Die Tea Party war gestern, jetzt prägt Occupy die politische Debatte in den USA. Steht die amerikanische Linke vor einem Comeback? Kaum einer kann das besser wissen als der langjährige Aktivist Joel Geier. Wir haben uns mit ihm getroffen. Vorabveröffentlichung aus marx21 Nr. 23, das am 2. Dezember erscheint
Wache Augen hinter den dicken Gläsern einer Woody-Allen-Brille, ein ironischer Zug um den Mundwinkel – wenn Joel Geier der Intercontinentalflug zugesetzt hat, dann verbirgt er es. Die Hände sind noch nicht geschüttelt, da kommen schon die ersten Fragen: Wie ich die Eurokrise einschätze, ob die Merkel-Regierung überhaupt einen Plan hat, wie sich DIE LINKE in der Krise verhält. Der Mann ist auch im fortgeschrittenen Alter ein Lernender. »Ich war länger nicht in Berlin«, erzählt er.
Eine Untertreibung, wie sich herausstellt. Joels letzter Besuch fand im Jahr 1968 statt. Er war damals auf Durchreise nach Prag, wo er sich den Aufbruch live anschauen wollte. Eigentlich wollte er sich in Ost-Berlin mit einer Genossin treffen. Der Termin platzte, weil nach einem ähnlichen Treffen SED-kritische Linke Besuch von der Staatsmacht bekamen. »›Bleib mal im Westen, ist besser für uns beide‹, hat sie gesagt«, so sein lakonischer Kommentar.
Ein erster Interviewversuch scheitert an der Lautstärke im vollen »Schwarzen Café«. Dafür gibt es reichlich Eindrücke aus über 50 Jahren Aktivität als revolutionärer Sozialist – in den USA »und überall wo was los war«, vom Prager Frühling 1968 über die Portugiesische Revolution 1974 bis zum Occupy-Camp in New York. Der Abend vergeht schnell, der nächste Tag beginnt mit dem nachgeholten Interviewtermin im marx21-Redaktionsbüro.
marx21.de: Die Polizei hat das Protestcamp in New York geräumt. Ist das das Ende der Bewegung?
Joel Geier: Sicherlich nicht. Selbst wenn der Staat erfolgreich alle Zelte abreißen sollte – der Geist der Bewegung ist aus der Flasche. Vielleicht wird sie in dieser Form nicht weitermachen können. Doch unabhängig davon hat Occupy die amerikanische Politik verändert. Vor Beginn der Proteste hatten öffentlich nur zwei Flügel der herrschenden Klasse miteinander gestritten. Auf der einen Seite die Tea Party, die die Restbestände des Sozialstaats abräumen will. Auf der anderen Seite die Regierung Obama, die auch starke Einschnitte durchführen will, aber nicht sofort, damit die Wirtschaft nicht einbricht. Die Millionen enttäuschter Obama-Wähler, die verhindern wollen, dass sich auch dieser Präsident den Banken an den Hals schmeißt, hatten überhaupt keine Stimme. Occupy hat das geändert. Der Slogan »Wir sind die 99 Prozent« bringt dies fantastisch auf den Punkt: Eine winzige Minderheit bestimmt, und zieht die große Mehrheit über den Tisch. Die Bewegung hat zudem der darbenden Gewerkschaftsbewegung neue Impulse gegeben.
DAS NEUE HEFT: AB 2. DEZEMBER
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Die Zeltlager sehen nun aber nicht wie eine klassische Gewerkschaftsveranstaltung aus…
Klar, die meisten Gewerkschafter arbeiten tagsüber, die können nicht zelten. Aber die Zeltcamps sind ja nur die Spitze des Eisbergs. Die Bewegung hatte von Anfang an die passive Unterstützung der Mehrheit, auch in der Arbeiterklasse. Wir sind im fünften Jahr der Krise und fast jeder Amerikaner ist davon betroffen. Von 150 Millionen Arbeitern sind 15 Millionen arbeitslos, weitere 10 Millionen befinden sich in äußerst prekären Jobs. Wenn nicht der Partner arbeitslos ist, dann die Geschwister. Die Kinder verlieren ihre Arbeit und müssen wieder bei ihren Eltern einziehen. Fast jede Familie ist von der Krise betroffen.
Die Wohnsituation verschlechtert sich drastisch, Millionen haben ihr Haus verloren, viele werden folgen. Die Hauspreise sind um ein Drittel gefallen, die Hypotheken hingegen nicht. Dadurch sitzen viele Familien jetzt in der Schuldenfalle. Auch die Löhne sind in den letzten fünf Jahren um zehn Prozent gesunken, in der Erholung schneller als in der Rezession. Die Renten werden gekürzt, ebenso die staatlichen Beihilfen zur Krankenversorgung.
Jeder weiß, dass die soziale Ungleichheit enorme Ausmaße angenommen hat: Die Löhne sind nicht höher als vor 40 Jahren, die Reichen haben alle Früchte des Wachstums der letzten 30 Jahre in ihre Tasche fließen lassen. Gerade hat eine OECD-Studie bestätigt, dass die ungleiche Verteilung des Reichtums in den Vereinigten Staaten zur größten in allen sogenannten entwickelten Ländern gehört. Die Studie stellte fest, dass die USA keineswegs das »Land der unbegrenzten Möglichkeiten« sind, sondern zu den Ländern gehören, in denen es am schwersten ist, die soziale Leiter empor zu klettern.
Das alles wussten die Menschen natürlich oder fühlten es zumindest – dachten aber, sie könnten eh nichts ändern. Und dann kommt diese Bewegung, die ausspricht was alle denken. Occupy ist ein Hoffnungsträger dafür, dass ein anderes Amerika möglich ist.
Hoffnungsträger? Das war doch der Job von »Yes, we can!«-Barack-Obama…
Ja, war. Obama wurde gewählt, weil er versprach, Bushs Kriege zu beenden, die soziale Ungleichheit zu bekämpfen, eine Krankenversorgung für alle zu schaffen. Die Resultate liegen bei nahe null. Die meisten Menschen sehen die Obama-Regierung mittlerweile als eine Fortsetzung der Bush-Regierung an. Das hat zu einer tiefen Demoralisierung geführt, auf deren Grundlage die Tea Party aufsteigen konnte. Dann kam die massive Bewegung in Wisconsin, wo sich Arbeiter und Angestellte gegen die Einschränkung von Gewerkschaftsrechten wehrten. Hunderttausende waren auf den Beinen, Studenten besetzten den Regierungssitz in Madison – und hatten die Unterstützung der großen Mehrheit. Der Kampf in Wisconsin ging zwar verloren, hat aber zusammen mit dem Arabischen Frühling den Impuls für Occupy gegeben.
Du siehst Occupy sehr positiv. Dabei gibt es doch viele problematische Aspekte. Kalle Lasn, Chefredakteur des Adbusters-Magazin und einer der Occupy-Initiatoren hat gesagt, er träumt davon, zusammen mit der Tea Party eine dritte Partei zu gründen.
Wenn die Linke ihre Haltung zu einer Bewegung davon abhängig macht, was ein Clown darin sagt, dann hat sie ein Problem. Die meisten Occupy-Aktivisten sehen sich als Antithese zur Tea Party und nicht als Bündnispartner.
Der Kontext ist doch dieser: Die Linke in den USA wurde vor 35 Jahren besiegt. Und zwar nicht nur die politische Linke, sondern auch die Gewerkschaftsbewegung, die Arbeiterklasse insgesamt. In den 1960er Jahren war die Linke in den USA noch sehr groß, in den neoliberalen 1980ern marginal. Dies hier ist das erste große Revival der Linken seit vier Jahrzehnten. Es richtet sich gegen die Reichen und wird getragen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus der Arbeiterklasse und den unteren Mittelschichten, die keine Jobs finden und vor einer ungewissen Zukunft stehen. Das ist eine große Parallele zum arabischen Frühling und zu den Protesten in Spanien und Griechenland. Mit der Tea Party wird es kein Bündnis gegen die Reichen und die Banken geben – die Tea Party ist ja nun gerade der Sturmtrupp für die Reichen und die Banken.
Nein, was wir hier sehen, ist der Start einer linken Bewegung. Hunderttausende sind aktiv, die Bewegung hat sich in jede größere Stadt ausgebreitet und hat nach Umfragen über 100 Millionen Sympathisanten – normale Menschen aus der Arbeiterklasse, deren Klassenbewusstsein nach Jahren der Demoralisierung angesprochen wurde.
Die Bewegung hat sich unter dem Slogan »Occupy the hood« in die schwarzen Communities ausgebreitet. Das Thema Polizeigewalt führt die Leute zusammen – viele Occupy-Aktivisten erleben jetzt am eigenen Leib, womit die schwarze Community tagtäglich zu tun hat. Die Bewegung hat sich an den Universitäten ausgebreitet. Gewerkschaftsgliederungen im ganzen Land unterstützen die Bewegung, in Oakland gab es nach brutalen Attacken der Polizei sogar einen Generalstreiksaufruf, der in der Besetzung des Hafens mündete. Die Bewegung radikalisiert sich schnell durch Erfahrung. Am Anfang war die Mehrheitsposition »Die Polizei ist Teil der 99 Prozent, lasst uns kooperieren«. Mehr als 4000 Festnahmen und hunderte Verletzte später denken die meisten, dass die Polizei der knüppelnde Arm der Reichen und Banken ist.
Anfangs war die vorherrschende Meinung, dass alle Entscheidungen im Konsens fallen müssen – eine völlig verständliche Situation in einem Land, wo die Meinung des Einzelnen in der Politik überhaupt nichts zählt und keinen Einfluss hat. Doch als in Oakland die Frage nach einem Aufruf zum Generalstreik diskutiert wurde und eine Entscheidung getroffen werden musste, hat sich die 2000 Leute starke Versammlung in kleinere Gruppen aufgeteilt und abgestimmt – der Generalstreiksvorschlag wurde mit 1484 zu 46 Stimmen angenommen. Die Situation ist sehr dynamisch. Klar ist nur, dass die Bewegung weitergehen wird.
Wirklich? Im Norden der USA wird es jetzt bitterkalt, da ist Zelten recht hart…
Klar, die jetzige Bewegungsphase wird bald enden. In manchen Städten haben die Aktivisten jetzt den Takt der Asambleas von täglich auf ein- oder zweimal die Woche geändert. Sie suchen Hallen, um sich drinnen, im Warmen zu treffen. Das heißt aber nicht, dass der politische Prozess endet. Ein Beispiel: Die meisten Bürgermeister, die den Aktivisten die Polizei auf den Hals gehetzt haben, sind Mitglieder der Demokratischen Partei. Das führt natürlich zu einer noch tieferen Entfremdung von den Demokraten, als es durch Obamas Versagen eh schon gegeben war. Das begrenzt den Spielraum der Demokraten, die Bewegung auf eine reine Wahlperspektive zu lenken, so wie sie es in der Vergangenheit gemacht haben. Das macht die weitere Entwicklung schwer vorhersehbar.
In den 1960ern hat es Jahre gedauert, bis die verschiedenen Bewegungen wie die der Bürgerrechtler und die Vietnamkriegsgegner zusammenkamen und eine neue radikale Linken geboren haben. Damals gab es Höhepunkte der Bewegung, aber auch Tiefpunkte, an denen es schien, als wäre der vorherige Aktivismus verpufft. Wir stehen jetzt am Anfang eines ähnlichen Prozesses – und werden sehen, wie weit er führt.
(Die Fragen stellte Stefan Bornost.)
Zur Person:
Joel Geier ist seit über 50 Jahren in der US-amerikanischen Linken aktiv. Er ist Herausgeber des Magazins International Socialist Review.
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