Buchbesprechung: Karl Lauterbach: »Der Zweiklassenstaat: Wie die Priviligierten Deutschland ruinieren«, Rowohlt-Verlag 2007, 220 Seiten, 14,90 Euro
Von Horst Haenisch
Das größte Verdienst dieses Buches ist, die Entwicklungstendenzen des Sozialstaates in Deutschland, die ansonsten mit nebelhaften und verniedlichenden Begriffen verschleiert werden, in grelles Licht zu tauchen. Man spürt die Empathie mit den Opfern wie auch die Empörung über den Zynismus der Regierung und der Nutznießer der gigantischen Umverteilung von Geld und Lebenschancen von unten nach oben, die sich in den letzten Jahren, wesentlich veranstaltet von der SPD, vollzogen hat. Lauterbach entlarvt dabei die verlogenen Ideologien, mit denen diese Zustände und Entwicklungen von ihren Nutznießern gerechtfertigt werden, alles präzis mit Fakten belegt. Schließlich endet jedes Kapitel mit einem einleuchtenden Forderungskatalog. Scharfe Munition für jeden Sozialisten!
Die Zweiklassengesellschaft besteht im Grunde aus Kapitalbesitzern und Arbeitskräften, aus Privilegierten und Abhängigen. 20 Prozent der Deutschen verfügten 1988 über 43 Prozent, 2003 über 51 Prozent des gesellschaftlichen Vermögens. Je weiter man in die Reihen des Großbürgertums vorstößt, desto krasser wird es: fünf Promille der Bevölkerung verfügen über 25 Prozent, ganze 3.700 Personen über 8 Prozent des Gesamtvermögens in Deutschland. Das alte sozialdemokratische Verständnis des Sozialstaates bestand darin, die schlimmsten Auswüchse dieser Spaltung der Gesellschaft durch soziale Reformen abzumildern. Der Zweiklassenstaat hingegen befördert diese Spaltung. Dem entspricht die Pervertierung des Reformbegriffs durch die SPD seit Schröder.
Lauterbach, Bundestagsabgeordneter der SPD und Sozialexperte seiner Partei, untersucht drei Säulen des Sozialstaates: Bildung, medizinische Versorgung, Altersversorgung (Rente und Pflege). Das Grundmuster ist immer das gleiche: „In dem Ausmaß, in dem der Staat diese klassenbezogenen Unterschiede akzeptiert oder seinerseits befördert, ist er ein Zweiklassenstaat, und in diesem Sinne ist Deutschland im Bildungsbereich ein klassischer Zweiklassenstaat. Wie kaum ein anderes Land lässt Deutschland es zu, dass sich die Bildungschancen der Kinder abhängig von ihrer Herkunft so stark auseinanderentwickeln, dass die Unterschiede schon im Alter von sechs Jahren nicht mehr ausgeglichen werden können« (S. 27). Wer so ins Leben startet, bekommt anschließend die teuerste und schlechteste medizinische Versorgung, bezahlt aber die Spitzenversorgung der Privatpatienten mit, um dann früher zu sterben, nicht ohne dadurch die ansehnliche Alterversorgung der Spitzenverdiener mitzufinanzieren. „Ein Arbeiter (…) erwirtschaftet mit seiner Rente eine negative Rendite und macht einen lebenslangen Verlust von über 30.000 Euro. (…) Bei einem Einkommen, welches doppelt so hoch war wie das des Durchschnittsverdieners, liegt der lebenslange Gewinn bei über 100.000 Euro« (S. 131). So viel zum Thema Rentenloch!
Leider hat das Buch auch Mängel. Der größte Schrottplatz unseres Bildungssystems etwa, die Berufsausbildung, kommt gar nicht vor. Die bedeutendste Schwäche aber ist das sozialdemokratische Verständnis der gesellschaftlichen Dynamik: Der Zweiklassenstaat bringe „Deutschland«, d.h. den deutschen Kapitalismus, im internationalen Wettbewerb ins Hintertreffen. Also müsse die Regierung im Interesse der deutschen Wirtschaft gegensteuern.
Genau das wird nicht geschehen. Reformen im Kapitalismus, selbst solche, die im langfristigen Interesse des Kapitalismus liegen mögen, waren und sind fast immer ein Ergebnis des Klassenkampfes. Das galt für die Etappen der Arbeitszeitverkürzung als Bedingung für die Erhöhung der Arbeitsproduktivität und gilt für die Verbesserung der miserable Schulbildung. Und: welche der von Lauterbach vorgeschlagenen Reformen liegen überhaupt im langfristigen Interesse des Kapitalismus? Warum sollen eigentlich ältere Menschen, die nicht mehr produktiv tätig sein können, länger und besser leben?
Schließlich: Lauterbach ist Nationalist. Eindrucksvoll beschreibt er, wie die Oberschicht am sozial-selektiven Bildungssystem festhält, weil es ihre Nachkommen vor begabter Konkurrenz schützt und ihnen bessere Aufstiegschancen sichert. Nichts anderes schlägt er aber der deutschen Arbeiterklasse mit Blick auf die internationale Konkurrenz vor: Bootet die anderen aus! Hier findet Lauterbachs Sympathie für den amerikanischen Moral- und Gleichheitsphilosophen John Rawls ihre Grenze.
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