Das Wesen des Staates im Kapitalismus gehört wieder ins Zentrum linker Strategiedebatte. Aus marxistischer Sicht setzt sich dieses Journal grundsätzlich mit dem Staat auseinander und beleuchtet davon ausgehend die Erfahrungen der Linken mit der Staatsmacht. Woher kommt der Staat? In welchem Verhältnis steht er zum Kapital? Ist er bloßes Instrument der Kapitalisten oder mehr? Können Linke die Staatsmacht nutzen, um Verbesserungen für die Mehrheit zu erreichen? Wenn nicht, was ist eine alternative Strategie? Diesen Diskussionen stellen sich die Autorinnen und Autoren in diesem Heft.
Liebe Leserinnen und Leser,
Wir sind auf dem Weg zum „Postnationalismus“, sagt der Mainstream neoliberaler Denker. Die globalisierte Wirtschaftsentwicklung, ihre transnationalen Konzerne, die Öffnung der Märkte, ein ungehinderter Warenfluss werden, so die Theorie, allmählich die Nationalstaaten ablösen. Und nicht nur das. Ohne die Staaten und mit der Etablierung einer dann nunmehr ungehinderten Marktliberalisierung entstehe die „Pazifizierung der Weltgesellschaft“. Heißt, lassen wir die Türen zu den Verhandlungen über die Freihandelsabkommen TTIP, CETA und Co. doch einfach geschlossen und warten auf den Weltfrieden. Der Markt wird’s schon richten.
Dass sich die Staaten jedoch nicht auf dem Rückzug befinden, schon allein weil die kapitalistische, globalisierte Wirtschaft ihre Staaten braucht, zeigte etwa die Bankenrettung nach der Weltwirtschaftskrise 2008. Es waren die Staaten, die die Weltwirtschaft (vorläufig) aus der Misere gezogen, die verzockten Bankmanager verteidigt, die Kapitalmärkte noch einmal so zurück in die Bahn geworfen haben; es waren die Staaten, die mit massiven Investitionen eine noch tiefere Weltwirtschaftskrise verhinderten. Aber auch andere Beispiele verdeutlichen die Notwendigkeit staatlichen Eingreifens in die kapitalistische Wirtschaft: Erst vor kurzem mischte sich Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) in die Gemengelage zweier Einzelhandel-Riesen, Edeka und Tengelmann, ein: Zugunsten von Edeka hob er kurzerhand das Fusionsverbot des Bundeskartellamts auf, das Beeinträchtigungen für den Wettbewerb auf dem hart umkämpften Einzelhandelsmarkt befürchtete. Und schließlich, um jeden Zweifel über einen „Postnationalismus“ aufzulösen: Wer kämpft und konkurriert denn da in Syrien, im Irak, in Afghanistan (im Einklang mit seiner jeweiligen Nationalökonomie) um die Vorherrschaft in der Welt?
Die Nationalstaaten sowie zwischenstaatliche Konkurrenzverhältnisse haben sich nicht in Luft aufgelöst und werden es auch nicht tun, solange wir in einer kapitalistischen Gesellschaft leben. Die gegenwärtige kapitalistische Gesellschaft ist ohne ihren modernen Staat nicht zu denken, sowohl in seinem Inneren als auch Äußeren.
Das bedeutet für jede politische Strategie und Gesellschaftstheorie, die einen emanzipatorischen Anspruch verfolgt, dass sie auf kurz oder lang nicht darum herum kommen wird, sich mit dem Staat bzw. Staatensystem auseinanderzusetzen.
Umso erstaunlicher ist, dass trotz der immensen Macht der Staaten in der Reproduktion kapitalistischer Verhältnisse die ausführliche Analyse dessen, was den modernen Staat ausmacht und wie mit ihm im Sinne gesellschaftsverändernder Praxis umzugehen ist, heute meist nur am Rande linker Analysen verhandelt wird.
Das war jedoch nicht immer so. Bis in die 1990er Jahre hinein, im Zuge des Falls des Ostblocks, haben Linke, angeregt über die Natur des Staats und seiner Beziehung zu Kapital und Arbeiterklasse, gestritten. Die wohl produktivste Kontroverse um den Staat in der jüngeren Vergangenheit war jene zwischen Ralph Miliband und Nicos Poulantzas. Milibands „instrumentale“ Vorstellung vom Staat sah die Interessen des Staats an die kapitalistische Klasse gebunden, weil die höchsten politischen Führungsschichten aus demselben Milieu stammen wie die Privatkapitalisten. Poulantzas hingegen argumentierte für eine „funktionale“ Auffassung vom Staat, in der der Staat immer jene Charakteristika annehme, die ihm die Gesellschaft zuschreibe, „ein Kondensat von Klassenkräften“. Andere reagierten auf diese Debatten mit einer noch schärfer konzipierten Fusion zwischen Staat und Kapital als abgestimmte Aktionseinheit. Viele sahen den Staat als Überbau der kapitalistischen „Basis“, der Staat war ausschließlich Instrument der herrschenden Klasse.
Heute erscheint es mehr denn je dringend, sich die Frage nach dem Staat neu zu stellen. Nur ein rascher Blick in die jüngste Geschichte Europas – das Scheitern Syrizas an der repressiven Memorandumspolitik der EU, aber auch das Aufkommen anderer Bewegungen des linken Reformismus wie in Spanien, England oder den USA – machen dies deutlich. Wir sollten uns dabei auf die Ergebnisse früherer Debatten um den Staat stützen, können aber nicht bei ihnen stehen bleiben. Denn wir stehen vor der Aufgabe, neue gesellschaftliche Entwicklungen zu erklären und dabei die Diskussion um den Staat unter veränderten Vorzeichen erneut aufzurollen.
Welche Definition wird also den heutigen Staaten gerecht? Wie viel hat der „Internationale Wettbewerbsstaat“ noch mit dem Nationalstaat am Anfang des 20. Jahrhunderts zu tun? Wie viel lässt sich über den Staat im Singular überhaupt erklären, wenn der Kapitalismus ein Weltstaatensystem ist, der einzelne Staat also nur im Zusammenhang mit der Staatenpluralität und seinen Konkurrenzverhältnissen begreiflich wird?
Natürlich bleiben die Analysen vom Staat bzw. dem Staatensystem nicht nur abstrakt-theoretisch, sondern ihre Thesen haben Auswirkungen auf die jeweilige politische Praxis. So lässt die Annahme eines nach links reformierbaren Staates vollkommen andere strategische Perspektiven zu als beispielsweise die These, dass der Staat als Klassenstaat nur innerhalb der vom kapitalistischen Wirtschaften gesetzten engen Grenzen „veränderbar“ sei. Spannend ist in diesem Kontext beispielsweise, dass einige der führenden Syriza-Mitglieder, bevor sie Funktionen in der neuen Regierung übernahmen, am Nikos-Poulantzas-Institut arbeiteten. Bestimmt ist dieser Zusammenhang nicht allumfänglich, um die Strategie der Syriza-Führung zu begreifen. Doch es erklärt zumindest einen Teilaspekt: dass man es, sich Poulantzas’ Theorie anschließend, streckenweise tatsächlich für möglich hielt, über einen linken Parlamentarismus Griechenland zu einem gerechteren Land zu machen. Dagegen wird, wer den Staat in seiner jetzigen Form als nur eingeschränkt reformierbar auffasst, über einen revolutionären Bruch mit dem Staat ins Gespräch kommen müssen.
Festzuhalten ist: Unterschiedliche Positionierungen zum Staat können zu grundlegend verschiedenen politischen Strategien führen. Die Analyse zum Staat muss also wesentlicher Bestandteil unser theoretischen und schließlich strategischen Diskussionen sein. Dazu gehört auch, keine Scheu davor zu haben, grundlegende Fragen nochmal neu zu stellen. Wie viel Aktualität steckt noch in Lenins These vom „Absterben des Staates“? Wie viel lernen wir von Rosa Luxemburgs „Sozialreform oder Revolution“ heute? Auch in diesem Sinne ist dieses Theoriejournal entstanden, in dem wir als politisches Netzwerk begonnen haben, solche Fragen zum Staat und dem Umgang mit ihm erneut aufzurollen. Es sind Aufsätze und Perspektiven, die jene – aus unserer Sicht grundlegende Debatte – neu anstoßen wollen.
Dieses Theoriejournal besteht aus drei Teilen.
Der erste Teil umfasst vier Aufsätze. Marxismus und der Staat – eine kurze Einführung von Stefan Bornost und Christian Schröppel stellt wichtige Grundthesen zum kapitalistischen Staat dar. Ausgehend von Marx und Engels und im Rückgriff auf verschiedene theoretische Weiterführungen (Joachim Hirsch, Tobias Ten Brink, Fred Block, Antonio Gramsci, Wladimir Iljitsch Lenin u. a.) argumentieren sie dafür, den modernen kapitalistischen Staat als Klassenstaat zu begreifen. Dies aber nicht, weil er als einfaches Instrument der kapitalistischen Klasse zu verstehen ist. Vielmehr liegt es in seinem eigenen Interesse, vertreten durch seine bürokratischen und politischen Funktionäre, langfristig die Rahmenbedingungen für Kapitalakkumulation in seinem Einflussbereich zu gewährleisten. Denn seine Existenz ist von ungehinderter Profitgenerierung und Investitionen der Kapitalfraktionen abhängig. Dieser strukturelle Mechanismus bindet Staat und Kapital als grundsätzliche Interesseneinheit.
In Der Staat und das Kapital heute beleuchtet Chris Harman diese Beziehung näher und führt sie auch auf ihre historische Genese zurück, wobei er der Rolle der Staatsbürokratie besondere Aufmerksamkeit widmet. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass die Staatsdiener im Gegensatz zu den Kapitalisten zwar nicht im Besitz von Produktionsmitteln sind, sich aber aufgrund gemeinsamer Interessen wie jene verhalten.
Im dritten Aufsatz, Nicos Poulantzas’ politische Theorie, geht Colin Barker der Frage nach, warum die Staatsanalyse des griechischen Marxisten Nicos Poulantzas letztlich keine grundlegende gesellschaftsverändernde Strategie formuliert. Denn der Weg einer allmählichen Übernahme staatlicher Strukturen durch linke Kräfte lasse, so Barker, die fundamentale Kopplung von Staat und Kapital außer Acht. Eine gesellschaftliche Umwälzung muss aber auf einen revolutionären Bruch mit den Eigentumsverhältnissen orientieren.
Der abschließende Aufsatz dieses ersten Teils, Staatliche Überwachung und Imperialismus, befasst sich mit Geheimdiensten als besonderes Merkmal kapitalistischer Staaten. Angesichts der jüngsten Skandale um NSU und NSA diskutiert Julia Meier die Rolle von Geheimdiensten in kapitalistischen Staaten sowie die Ziele hinter den scheinbar anlasslosen und auch grenzenlosen Massenüberwachungsmaßnahmen.
Der zweite Teil des Journals diskutiert politisch-strategisch anhand von konkreten Erfahrungen die Beteiligungen linker Parteien in Regierungen und behandelt grundlegende Herausforderungen, vor denen revolutionäre Aktivistinnen und Aktivisten im Umgang mit dem Staat stehen.
In einer detaillierten Auswertung Besser opponieren als mitregieren: Rot-Rot in Berlin 2001–2011 argumentieren Lucia Schnell und Irmgard Wurdack, dass die Berliner Linkspartei an der Regierung die Stadt nicht sozialer gemacht hat, sondern vielmehr u. a massiven Sozialkürzungen zustimmen musste. Auch Nils Böhlke kommt in seinem Artikel Thüringens LINKE Regierung knickt ein zu dem Ergebnis, dass die Regierungsbeteiligung der Linken in Thüringen nicht das realisieren kann, was sie sich und den Wählerinnen und Wählern versprochen hat.
David Maienreis und Christine Buchholz behandeln in Als Tiger gesprungen… Syriza nach einem Jahr an der Regierung die international breit diskutierte Entwicklung der Syriza-Regierung. Dabei gehen sie sowohl auf deren Ursprung als auch auf den status quo ein. Es geht ihnen hier nicht um eine „externe“ Manöverkritik, sondern vielmehr um den Versuch, aus der Entwicklung Syrizas Erkenntnisse für eine revolutionäre Strategie heute zu entwickeln.
Die Diskussion um die Perspektiven und Grenzen linker Regierungen wird jedoch nicht erst seit ein paar Jahren geführt, sondern wurde schon in der Sozialdemokratie des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts ausgefochten. Die wohl bekannteste Verfechterin einer oppositionellen Ausrichtung linker Parlamentsarbeit war Rosa Luxemburg. Zwei Texte von Rosa Luxemburg zur Regierungsbeteiligung, mit einer Einleitung von Volkhard Mosler zur Verdeutlichung des Kontexts, in denen sie entstanden, beschließen diesen Abschnitt des Journals. Auch ein Jahrhundert später sind sie immer noch aktuell.
Die theoretische Debatte um den kapitalistischen Staat darf kein Selbstzweck bleiben, sondern kann nur Ausgangspunkt für eine breitere Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten gesellschaftlicher Veränderung sein. Der dritte Teil des Journals versteht sich dementsprechend als ein Versuch, die Perspektiven einer politischen Praxis zu skizzieren, die über die bloße Umformung des Staats hinausgeht. Georg Frankl wirft Kritische Einblicke in die Transformationsdebatte, in der Teile der gesellschaftlichen Linken in Deutschland seit einigen Jahren das Verhältnis von Reform und Revolution neu auszuloten versuchen. Der Artikel intendiert, den Grundkonsens der durchaus pluralen Stimmen, die an der Diskussion beteiligt sind, herauszufiltern. Ausgehend davon formuliert er einige Kritikpunkte an der Transformationstheorie, die als produktiver Ausgangspunkt für weitere Debatten dienen sollen.
Als Aufforderung zur Diskussion versteht auch Paul Severin seinen Artikel Die revolutionäre Strategie für das 21. Jahrhundert, der sich der kritischen Auseinandersetzung mit der Transformationsdebatte anschließt. Severin verteidigt dabei einerseits grundlegende Prämissen der marxistisch-revolutionären Tradition, diskutiert aber zugleich im zweiten Teil – und das macht das Wegweisende dieses Artikels aus – die Herausforderungen, denen sich eine revolutionäre Praxis heute stellen muss. Es geht nicht um eine lückenlose Bedienungsanleitung für Revolutionärinnen und Revolutionäre im 21. Jahrhundert. Die Stärke von Severins Ansatz liegt dagegen darin, dass er eine produktive Balance zwischen Tradition und notwendiger Erneuerung herzustellen versucht.
Das Journal schließt mit einem – für politische Journale eher untypischen – essayistisch-literaturwissenschaftlich gehaltenen Artikel Die Natur des Menschen und die Utopie des Sozialismus ab. Robert Blättermann erstellt eine Kollage aus philosophischen Theorien, historischen Darstellungen und Beobachtungen heutiger Kulturphänomene. Ihm gelingt es so, das marxistische Argument der Veränderbarkeit der menschlichen Natur auf besondere Art und Weise nahezubringen.