In den letzten Jahren streikten Beschäftigte und ihre Gewerkschaften aus den unterschiedlichsten Bereichen. Nur einige waren erfolgreich. Ihr Beispiel muss Schule machen. Von Heinz Willemsen
»Streikrepublik Deutschland« lautete Anfang 2015 die Schlagzeile im »Spiegel«. Unter dem Beifall der Delegierten verkündete der Vorsitzende der LINKEN, Bernd Riexinger, auf dem Bielefelder Parteitag im Juni des selben Jahres: »Wir erleben die größte Streikbewegung seit Jahrzehnten. Briefträgerinnen und Lokführer, Schaffnerinnen und Erzieherinnen – sie alle wehren sich endlich!«
Gewerkschaften: Wer streikte und warum?
Angefangen hatte es bereits Ende 2014 mit dem Streik der Lokführergewerkschaft GDL, ein Konflikt, der sich über Monate hinzog. Die GDL war für Arbeitszeitverkürzung, mehr Lohn und Begrenzung der Überstunden in den Streik gegangen. Im Mai 2015 trat ver.di im Sozial- und Erziehungsdienst in einen vierwöchigen Streik. Die Beschäftigten forderten für Erzieherinnen und Erzieher in Kitas eine materielle Aufwertung von 15 bis 20 Prozent. Bei der deutschen Post dagegen wurde ver.di von einem massiven Angriff der Geschäftsführung in den Streik getrieben. Mit neu gegründeten Zustellfirmen sollte der Haustarifvertrag ausgehöhlt werden. Schließlich gingen im Juni auch die Beschäftigten an der Berliner Universitätsklinik Charité für mehr Personal in den Ausstand. Und bei Amazon führte ver.di seit zwei Jahren eine Auseinandersetzung.
Streiks hatten politische Komponente
Alle diese Streiks hatten eine starke politische Komponente. Die GDL wehrte sich gegen die Einschränkung des Streikrechts, die mit dem Gesetzt der Tarifeinheit durchgesetzt werden sollte. Das Anliegen der Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst stand im Konflikt mit der Schuldenbremse in den Kommunen. Bei der Deutschen Post AG trug die Bundesregierung als Anteilseignerin – und damit auch die SPD – Mitverantwortung dafür, einen großen Niedriglohnsektor im Konzern zu schaffen. Der Streik der Charité-Beschäftigten war ein Angriff auf das Herzstück des neoliberalen Umbaus im Gesundheitswesen, die sogenannten Fallpauschalen.
Das Bild ändert sich
In der zweiten Jahreshälfte hatte sich das Bild jedoch grundlegend gewandelt. Es waren die beiden großen Streiks von ver.di, deren Ausgang, eine Niederlage bei der Post und ein mageres Ergebnis im Sozial- und Erziehungsdienst, zur Ernüchterung führte. Nach vier Wochen Arbeitskampf im Sozial- und Erziehungsdienst wurden die Streikenden von der Anrufung der Schlichtung überrumpelt. Auf die totale Weigerung der kommunalen Arbeitgeber, überhaupt über die Forderungen der Gewerkschaft zu verhandeln, hatte ver.di keine strategische Antwort. Wie die Gewerkschaft Durchsetzungsfähigkeit entwickeln kann, wenn der ökonomische Druck gering ist, wurde nicht diskutiert. Der zentralen Frage, dass dieser Streik zugleich ein Kampf gegen die politisch gewollten kommunalen Sparzwänge ist, wich ver.di aus.
ver.dis Streikstrategie scheiterte
Die politische Darstellung des Streiks glich eher einer Kampagne, in der die ideologischen Widerstände gegen eine Aufwertung von Frauenarbeit überwunden werden sollten, als einem Kampf gegen die materiellen Interessen hinter der Schuldenbremse. Kurz, sie richtete sich eher an das Familienministerium von Manuela Schwesig als gegen das Finanzministerium von Wolfgang Schäuble. Der Abbruch des Streiks durch Schlichtung, nachdem ver.dis Streikstrategie gescheitert war, führte zu einem Aufruhr unter den Streikenden. In einer Urabstimmung der GEW stimmten 68,8 Prozent gegen den Schlichterspruch. Bei ver.di lehnten 69,1 Prozent der befragten Mitglieder das Ergebnis ab. Diese große Ablehnung bezeichnete der ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske als einmalig in der Geschichte und als großen Arbeitsauftrag.
Gewerkschaften und Führung
Dennoch wurde der Streik nicht fortgesetzt. Die Gewerkschaftsbasis hatte keine strategische Alternative zur Führung. Eine Vernetzung an der Basis hatte es nicht gegeben. Unter diesen Umständen wurden die Streikkonferenzen zu Orten, an denen Frust abgelassen, aber nicht strategisch diskutiert wurde. Ein demokratisierendes Element wie eine Streikkonferenz gab es beim Poststreik überhaupt nicht. Dort herrschte unter den Aktiven aber von Anfang an großes Unverständnis über die Streikstrategie der Fachbereichsführung.
Das Ergebnis, das gerade in dem wichtigsten Anliegen, der Verhinderung der neuen Delivery-Gesellschaften, eine Niederlage bedeutete, war für viele ein totaler Schock. Nicht selten richtete sich der Frust über das Ergebnis gegen die Gewerkschaft an sich. Diese beiden großen Flächentarifauseinandersetzungen haben einen zwiespältigen Eindruck hinterlassen. Der Ausgang dieser Konflikte hat in den Hintergrund gedrängt, dass zwei Auseinandersetzungen mit einem Erfolg endeten, bei der GDL und an der Charité.
Der Erfolg der Lokführer und Lokführerinnen
Um den Erfolg der GDL zu verstehen, muss man die unterschiedliche Reaktion der GDL und der größeren Bahngewerkschaft EVG (früher Transnet) auf die Privatisierungsstrategie der Bahn betrachten. Die fest in die sozialdemokratische Tradition der »Sozialpartnerschaft« eingebundene EVG setzte auf ein enges Verhältnis zur DB-Konzernleitung. Im Gegenzug dafür, dass sie die Privatisierungsstrategie der Bahn unterstützte, hoffte sie auf Konzessionen für die Belegschaft. Ganz anders dagegen die GDL: Dem Druck auf die Arbeits- und Lohnbedingungen der Lokführer, der durch die neuen privaten Bahnen entstand, begegnete sie durch eine Organisierungsoffensive unter den Beschäftigten dieser Bahnen. Heute ist die GDL bei vielen privaten Bahnen weitaus stärker als die EVG. So schaffte sie es, die Konkurrenz privater Eisenbahnunternehmen bei Löhnen und Arbeitsbedingungen einzudämmen. Auf dieser Basis konnte sie den Streik bei der Bahn erfolgreich führen.
Der Streik an der Charité
Der Streik an der Charité im Juni 2015 war Teil einer jahrelangen Auseinandersetzung, die schließlich im Frühjahr 2016 zum Abschluss eines Tarifvertrags führte. Erstmals seit über 15 Jahren wurde das Unternehmen auf einen verbindlichen Personalschlüssel in der Pflege festgelegt. Der Arbeitskampf hatte eine Signalwirkung für andere Krankenhäuser, es den Berlinern gleichzutun. Anders als bei der Post oder im Sozial- und Erziehungsdienst hatte die Belegschaft in der jahrelangen Auseinandersetzung Erfahrungen gesammelt und trat als selbstbewusstes Subjekt der Auseinandersetzungen auf.
Die Beschäftigten haben das übliche Top-down-Muster, das den Gewerkschaftssekretären bei Tarifauseindersetzungen einen Wissens- und Machtvorsprung vor der streikenden Basis gibt, erfolgreich durchbrochen. »Damit kommende Auseinandersetzungen erfolgreicher geführt werden können«, zog Bernd Riexinger Resümee aus dem Streikfrühling 2015, »müssen die Beschäftigten selbst zu den bestimmenden Subjekten bei der Planung und Durchführung der Organisierung und der Streiks werden«. Mit dem Modell der Tarifberater/Stationsdelegierten haben die Aktiven an der Charité den Anspruch auf Demokratisierung der Streiks mit Leben gefüllt. Denn ohne eine Demokratisierung der Streiks, das zeigt die Erfahrung von 2015, wird es schwierig, Erfolge zu erzielen.
Richtungsauseinandersetzung in Gewerkschaften
In den Gewerkschaften findet eine Richtungsauseinandersetzung statt, wie mit der Offensive der Unternehmer umzugehen ist und wie die Gewerkschaften sich für diese Auseinandersetzung aufstellen müssen. In diesem Konflikt darf die Linkspartei nicht auf der Zuschauertribüne verharren. Sie muss in der entscheidenden Phase, wenn betriebliche Unzufriedenheit in Aktion und Streik umschlägt oder wieder in Passivität verfällt, anwesend sein und eine Orientierung bieten. DIE LINKE kann Ressourcen bereitstellen, um die Vernetzung der gewerkschaftlichen Basis zu organisieren. Mit Ratschlägen zum Einzelhandel oder zu Amazon hat die Partei einen ersten wichtigen Schritt gemacht. Ohne eine organisierte Opposition von unten, die für eine sozialistische statt für eine korporatistische Politik eintritt, wird der Niedergang der Gewerkschaften weitergehen.
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