Sie unterstützen streikende Busfahrer und organisieren Marx-Lesekreise. Auch in Hong-Kong entsteht eine neue Linke. Ein Gespräch mit Elaine Hui
Elaine, du bist Mitbegründerin der Gruppe Left21 (deutsch: Links21). Ihr habt euch vor knapp einem Jahr in Hongkong gegründet. Warum?
Left21 wurde im Februar 2010 vor dem Hintergrund wachsender sozialer und politischer Spannungen gegründet. Nach der Finanzkrise im Jahr 2008 begannen wie überall auf der Welt auch in Hongkong viele Menschen am Kapitalismus zu zweifeln. Sie wollten mehr über die Finanzkrise wissen, über das kapitalistische System und vor allem über Alternativen. Die Positionen von Linken fanden zunehmend Gehör. Ein zweiter Grund besteht darin, dass es zwar viele Nichtregierungsorganisationen (NGOs) hier gibt, die meisten sich aber vor allem mit humanitären Fragen beschäftigen. Junge Leute aber wollen mehr als Menschenrechtspolitik. Sie wollen eine klare Alternative.
Dann kam es zur Jahreswende 2009/10 zu riesigen Protesten. Über 10.000 Menschen demonstrierten gegen eine Hochgeschwindigkeitsstrecke, die Hongkong mit China verbinden soll. Die Menschen hier fürchten, dass mit dem Bau der Strecke die Umwelt und viele Wohngebiete zerstört werden. Hinzu kommt, dass die Pläne von einer undemokratischen Regierung unterstützt werden, die trotz breiter Kritik daran festhält. Diese Proteste zusammen mit den allgemeinen Zweifeln am kapitalistischen System haben junge Leute wie mich dazu motiviert, die Organisation Left21 zu gründen.
Wer hat die Initiative zur Gründung von Left21 ergriffen?
Einige der linken Aktivisten haben kritisiert, dass die Proteste keine Klassenorientierung hatten. Sie organisierten ein Seminar, um Strategien für die Protestbewegung zu diskutierten, an dem viele Leute teilnahmen – Studenten, Lehrer, Arbeiteraktivisten. Sie alle waren sich im Kern einig. Sie diskutierten die Möglichkeit der Gründung einer linken Organisation und formulierten linke Ideen für die Gesellschaft. Kurz danach haben sie dann Left21 gegründet.
Was bedeutet euer Name?
Left21 steht für ein neues Selbstbewusstsein und eine neue Wahrnehmung linker Ideen. In Hongkong haben die Leute wegen der besonderen Geschichte der Region wenig Lust, sich Ideologien anzuschließen. Im Jahr 1967 kam es zu den »Hongkong-Aufständen«. Sie waren von Gewerkschaften mit starken politischen Bindungen organisiert worden. Die Bewegung wurde als links bezeichnet, war aber faktisch überwiegend nationalistisch. In den Aufständen gab es keine linke Ideologie im Sinne von arbeiterklassenbezogenen Aktivitäten, sondern sie dienten zur Unterstützung der Kulturrevolution in China und ihrer Ziele. Deshalb unterstützte die sogenannte Linke die Politik der chinesischen Regierung. Auf diese Weise wurde der Ausdruck »links« zu einem Stigma, mit dem Beijing-Anhänger bezeichnet wurden.
In den vergangenen Jahren hat sich das geändert. Studenten haben den Marxismus und linke Theorien durch marxistische Strömungen aus dem Westen kennen gelernt, insbesondere nachdem der Finanzcrash international zu einem Aufschwung für linke Ideen geführt hat. Wir haben einen Lesekreis zu Marx' »Kapital« organisiert, und dreißig Leute kamen. Vor fünf oder zehn Jahren wäre das undenkbar gewesen! Junge Leute sind jetzt viel empfänglicher für linke Ideen. Der Name Left21 gibt auch diese neue Stimmung wider. Wir denken, dass linke Ideen und eine linke Praxis wichtig sind für eine bessere Zukunft. Und im Gegensatz zu den politischen Gruppen der Vergangenheit in Hongkong bezeichnen wir uns sehr bewusst als »links«.
Was sind eure inhaltlichen Gemeinsamkeiten?
Da es immer noch Unsicherheiten gibt, was linke Politik heißt, versuchen wir einen Konsens herzustellen, wir wollen auf keinen Fall strikte Definitionen ausgeben, weil das Leute davon abhalten könnte, bei uns Mitglied zu werden. Es gibt sieben Hauptpunkte, die neue Mitglieder anerkennen sollten. Dabei handelt es sich um allgemeine Prinzipien und nicht um eng gefasste, detaillierte Positionen. Dazu gehört die Unterstützung der Arbeiterbewegung und des Arbeiterinternationalismus, die Kritik des Neoliberalismus und der kapitalistischen Marktwirtschaft, das Prinzip der ethnischen und Geschlechtergleichheit, das Bestreben nach sozialer Gleichheit und einer grün-sozialen Entwicklung. Unter dem Strich geht es um die Unterstützung der Arbeiterbewegung und den Aufbau eines Netzes von Arbeiteraktivisten.
Es gibt keine offizielle Haltung zu bestimmten politischen Strömungen und wir haben keine formellen Verbindungen zu internationalen Gruppierungen. Dennoch besteht unsere Hauptausrichtung eher im klassischen Marxismus und nicht im »Neomarxismus«.
Was ist der Hauptgrund für die neue Offenheit für linke Ideen?
Das ist das Ergebnis eines langen historischen Prozesses. Nach der asiatischen Wirtschaftskrise von 1997 wurden die Arbeiterklasse und die sozial Schwachen von einer neoliberalen Regierung und den Unternehmern angegriffen. Seitdem hat sich in der Arbeiterklasse und bei den Studenten einiges an Wut gegen das kapitalistische System aufgestaut. Im Jahr 2003 verstärkte die Vogelgrippenkrise die Unzufriedenheit vor allem bei ärmeren Leuten, weil sie sich nachteilig auf die Wirtschaft auswirkte. Viele Unternehmer senkten die Löhne und entließen Leute, um Kosten zu sparen. Sodann war die Finanzkrise ein wichtiger Wendepunkt, nach dem viele Leute am kapitalistischen System zu zweifeln begannen.
Hat sich die Streikwelle, die im Sommer China erfasst hat, bei euch ebenfalls ausgewirkt?
Eher nicht. Die Einwohner von Hongkong interessieren sich nicht sonderlich für die Ereignisse in der Volksrepublik und engagieren sich selten bei Solidaritätsaktionen. Wir haben eine Kampagne zur Unterstützung des Streiks bei Honda organisiert, aber diejenigen, die dort mitgemacht haben, hatten meistens schon vorher Interesse an der chinesischen Arbeiterbewegung. Wir versuchen aber Bildungskampagnen hochzuziehen, um Themen der Arbeiterklasse in Hongkong und auf dem chinesischen Festland miteinander zu verbinden.
Wie arbeitet Left21?
Inzwischen haben wir 70 Mitglieder. Wir sind noch lange keine Massenorganisation, aber wir wollen irgendwann eine werden. Deshalb bezeichnen wir uns auch nicht als NGO. Wir wollen eine Organisation sein, die sich auf aktive Mitglieder und eine demokratische Struktur stützt – im Gegensatz zu einer NGO, wo das ausgeführt wird, was eine kleine Zahl von Funktionären sagt.
Wir haben sieben Arbeitskreise, die sich mit Themen wie Jugendpolitik, Betriebspolitik in Hongkong oder Betriebspolitik in China beschäftigen. Eine Gruppe ist zuständig für Diskussionsveranstaltungen, eine für den Aufbau von Left21, eine für die Erstellung eines Bildungsplans und eine für linke Analysen. Das gewählte Sekretariat besteht aus Vertretern dieser Gruppen plus drei direkt gewählte Mitglieder und diskutiert die allgemeine Orientierung der Organisation.
Welche kurz- und langfristigen Ziele verfolgt ihr?
Kurzfristig wollen wir unser Netzwerk unter den Akademiker-, Arbeiter- und NGO-Aktivisten stärken. Um eine politische Partei für die Arbeiterklasse zu schaffen, brauchen wir eine sehr starke Basis und eine gemeinsame Theorie. Zweitens wollen wir konkrete Arbeitskämpfe unterstützen. Die Gewerkschaften in Hongkong haben dafür nur begrenzte Möglichkeiten. Wir wollen Streiks öffentlich unterstützen und voranbringen, und wir wollen andere Aktivisten zur Unterstützung von Arbeitskämpfen gewinnen. Im vergangenen Sommer haben die Busfahrer für höhere Löhne gestreikt. Wir haben an den Bushaltestellen Flugblätter verteilt und den Leuten erklärt, worum es bei dem Streik geht und warum es wichtig ist, die Busfahrer zu unterstützen.
Drittens wollen wir unseren Konsens in der Frage, was links ist und was die Alternativen sind, vertiefen. Einige Mitglieder haben keine genaue Idee, was links wirklich bedeutet. Wir müssen unsere Vorstellungen von unseren Zielen weiterentwickeln. Wir stehen noch am Anfang unserer Organisation, wir brauchen erst einmal stärkere Grundlagen.
Langfristig aber wollen wir eine Partei aufbauen, die tatsächlich die Interessen der Arbeiterklasse in Hongkong vertritt. Hier ist die Regierung wegen des undemokratischen politischen Systems nicht mit einer Partei verbunden und es gibt keine herrschende Partei wie in den europäischen Ländern. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass die politischen Parteien die Interessen der Arbeiterklasse nicht ausreichend vertreten konnten. In der Regel verfolgen sie eine reine Wahlpolitik und sehen in der Organisierung und Mobilisierung der Massen keine besondere Notwendigkeit. Deshalb halten viele linke Aktivisten eine Arbeiterpartei für so entscheidend, die einerseits die Regierungspolitik beeinflussen und andererseits als Instrument dienen kann, eine Massenbewegung von unten nach oben aufzubauen.
Was sind die nächsten Herausforderungen, vor denen Left21 steht?
Kürzlich haben einige Politiker darüber diskutiert, eine Arbeiterpartei in Hongkong aufzubauen. Im Gegensatz zu anderen Ländern gibt es hier keine Arbeiterpartei im Parlament, die Gründung solch einer Partei wäre also ein riesiger Schritt nach vorn. Einige der Aktivisten Hongkongs halten sich dabei allerdings zurück, weil sie glauben, dass es sich dabei um einen undemokratischen Prozess handelt, der von oben nach unten verläuft. Das hat mich darin bestärkt, wie wichtig es ist, ein starkes Netz unter Aktivisten und Arbeiterinnen und Arbeitern aufzubauen. Eine neue Partei muss nicht unbedingt von oben nach unten entstehen. Das hängt davon ab, wie stark unsere Verhandlungsmacht ist und wie stark unsere Organisation und unsere Überzeugungen sind. Mit einem starken Netzwerk haben wir mehr Einfluss auf den Gründungsprozess solch einer Partei und die Gesellschaft insgesamt. Das ist eine unserer Hauptprioritäten.
Außerdem wollen wir dazu beitragen, dass sich mehr Menschen mit Arbeitsthemen in China und internationalen Themen beschäftigen. Wir werden eine Bildungskampagne zur Bedeutung der Einführung von Tarifverhandlungen in Hongkong einleiten. In den kommenden Monaten wollen wir auch weitere Diskussion über unsere politischen Positionen zu sozialen Fragen und über Alternativen führen, um unsere Ansichten zu festigen.
Die Fragen stellte Florian Butollo