Der libysche Diktator Gaddafi ist gestürzt. Der Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit ist damit aber noch lange nicht beendet, meint Paul Grasse. Veröffentlichung aus marx21, Heft 22, September/Oktober 2011
Wie sich die Bilder gleichen: Jubelnde Massen auf dem größten Platz der Stadt, Freudenschreie, der Diktator ist gestürzt. Diesmal ist es nicht der Tahrir in Kairo, sondern der Märtyrer-Platz in Tripolis. Die Rebellen haben die libysche Hauptstadt im Handstreich genommen. Unterstützung erhielten sie dabei durch die Luftangriffe der NATO.
Bei Redaktionsschluss dieser marx21-Ausgabe wurde in einigen Orten Libyens zwar noch gekämpft, dennoch gibt es keinen Zweifel, dass die Rebellen den Bürgerkrieg gewinnen und Machthaber Muammar al-Gaddafi gestürzt ist. Kaum jemand wird Gaddafi eine Träne nachweinen. Über 40 Jahre lang regierte er Libyen mit eiserner Faust. Trotzdem darf man berechtigte Skepsis haben, ob nun die lang ersehnte Ära der Freiheit beginnt. Denn die libysche Revolution hat durch das Eingreifen der NATO ihren Charakter verändert. Was als ein Massenaufstand begann, endete als Militäroperation, die letztendlich durch die Feuerkraft der westlichen Truppen entschieden wurde. Anfangs wurde der Einsatz damit begründet, ein Massaker der Gaddafi-Truppen in der Rebellenhochburg Bengasi abwenden zu wollen. Er endete aber nicht mit der Abwehr der Gaddafi-Treuen vor der Hafenstadt, sondern wurde ausgeweitet, um den Sturz Gaddafis zu erreichen.
Diese Unterstützung gab es natürlich nicht umsonst. Schon jetzt beginnt die Diskussion, wer in welchem Maße von der politischen und ökonomischen Neuordnung Libyens profitiert. Vorrang haben die Länder, die sich an der Militäraktion beteiligt haben. Abdeldschalil Mayouf von Agoco Oil, dem Energiekonzern der libyschen Rebellen, machte deutlich, welche Konzerne nun zum Zuge kommen und wer außen vor bleiben wird: »Wir haben kein Problem mit westlichen Ländern, mit italienischen, französischen und britischen Firmen. Aber wir haben möglicherweise einige politische Streitigkeiten mit Russland, China und Brasilien.«
Libyen besitzt die größten Ölreserven in Afrika und die neuntgrößten der Welt. Bereits Ende April fand in London eine internationale Konferenz statt, um diese unter den Großmächten aufzuteilen. Ganz hinten anstellen muss sich Deutschland, weil sich die Bundesregierung nicht an der Militäraktion beteiligt hat. Diese Entscheidung war im Wesentlichen der innenpolitischen Situation geschuldet: Die angeschlagene schwarz-gelbe Regierung sah sich außerstande, das politische Kapital für einen Einsatz aufzubringen – gerade in einer Situation, in der eine Mehrheit der Bevölkerung den Truppenabzug aus Afghanistan fordert. Mittlerweile sehen wesentliche Teile des Berliner Establishments die Enthaltung im Libyenkrieg als Fehler an, weil damit die Chance verpasst wurde, an der Neuordnung Libyens mitzuwirken und davon zu profitieren.
Das Bombardement hat viele Libyer das Leben gekostet. Es häufen sich Berichte über Gräueltaten der Rebellen an Gaddafi-Treuen. Insbesondere Schwarzafrikaner stehen unter Generalverdacht, dem ehemaligen Diktator gedient zu haben und werden regelrecht gejagt. Unklar ist, ob das auf Weisung des Nationalen Übergangsrats TNC stattfindet.
Überhaupt ist der TNC die große Unbekannte in der Revolution. Grob sind zwei Flügel auszumachen: Einerseits die im Volk verankerte revolutionäre Leitung aus zentralen Wortführern des Aufstandes, darunter auch Vertreter radikaler islamischer Gruppen. Zum anderen finden sich im TNC ehemals hochrangige Regimeanhänger, die eine Interimsregierung mit Hilfe des Westens anstreben. Die Gründung des TNC war ein Kompromiss zwischen diesen beiden Flügeln. Eine der Bedingungen für sein Zustandekommen war, dass er dem Westen die Garantie gab, die von Gaddafi unterzeichneten Ölverträge zu erfüllen.
Der Übergangsrat war es auch, der eine Militärintervention des Westens forderte, nachdem der Vormarsch der Rebellen gestoppt wurde. Im Unterschied zu Ägypten hatte sich die Bewegung nicht in der Hauptstadt entwickelt. Durch die enormen Ölvorkommen ist Libyen ein verhältnismäßig reiches Land. Durch Subventionen und soziale Zugeständnisse war es Gaddafi möglich, insbesondere im Westen des Landes, also der Region um Tripolis, Loyalitäten und Abhängigkeiten zu schaffen. Das war ein Grund dafür, dass die Bewegung dort nur langsam Zulauf fand.
Der Aufstand stagnierte, weil seine soziale Basis nicht breit genug war. Das NATO-Bombardement verschärfte dieses Problem. Denn es stärkte Gaddafis Argument, dass die Rebellen Agenten des Westens seien, die das libysche Öl plündern wollten. In Tripolis fanden seit Beginn des Bombardements keine größeren Demonstrationen mehr gegen das Regime statt.
Nach Gaddafis Abgang ist die Zukunft offen. Im Interesse des Westens liegt eine Regierung, die berechenbarer als das bisherige Regime ist – und zudem einen demokratischen Anstrich hat. Ein mögliches Vorbild ist die Regierung Karzai in Afghanistan. Ob damit den Menschen in Libyen gedient ist, ist mehr als fraglich. Leicht könnten beim Ausverkauf des Landes Demokratie und soziale Gerechtigkeit auf der Strecke bleiben. Zudem zeigt die kürzlich bekannt gewordene Zusammenarbeit westlicher Geheimdienste mit Gaddafis Staatssicherheit das instrumentelle Verhältnis, das die EU und die USA zur Demokratie haben.
Dessen sind sich auch die Menschen, die den Aufstand getragen haben, bewusst. Kurz nach Gaddafis Sturz porträtierte die Berliner Zeitung den jungen Revolutionär Moussa Boussnina, der schon bei der ersten Demonstration in Tripolis dabei war. Angesprochen darauf, dass die alten Eliten und Wendehälse die Revolution vereinnahmen könnten, sagt er: »Wenn jemand uns unsere Revolution stehlen will, dann wird es eine zweite Revolution geben.« Dieser Zeitpunkt könnte näher sein als gedacht.
Zum Autor:
Paul Grasse ist Mitglied im Sprecherrat der Landesarbeitgemeinschaft Frieden und Internationale Politik der Berliner LINKEN.
Mehr auf marx21.de:
- Gaddafi – Des Westens liebster Feind: Nach den erfolgreichen Umstürzen in Tunesien und Ägypten erreichte die arabische Revolution schnell Libyen. Paul Grasse beantwortet die 10 wichtigsten Fragen zum Hintergrund von Muammar el Gaddafis Regime (Artikel vom 10.03.11)
- Schwerpunkt: Die arabische Revolution (Artikelsammlung)