Hartz IV ist Armut per Gesetz. Das bedingungslose Grundeinkommen verspricht dagegen Abhilfe, führt aber letztendlich in eine strategische Sackgasse. Ein Debattenbeitrag von Werner Halbauer
Das Modell eines bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) der Bundesarbeitsgemeinschaft BGE in und bei der Partei DIE LINKE sieht vor, dass alle Menschen bis zum Alter von 16 Jahren 505 Euro und alle über 16 Jahren 1010 Euro Grundeinkommen beziehen, das über ein Steuermodell finanziert werden soll, bei dem alle mit einem Einkommen von unter 6000 Euro monatlich Geld bekommen und alle mit höherem Einkommen Steuern zahlen sollen. Darüber hinaus soll es neben Zuschüssen für Personengruppen mit besonderem Mehrbedarf Wohngeldzuschüsse geben, um die großen Unterschiede bei den Warmmieten zu kompensieren.
Wer die Drangsalierung der Erwerbslosen in den Jobcentern, den verzweifelten Existenzdruck durch Massenarbeitslosigkeit, die Angst um ihre Kinder, die Demütigung und Entwürdigung wahrnimmt, versteht, dass dieses Modell auf den ersten Blick attraktiv für Erwerbslose, prekär Beschäftigte und Scheinselbständige erscheint.
Schwäche des Widerstands
Die Schwäche des Widerstands gegen die Agenda 2010, die Hartz-IV-Gesetze und die Ursachen des Niedergangs der Sozialsysteme werden durch die linken Vertreter des BGE implizit auf das Fehlen eines radikaleren Modells der sozialen Grundsicherung zurückgeführt:
Im Vorwort der Broschüre »Bedingungsloses Grundeinkommen« der Bundesarbeitsgemeinschaft stellt die stellvertretende Parteivorsitzende der LINKEN, Katja Kipping, die Frage, „ob wir eher bescheidenere Forderungen aufstellen bzw. uns vorrangig um die Abwehr anstehender Sozialkürzungen kümmern sollten oder ob es in sozialen Kämpfen nicht doch auch eines überschießenden Momentes bedarf, welches die Tücken und Ungerechtigkeiten des traditionellen Sozialstaates überwindet.« Sie hält das BGE für eine »wirkungsmächtige Idee«, ja argumentiert sogar, »nichts ist wirkungsmächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist.«
Dementsprechend soll das BGE nicht nur Armut beseitigen und unwürdige Bedürfnisprüfungen abzuschaffen, sondern darüber hinaus eine Hilfe bei der Durchsetzung von Mindestlohn und Arbeitszeitverkürzung gegen die Massenarbeitslosigkeit sein und tendenziell den Zwang zur Lohnarbeit, also die Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft durch Kapitalisten, aufheben. Somit wird dem BGE auch eine Art systemüberwindende Funktion zugeschrieben.
Es wird in der Broschüre argumentiert, dass die Einführung des Grundeinkommens für alle den Zwang enorm lockere, sich als Lohnarbeiter zu verdingen, »und zwar auf individueller Ebene und dadurch, weil es für alle gilt, auf gesellschaftlicher Ebene«. Diese Behauptung hält einer Überprüfung allerdings nicht Stand.
Steuern aus Lohnarbeit
Das BGE soll aus dem Steuereinkommen finanziert werden. Steuern sind im Kapitalismus an Lohnarbeit und Wertschöpfung gebunden. Besteuert werden Löhne oder Gewinne, die bei der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft anfallen. Im Kapitalismus besteht also mit dem BGE ein gesellschaftlicher Zwang zu Erwerbsarbeit, mit der die Finanzierung des BGE gesichert werden muss. Solange die Produzenten nicht die demokratische Kontrolle über die Produktionsmittel haben, sind sie gezwungen, ihre Ware Arbeitskraft an die Produktionsmittelbesitzer zu verkaufen.
Das angepeilte Grundeinkommen orientiert sich in der Höhe an dem, was Sozialverbände als Existenzminimum ansehen. Es mag Leute geben, die sich damit zufriedengeben und Arbeiten nachgehen, für die es keinen Markt gibt und damit für sich aus der Lohnarbeit aussteigen können. Dem Grundsatz der sozialistischen Idee, durch bewusste demokratische gesellschaftliche Organisation und Planung der Produktion und Reproduktion die gesellschaftlichen Bedürfnisse zu befriedigen und alle Gesellschaftsmitglieder daran zu beteiligen, wird beim BGE implizit der individuelle Ausstieg aus der Marktlogik entgegengesetzt.
Mit der Orientierung auf individuellen Ausstieg zur Lösung des Problems der Massenarbeitslosigkeit wird der Wunsch von Menschen nach Teilhabe am gesellschaftlichen Produktionsprozess auf der einen Seite und nach mehr Freizeit auf der anderen Seite ignoriert.
Damit steht das BGE im Widerspruch zur notwendigen Perspektive kollektiver Arbeitszeitverkürzung, auch wenn deren Vertreter dies auch fordern. Es konterkariert auch die Forderung nach einem massiven Ausbau der öffentlichen Daseinsvorsorge.
Für die Masse wird der Wunsch bestehen bleiben, an den über das Existenzminimum hinausgehenden Möglichkeiten in der Gesellschaft und am gesellschaftlichen Arbeitsprozess teilzuhaben. Im Kapitalismus ist das aber im Allgemeinen nur möglich durch die Aufnahme von gut bezahlter Erwerbsarbeit.
Mindestlohn und Grundeinkommen
Die linken Vertreter des BGE fordern zusätzlich zum Grundeinkommen einen gesetzlichen Mindestlohn. Sie argumentieren, dass das BGE hilfreich für die Durchsetzung von guten Löhnen und Arbeitsbedingungen sei, weil mit dem BGE niemand gezwungen sei, Erwerbsarbeit zu schlechten Bedingungen aufzunehmen, man quasi durch individuelle Verweigerung Druck auf das Kapital ausüben könne. Wenn das richtig wäre, bräuchte man keine Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn aufzustellen. Das Gegenteil ist der Fall. Die Einführung eines BGE würde der Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn faktisch den Boden entziehen. Wenn der Staat die Existenz aller durch ein Grundeinkommen absichert (nicht nur die der Bedürftigen), wird die Forderung »Von Arbeit muss man leben können« praktisch hinfällig.
Damit gewinnt der Lohn den Charakter eines Zusatzverdienstes zum Grundeinkommen. Es wäre eine Abkehr vom Prinzip, dass die Entlohnung für die Ausbeutung von Arbeitskraft wenigstens zur Sicherung von deren Reproduktion reichen muss. Von der Systematik würde mit dem BGE der Einführung eines universellen Kombilohns der Weg geebnet, also der Subventionierung der Unternehmer aus Steuermitteln.
DAS NEUE HEFT: AB 19. OKTOBER
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Ein zentraler Angriff der Neoliberalen zielt gegenwärtig auf die Entlastung der Kapitalisten von den Kosten für die Arbeits-, Sozial- und Rentenversicherungen. Ein staatliches Grundeinkommen würde die Kapitalisten auf der Betriebsebene vollständig aus dieser Verpflichtung entlassen.
Der Wegfall jeglicher hochbürokratischer Bedürfnisprüfung wird als ein besonderer Vorzug des BGE herausgestellt. Wer die bürokratischen Schikanen an den Jobcentern kennt, findet dieses Versprechen verlockend. Aber auch das BGE sieht neben Zuschüssen für Personengruppen mit besonderem Mehrbedarf Wohngeldzuschüsse vor, um die großen Unterschiede bei den Warm-Mieten zu kompensieren. Also muss auch hier die Bedürftigkeit geprüft werden.
Die Probleme würden sich nur verlagern, wenn das Sozialsystem ins Steuersystem eingefügt würde. Mit der Einführung eines Grundeinkommens steigt die Tendenz, darüber hinaus gehende Lohnarbeit mit dem Charakter des Zuverdienstes durch Scheinselbstständigkeit oder Schwarzarbeit zu organisieren.
Aussteigen aus dem Kapitalismus
Das Problem mit dem BGE geht allerdings über die Frage der Ausgestaltung hinaus. Die Forderung nach dem BGE ist auch strategisch problematisch. So wird in der Broschüre behauptet: »Mit der Grundeinkommensthematik wird zum Beispiel die strategische Frage aufgeworfen, wie der alte Streit zwischen Reform und Revolution dialektisch aufgelöst werden kann. Sie wird mit einem Ja zur gesellschaftlichen Transformation beantwortet und das bedingungslose Grundeinkommen als ein linkes Projekt im Rahmen einer transformatorischen und emanzipatorischen Veränderung der Gesellschaft beschrieben.«
Das BGE wird damit »als ein Baustein«, als ein Weg gesehen, über den individuellen Ausstieg aus der entfremdeten kapitalistischen Warenproduktion zu einer sozialistischen Organisation der Gesellschaft zu kommen, zu einer teilweisen Aufhebung der Warengesellschaft in der Warengesellschaft, ohne die Frage der Entmachtung des Kapitals und Enteignung der zentralen Produktionsmittel stellen zu wollen. Diese Vorstellungen, durch Kommunen oder Genossenschaften den kapitalistischen Markt überwinden zu können, sind Illusionen. Die oben beschriebenen Probleme mit dem BGE wären nur vermeidbar, wenn die Produzenten die Kontrolle über die Produktionsmittel hätten. Damit ist das BGE kein Weg zur Abschaffung der kapitalistischen Warenproduktion, sondern setzt deren Abschaffung voraus, um funktionieren zu können.
Die heutige Industriegesellschaft hat das Potential, ein würdiges Leben aller zu ermöglichen. Der massenhaften Armut steht ein gigantischer Reichtum einer Minderheit gegenüber. Aber auf absehbare Zeit wird es auch im Sozialismus notwendige Arbeit geben, die solidarisch organisiert werden muss. Als Vision für eine gerechtere Gesellschaft ist das BGE unzureichend, weil es die zentrale Ursache der kapitalistischen Krisen nicht thematisiert, nämlich den Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Arbeit und deren privater Aneignung. Deshalb macht die LINKE im neuen Programmentwurf die Eigentumsfrage im Gegensatz zu den Vertretern des BGE zu Recht zu einem zentralen Punkt.
»Materielle Gewalt« entwickeln
Die linken Vertreter eines Grundeinkommens setzen sich von den rechten Vertretern, wie Götz Werner, Dieter Althaus von der CDU oder den Bürgergeldbefürwortern der FDP, vor allem dadurch ab, dass sie zur Finanzierung die Steuerlast für hohe Einkommen massiv ausweiten wollen. Doch auf die Frage nach der Durchsetzung eines derart finanzierten BGE mit einer massiven Steuererhöhung für Reiche und Konzerne bleiben sie eine wirkliche Antwort schuldig: »Eine Idee muss zur materiellen Gewalt werden, damit sie gesellschaftlich wirkungsmächtig ist. Viele in der Gesellschaft plädieren bereits für ein Grundeinkommen: 34 Prozent der Bevölkerung in den ostdeutschen Bundesländern, 68 Prozent der Mitglieder der Partei DIE LINKE und 87 Prozent der Wählerinnen und Wähler der LINKEN. Damit das Grundeinkommen weitgehend Konsens in der Gesellschaft wird, muss natürlich noch mehr darüber debattiert werden.«
Es muss bezweifelt werden, dass die Kapitalbesitzer nach einer Debatte einem solchen gesellschaftlichen »Konsens« zustimmen werden.
Wenn es nur um Ideen ginge, und nicht um reale gesellschaftliche Kräfteverhältnisse, hätten wir in Deutschland den Sozialismus. Solange für Arbeitsplätze, Solidarität und Sicherheit gesorgt wäre, könnten sich 80 Prozent der Ostdeutschen und 72 Prozent der Westdeutschen ein Dasein in einem sozialistischen Staat vorstellen, ergab eine Emnid-Umfrage im März 2010. Es bedarf vielmehr einer »materiellen Gewalt«, um die sozialen Interessen der Mehrheit gegen die Minderheit der Kapitalbesitzer durchzusetzen. Alle großen gesellschaftlichen Veränderungen wurden nicht durch Modelle einer anderen Gesellschaft bewirkt, sondern entwickelten sich aus den konkreten, unmittelbaren sozialen und politischen Konflikten (die übrigens meistens den Charakter von Abwehrkämpfen hatten), bei denen die organisierte Arbeiterbewegung die Kraft war, die durch Massenstreiks die Macht des Kapitals in Frage stellte. Die russische Revolution von 1917 war nicht unter dem Banner »Sozialismus« erfolgreich, sondern mit den Parolen »Land, Brot und Frieden«.
Schwächen im Kampf überwinden
Die heutigen Schwächen und politischen Probleme der Arbeiterbewegung lassen sich nur durch eine Reorganisierung im Kampf um die Verteidigung der sozialen Interessen der Mehrheit überwinden. Die Entwicklung einer »materiellen Gewalt« zur Durchsetzung einer anderen Gesellschaft verwirft Katja Kipping praktisch, wenn sie es ablehnt, sich »vorrangig um die Abwehr anstehender Sozialkürzungen« zu kümmern.
Im Gegensatz zu vielen anderen Sozialisten hat Karl Marx die Arbeiterklasse nicht nur als Opfer der kapitalistischen Ausbeutung gesehen, sondern auch als potentiellen Totengräber des Kapitalismus, weil sie von ihrer objektiven Lage her ein Interesse an der Beendigung dieses Systems entwickeln kann und weil sie ihre Ziele nur erreichen kann, wenn sie im Kampf um diese Ziele die Solidarität entwickelt, die auch eine notwendige Grundlage für das Funktionieren einer sozialistischen Gesellschaft ist. Es ist die Aufgabe von Linken, diese Selbstemanzipation und Organisierung zu stärken.
DIE LINKE hat mit den Forderungen für einen gesetzlichen Mindestlohn, für eine sanktionsfreie, existenzsichernde Grundsicherung, für die Vergesellschaftung und den Ausbau der öffentlichen Daseinsfürsorge und für die radikale Verkürzung der Arbeitszeit eine gute programmatische Grundlage im Kampf gegen Dumpinglöhne und Massenarbeitslosigkeit, die auf breite gesellschaftliche Resonanz trifft. Es ist nicht ersichtlich, warum das BGE einfacher durchsetzbar sein soll. Im Gegenteil: Diejenigen, die für die Transferleistungen bezahlen sollen, machen Solidarität im Allgemeinen von der Bedürftigkeit abhängig.
Die Vertreterinnen und Vertreter des BGE lenken vom konkreten Kampf ab, öffnen die Tür zum universellen Kombilohn und vertrösten auf die Einführung eines Gesellschaftsmodells, das die grundlegenden Widersprüche des Kapitalismus nicht löst.
Zur Person:
Werner Halbauer ist Mitglied im Bezirksvorstand der LINKEN in Berlin-Neukölln und im Sprecherkreis der Sozialistischen Linken Berlin.
Mehr auf marx21.de:
Innerhalb wie außerhalb der Partei DIE LINKE ist das Bedingungslose Grundeinkommen ein umstrittenes Konzept. marx21 beteiligt sich an der Debatte und veröffentlicht in loser Folge Beiträge dazu. Dieser stammt aus dem aktuellen Magazin marx21, Heft 22. Ein Probeheft gibt es hier.
Mehr im Internet:
Die Zitate im Text stammen aus der Broschüre »Bundesarbeitsgemeinschaft Grundeinkommen« (Oktober 2010). Online unter: www.die-linke-grundeinkommen.de