Seit Wochen demonstrieren Hunderttausende in Israel für soziale Reformen. marx21.de sprach mit dem Aktivisten Yossi Bar-Tal über Stärken und Schwächen der Bewegung
marx21: Was ist momentan los in Israel?
Yossi Bar-Tal: Die sozialen Aufstände kamen vollkommen unerwartet und wurden von niemandem vorhergesehen. Hunderttausende demonstrieren, nicht nur in Tel Aviv, sondern auch in Städten, in denen früher nie Demonstrationen stattgefunden haben. Sogar in einigen Städten im Norden, wo niemand die israelische Linke kennt, haben 10.000 bis 20.000 Leute demonstriert.
Die Demonstrationen sind gewaltfrei und bringen die Bürger zusammen. Es gibt überall Zelte – allein in Tel Aviv gibt es sechs Zeltlager. In diesen Zeltlagern finden regelmäßig Volksversammlungen statt, zu denen Leute aus den umliegenden Wohnorten kommen und über ihre Probleme reden.
Einigen Berichten zufolge sind diese Demonstrationen eher von der Mittelschicht geprägt. Stimmt das?
Die Reichen sind nicht dabei – aber zu Beginn haben auch die Armen nicht an den Protesten teilgenommen. Zunächst waren die Proteste von dem studentischen Milieu aus Tel Aviv geprägt. Inzwischen hat sich das geändert. Es gibt eine Solidarität mit den unteren Schichten. Große Teile der Bewegung sagen, dass sie nicht aufhören, bis auch die Forderungen der unteren Schichten erfüllt sind. Die Medien ignorieren die untere Schicht, weil auch die Mittelschicht dabei ist.
Welche Bedeutung hat der bei den Protesten häufig genannte Tahrir-Platz in Kairo?
Die Proteste in Ägypten haben ein Bewusstsein dafür geschaffen, dass Menschen etwas verändern können. Die Leute hier reden über Ägypten und Syrien und machen Vergleiche. Wir sehen es als die gleiche Revolte. Wir rufen Parolen wie »Assad, Mubarak, Netanjahu« oder »Geh mal« [eine Parole aus Ägypten, PB] auf Arabisch.
Die Revolte ist nicht nur gegen Bibi [Israels Ministerpräsident Netanjahu, PB] gerichtet, sondern gegen das ganze System. In Ägypten war die Revolte vor allem gegen Mubarak gerichtet, aber hier ist die Opposition genauso bescheuert wie Bibi. Leute sagen: Weder Bibi noch [Tzipi, PB] Livni. Weder die Regierung noch die Opposition sind akzeptabel.
Die Arbeiterpartei ist auch sehr gespalten und es fällt den Menschen schwer, sie als mögliche Alternative zu sehen. Eine sozialdemokratische Abgeordnete, Sheli Jechimowitch, versucht sich auf die Bewegung zu stützen, aber sie hat die Schwäche aller Sozialdemokraten.
Es geht nicht um Parteien, sondern um etwas anderes. Die kleinen anti-neoliberalen beziehungsweise dem Neoliberalismus kritisch gegenüberstehenden Parteien kriegen ein bisschen mehr Unterstützung, aber nicht viel. Es gab bisher einfach keine Unterschiede zwischen linken und rechten Regierungen. Eine Fokussierung auf Parteien wird auch dadurch verhindert, dass die nächste Wahlen erst in zwei Jahren sind und die Regierungskoalition sehr stark im Parlament vertreten ist.
Was ist die Reaktion der israelischen Gewerkschaften?
Der Vorsitzende der offiziellen zionistischen Gewerkschaft Histadrut hat gesagt, dass er die Bewegung unterstützt. Gleichzeitig sagt er, dass er die Regierung unterstütze. Er wird als korruptes Arschloch angesehen. Die unabhängigen Gewerkschaften machen Fortschritte, sie haben ihre Mitgliedschaft verdoppelt. Aber sie bleiben klein.
Es gibt einige Arbeiterkämpfe mit der Histadrut, einige ohne die Histadrut, aber die meisten Arbeiterkämpfe sind ohne die Histadrut nicht möglich. Offer Eini, der Vorsitzende der Histadrut, wird von Studenten kritisiert, aber von Arbeitern eher nicht. Immerhin hat die Histadrut die Proteste unterstützt.
Was ist die Rolle der Polizei in Israel?
Die Bullen waren noch nie so freundlich – sie sind auch ein Teil der Mittelschicht. Wegen der Demonstrationen haben sie sofort eine Gehaltserhöhung von 400 Euro bekommen. Die Regierung versucht, sie zu kaufen. Trotzdem unterstützen sie uns immer noch. Sie müssen auch Brot kaufen und haben dieselben Probleme. Die Armee ist bei den Protesten gar nicht anwesend, aber 20 Soldaten haben gesagt, sie machen in der Armee nicht mehr mit und sind dafür verhaftet worden.
Die Polizeichefs haben gesagt, sie wollen die Zeltlager abräumen, aber die einfachen Polizisten machen nicht mit. Es gibt keine gutverdienenden Bullen. Sie sagen, das sei nicht ihre Aufgabe. Sie lassen uns auch kurzfristig die Straßen blockieren. Eine Neuigkeit ist, dass überall in den Zelten gekifft wird, und die Bullen machen nichts.
Was sagen die Demonstranten zum Verhältnis zu den Palästinensern?
Die Leute unterscheiden zwischen den Arabern in Israel und anderen Palästinensern. Sie reichen der arabischen Minderheit in Israel die Hand und sagen: »Ihr dürft ein Teil des Volks sein«. Es herrscht ein französischer Volksbegriff vor, der territorial definiert ist. Im Vergleich dazu, wie es früher in Israel war, ist das sehr fortschrittlich.
Bei einer Demo mit 30.000 Teilnehmern hat eine Beduinen-Frau gesprochen, aber sie durfte nicht als Palästinenserin reden, sondern nur als israelische Bürgerin. Araber werden als »gleichberechtigte Bürger« anerkannt, aber nur als Bürger des Staates Israels. Sie werden nicht als Palästinenser anerkannt.
Die Palästinenser in den besetzten Gebieten werden meistens ignoriert. Leute sagen »Fuck Bibi, Fuck Hamas, wir machen weiter mit den Protesten«. Die Bewegung beschreibt sich als »weder links noch rechts«, und wer über die besetzen Gebiete redet, wird als »zu politisch« beschimpft. Wenn wir darüber reden, wird sich die Bewegung spalten. Trotzdem dürfen wir Linken über die Araber in Israel reden und Israelische Araber sprechen auf den Bühnen. Das war vorher nicht vorstellbar.
Es gibt einige palästinensische Demonstranten in der großen Zeltstadt in Tel Aviv und in zehn arabischen Städten innerhalb von Israel. Arabische Abgeordnete beteiligen sich, aber die Palästinenser sind noch eine kleine Minderheit. 500.000 Leute haben bis jetzt an den Demonstrationen teilgenommen, aber weniger als 20.000 bis 30.000 davon waren Palästinenser.
Wir haben eine hauptsächlich säkulare Bewegung – die Siedler sind gar nicht hier und die Ultra-Orthodoxen und die Russen kaum. Aber religiöse Juden sprechen auf den Bühnen. Es ist den Ultra-Orthodoxen nicht erlaubt zu demonstrieren, aber sie unterstützen uns trotzdem. Adina Bar Shalom, Tochter des Rabbiners Owadi Yusuf, hat klar für die Bewegung gesprochen, ebenso Rabbi Lau.
Die Palästinenser in den besetzten Gebieten können nicht anwesend sein, da sie Reiseverbot nach Israel haben. Für viele ist es ätzend zu sehen, dass die Privilegierten demonstrieren. Ich verstehe sie, und fordere nicht, dass sie uns unterstützen. Ich habe aber die Hoffnung, dass eine andere Gesellschaft aufgebaut werden kann und dass der Hass innerhalb von Israel gestoppt werden kann.
Im September soll eine Resolution für die Anerkennung eines palästinensischen Staats in die UNO eingebracht werden. Wird das in den Zeltlagern diskutiert?
Die Diskussion steht im Hintergrund, niemand nimmt sie besonders ernst. Das Militär auch nicht, weil es weiß, dass die Palästinensische Autonomiebehörde keinen Aufstand der Palästinenser will. Es gibt aber auch antimilitaristische Flyes und Aufkleber, und zwar nicht nur von den Linken. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, woher sie gekommen sind. Diese Flyer sagen: »Wenn ihr uns keine sozialen Rechte gibt, kämpfen wir nicht in euren Kriegen«.
Wie werden die Proteste weitergehen?
Momentan ist das unklar. Die Regierung hat ein Komitee gegründet, das sehr bürokratisch ist und zwei Monate Zeit haben wird, um Vorschläge auszuarbeiten. Und auch dann muss Bibi diese Vorschläge nicht annehmen und umsetzen.
Viele meinen, dass wir nicht so viel Zeit haben. Es gibt Diskussionen innerhalb der Bewegung, ob wir klare Forderungen wie zum Beispiel nach Erhöhung des Mindestlohns, Ende der Privatisierung, Einführung von Mietpreiskontrollen stellen sollen oder ob wir eine Bewegung auf der Straße bleiben sollen, die für allgemeine Forderungen wie zum Beispiel für einen Sozialstaat kämpft.
Die Regierung hat angeboten, mit uns sprechen, aber wer sind »wir«? Es gibt ein nationales Komitee, aber auch linke lokale Komitees.
Die Menschen fragen sich, wie lange wir auf der Straße bleiben können. Die Leute sind besoffen von dem jetzigen Gefühl des Erfolgs, haben aber Angst, dass sie alles sehr schnell wieder verlieren können und dass die Dynamik verloren geht. Die Medien sagen schon, dass die Demos kleiner werden und die Bewegung vorbei ist. Deswegen ist es entscheidend, die lokalen Komitees weiter aufzubauen.
Israel ist mit oder ohne Besatzung neoliberal. Zudem gibt es in Israel viele pro-neoliberale »Linke«. Das sieht man in den Berichten in [der Zeitung, PB] Ha'aretz. Die Diskussion wird weiter gehen, aber die Bewegung kann nicht bleiben, wie sie ist. Die Besatzung muss irgendwann diskutiert werden. Um diese Diskussion voranzubringen, muss der Druck auf Israel von außen erhöht werden. Deswegen sind Kampagnen wie BDS [Boykott, Deinvestition, Sanktionen, PB] wichtig.
Was sind die nächsten Schritte für die Bewegung?
Wir brauchen direkte Aktionen, wie zum Beispiel Hausbesetzungen, gewaltfreie Blockaden von privatisierten Hausverwaltungen und Straßenblockaden. Gleichzeitig müssen wir unsere demokratischen Strukturen aufbauen und erweitern.
Das professionelle Komitee muss unterstützt werden, aber wir müssen Leuten auch beibringen, wie sie selber aktiv werden können. Wir müssen das demokratische Verständnis erweitern.
Glaubst du, dass die israelische Bewegung gewinnen kann?
In einem gewissen Sinne haben wir schon gewonnen. Aber um alle Forderungen durchzusetzen, brauchen wir eine Weltrevolution. Der Prozess muss international sein. Die Leute hier freuen sich über die Aktionen in London und Chile. Aber die Regierung hier ist so stark und in der Gesellschaft verankert, dass die Proteste alleine nicht ausreichen und wir mehr aufbauen müssen.
Habt ihr Kontakt mit den Revolutionären in Kairo?
Einige, wie ich, haben Kontakt, aber das ist keine Stärke der Bewegung. Die Ägypter wollen das auch nicht. Viele wollen nicht mit Israelis verglichen werden. Sie sehen unseren Kampf als einen Aufstand der Privilegierten. Da muss ich ihnen zustimmen.
Was können Leute in Europa tun, um Euch zu unterstützen?
Wir brauchen Solidarität. Es ist wichtig, dass auch die Menschen in Europa gegen Neoliberalismus kämpfen. Nett wäre es, wenn wir auch Zelte im Görlitzer Park und Stadtversammlungen gegen hohe Mieten sehen würden. Hohe Mieten sind nicht nur in Israel ein Problem, sondern auch in Deutschland.
(Die Fragen stellte Phil Butland.)
Zur Person
Yossi Bar-Tal ist ein israelischer linker Aktivist, der in Berlin lebt. Seit dem 01. August ist er in Israel, um dort an den sozialen Protesten teilzunehmen.
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