drohende Invasion und nun gegen tatsächliche Militärinvasionen im Irak, wächst. Eine „Friedenswoche" an einer wichtigen Universität, der "Technischen Universität Mittelost" in Ankara, mobilisierte hunderte Studierende, die zuvor nicht politisch aktiv waren, für die Friedensbewegung. Es wird diese Woche eine Reihe von Aktionen gegen militärische Operationen und zur Unterstützung der gefangenen Soldaten geben. Die Aktionen der Türkei im Irak – und die türkische Armee kündigte noch mehr an – erfordern eine Antwort der weltweiten Anti-Kriegsbewegung.
Trotz der nationalistischen Hysterie, die von der Armee und den Medien geschürt worden ist, wächst die Opposition gegen grenzüberschreitende Operationen in den wichtigsten Städten der Türkei. Das Friedensparlament, eine Organisation von Intellektuellen und anderen, die eine friedliche Lösung des Kurdenproblems befürworten, hat zu einer Demonstration am 4. Dezember aufgerufen. AktivistInnen hoffen, dass alle Anti-Kriegsgruppen daran teilnehmen werden. Für den 8. Dezember wird eine Demonstration in Istanbul organisiert, als Teil einer Welle von Anti-Kriegsaktionen in den nächsten Monaten.
Die türkischen Kapitalisten sind in einer ähnlichen Bredouille wie George Bush. Sie fürchten die Instabilität, die von jeglichem Abenteuer im Nordirak durch die Generäle ausgeht. Jedoch hängen sie auch für ihren Geschäftserfolg von der militärischen Stärke der Türkei im Nordirak ab. Daher ist, während führende Kapitalisten zur Vorsicht gemahnt haben, was die grenzüberschreitenden Operationen angeht, niemand offen mit einer Ablehnung der Pläne des Militärs aufgetreten.
(Aus dem Englischenvon Carla Krüger)
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