Eine zweite, wesentlich größere Demonstrationswelle, diesmal von der Muslimbruderschaft organisiert, folgte in den Monaten nach März 2005. Sie richtete sich gegen die Verfassungsänderungen und die Notstandsgesetzgebung, es beteiligten sich insgesamt 70.000 Menschen in verschiedenen Städten. Im Zuge der anschließenden Repression wurden 3.000 Aktivisten verhaftet. Der Höhepunkt war der große Wahlerfolg der Muslimbruderschaft Ende 2005. Nach der Verhaftungswelle zog sich die Muslimbruderschaft aus der Bewegung zurück und versuchte die Wogen zu glätten, um bei den anstehenden Gerichtsprozessen ihrer Führung lange Haftstrafen zu ersparen. Während der darauf folgenden Ernüchterung und Verwirrung, betrat die Arbeiterbewegung die Bühne.
Welche Beziehung gibt es zwischen der Kifaja-Bewegung, der Muslimbruderschaft und der Streikbewegung?
Die Arbeiterbewegung ist eine völlig getrennte Bewegung. Kifaya mag ihren Beitrag dazu geleistet haben, weil sie die Grenzen der Einsatzfähigkeit des Unterdrückungsapparats vor Augen führte. Während der Wahlen gewann die Muslimbruderschaft überwältigende Mehrheiten in den wichtigsten Arbeiterbezirken, aber die Organisation war nicht direkt an den Streiks beteiligt. Ihre parlamentarischen Vertreter unterstützten die Arbeiterforderungen, ihre Aktivisten spielten aber keine Rolle.
Erzähl uns mehr über die Muslimbruderschaft. Manche Linke bezeichnen sie schlicht und einfach als islamische Fundamentalisten.
Es ist ein großer Fehler, die verschiedenen Tendenzen und Bewegungen, die unter der Fahne des Islams auftreten, in einen Topf zu rühren, die Netzwerke individueller Terroristen wie der Al–Qaida-Anhänger, die nationalen Befreiungsbewegungen wie Hamas und Hisbollah und die reformistischen Massenbewegungen wie die Muslimbruderschaft gleichzusetzen.
Ein weiterer Fehler der Linken besteht darin, die geschichtlichen Zusammenhänge nicht mit einzubeziehen. Die Muslimbruderschaft wird unabhängig von den verschiedenen Zeitenabschnitten als unveränderliche Organisation betrachtet, mit demselben Programm, denselben Prinzipien und Taktiken. In Wirklichkeit hat die Organisation etliche Wendungen vollzogen. Während der 1940er Jahre, im britisch besetzten und von Großgrundbesitzern beherrschten Königreich, wuchs ihre Mitgliedschaft sprunghaft an. In den 1960er Jahren wurde sie dann vom Nasserregime weitgehend zerschlagen und schrumpfte von einer Massenbewegung mit 500.000 Mitgliedern zu einer Außenseitergruppierung von nur wenigen hundert Menschen, die sich größtenteils im saudi-arabischen Exil aufhielten.
In den 1970er Jahren, unter Nassers Nachfolger Anwar al-Sadat, unterstützte sie das Regime und spielte so eine wichtige Rolle als Gegengewicht zu der relativ starken Linken. Das zeigte sich in ihrer Politik. Ihre Zeitschrift beispielsweise, die unter Sadat erscheinen durfte, war gespickt mit rechten Fantasien wie der von einer Verschwörung von Juden, Kommunisten und Kreuzfahrern zur Ausmerzung des Islams. Sie verfocht die Unantastbarkeit des Privateigentums, des Freihandels und so weiter.
Auf Grund der krisenhaften Entwicklung des ägyptischen Kapitalismus entstand ein Heer von Studenten und Universitätsabgängern mit geringen Berufsaussichten und einem Lebensstandard, den sie mit der Arbeiterklasse teilten. Das war der fruchtbare Boden, auf dem sich Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre sehr schnell eine riesige islamistische Bewegung vor allem an den Universitäten entwickelte. Diese Gruppierungen verschmolzen mit den Überresten der alten Muslimbruderschaft, wobei sie die Organisation rasch wieder aufbauten und ummodelten. Durch Wohltätigkeitsarbeit und ideologische Propaganda gewannen sie nicht nur an den Universitäten und in den berufsständischen Organisationen Massenanhängerschaft, sondern auch in den Arbeitervierteln. Als Sadat 1978 in Camp David ein Friedensabkommen mit Israel unterzeichnete, entwickelte sich die Muslimbruderschaft zur größten oppositionellen Kraft im Land mit einer Massenbasis. Ihre Mitgliedschaft ist seitdem auf über eine Million gestiegen.
In dieser Zeit war die Muslimbruderschaft unterdrückt, konnte aber überleben; währenddessen wurde die Linke fast vollständig ausgelöscht. Wie ist die Situation heute?
In den 1970er Jahren erlaubte Sadat der Kommunistischen Partei die Gründung einer legalen Frontorganisation, die in der Anfangsphase auch erfolgreich operieren konnte. Sie bildete das Rückgrat der Opposition gegen die Camp-David-Verträge von 1978 und gegen die neoliberale Wirtschaftspolitik. Aber als die islamische Bewegung in den 1980er Jahren erstarkte, stürzten sich die Kommunisten in einen geradezu manischen Kampf gegen sie: Sie verbündeten sich mit dem Staat und gaben ihre Opposition gegen den Imperialismus und die Wirtschaftsreformen auf. Dafür zahlten die Kommunisten einen hohen Zoll. Noch Anfang der 1980er Jahre hatte ihre Zeitung eine Auflage von 120.000 bis 150.000 Exemplaren, Ende der 1980er dümpelte sie bei 3.000. Ihre Unfähigkeit, ein Verständnis für den Ursprung der islamischen Bewegung zu entwickeln, hat die kommunistische Linke völlig gelähmt. Während des israelischen Einmarsches in den Libanon im Jahr 2006 erklärte sie zwar ihre Unterstützung für den Widerstand gegen Israel, bezeichnete aber die Hisbollah als reaktionäre islamische Organisation, die nicht unterstützt werden dürfe. Sie veröffentlichte im Frühsommer eine Stellungnahme, wonach Hamas die palästinensische Einheit zerstöre.
Andere Faktoren spielen auch eine Rolle, beispielsweise der Zusammenbruch der Sowjetunion. Die ägyptische Linke war stark stalinistisch geprägt. Es gab eine durch und durch stalinisierte kommunistische Partei und eine zweite, die mehr zum Maoismus neigte. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR zerfiel die kommunistische Linke weiter. Damit war das Spielfeld für die Islamisten offen, politischen Einfluss in Gewerkschaften, Armenviertel und an Universitäten zu gewinnen.
Die revolutionäre Linke entwickelte sich Anfang der 1990er Jahren mit der Bildung von kleinen Gruppierungen. Sie konnte durch im Wesentlichen propagandistische Politik jüngere Mitglieder von linken stalinistischen Gruppen gewinnen und sich an den Universitäten etablieren. Die revolutionäre Linke ist immer noch klein, aber die übrige Linke löst sich auf. Mit Beginn der palästinensischen Intifada entschieden wir uns ganz bewusst, über die Universitäten hinauszugehen und öffentliche zu arbeiten. Das war eine richtige Entscheidung, weil sich die Situation verändert hat. Mitglieder unserer Gruppe wurden verhaftet, aber wir sind einem breiteren Publikum bekannt.
Welches Verhältnis hat die revolutionäre Linke zur Muslimbruderschaft entwickelt?
Die Muslimbruderschaft besteht größtenteils aus der städtischen und gebildeten unteren Mittelschicht Ägyptens, weshalb sie von einer Reihe lähmender Widersprüche geplagt ist. Sie schwankt zwischen einer Besänftigungsstrategie gegenüber dem Regime und offener Konfrontation hin und her. Sie bezieht deutlich Stellung gegen Imperialismus und Zionismus und stellt sich an die Spitze der Widerstandsbewegung, tut dies aber inkonsequent. So übt sie Druck auf Hamas aus, Kompromisse einzugehen, äußert sich nicht klar dazu, was sie mit den Friedensabkommen mit Israel zu tun gedenkt, sollte sie an die Regierung kommen, und akzeptiert die Beteiligung ihrer irakischen Brüder an der von den USA kontrollierten Marionettenregierung. In Worten verteidigt sie soziale Gerechtigkeit und eine gerechte Verteilung des Reichtums, bezieht aber in der Praxis nicht Stellung gegen Neoliberalismus und Privatisierung (obwohl es Anzeichen für zunehmenden Druck gibt, ihre Haltung zu revidieren). Sie verteidigt die rechtliche Gleichstellung aller Bürger, behält aber ihre reaktionären Ansichten über Frauen, religiöse Minderheiten und andere unterdrückte Gruppierungen bei.