Die Taliban führen den Widerstand gegen die NATO-Besatzung Afghanistans an. Warum? Paul Grasse erzählt, was auf der Afghanistan-Konferenz in Bonn lieber verschwiegen wird
Die NATO kann den Krieg in Afghanistan nicht gewinnen. Obwohl neben der Anwesenheit von ausländischen Besatzungstruppen auch die ehemaligen afghanischen Warlords und ihre Armeen massiv unterstützt werden, ist der Widerstand gegen die Besatzer und ihre afghanischen Verbündeten nicht zu bezwingen. So sieht sich das Militärbündnis inzwischen gezwungen, im Geheimen mit den Taliban zu verhandeln – zehn Jahre nach Beginn des Krieges, der zu einem schnellen Sturz des damaligen Taliban-Regimes führen sollte.
Heute wird »Taliban« von Medien und Politikern als Überbegriff für den Widerstand in Afghanistan verwendet. Tatsächlich sind sie auch die größte Gruppe. In ihrer Geschichte spiegelt sich die afghanische Tragödie: Das Land ist aufgrund seiner strategisch wichtigen Lage beständig Ziel der direkten und indirekten Intervention fremder Mächte. Das gilt auch für die Taliban. Sie sind ein Produkt der pakistanischen und US-amerikanischen Intervention in den afghanischen Bürgerkrieg nach dem Abzug der Sowjetarmee 1989.
Unterstützt von saudischem Geld
Schon in den sowjetisch-afghanischen Krieg hatte die USA mit Waffenhilfe eingegriffen. So gelang es den islamistischen Mujaheddin, die überlegen scheinende Sowjetarmee in einem Guerillakrieg zu zermürben. In einer Geheimaktion wurden, unterstützt von saudischem Geld und in enger Kooperation mit der pakistanischen Regierung und deren Geheimdienst ISI, in den 1980er Jahren jährlich Ausbilder und Waffen im Wert zwischen drei und sechs Milliarden US-Dollar geliefert. Allein 1987 erreichten so 65.000 Tonnen US-amerikanisches Militärmaterial Pakistan. Die Attacken der Kämpfer wurden von mindestens elf Teams des pakistanischen Geheimdienstes ISI koordiniert, die von der CIA trainiert und ausgebildet worden waren. Das Ziel des ISI war es, die Transportwege durch Afghanistan wieder für Pakistan zu öffnen. Dazu musste die sowjetische Besatzung verschwinden.
Die meisten Mujaheddin-Gruppen hatten ihr Hauptquartier im pakistanischen Peshawar inmitten der afghanischen Flüchtlingslager. Mehr als drei Millionen Afghanen waren vor dem Bürgerkrieg geflüchtet. Aus diesen Lagern kamen die meisten der Mujaheddin. Die pakistanische Militärregierung gründete um die Lager herum hunderte Koranschulen – Madrasas -, die zu »Universitäten« des islamischen Widerstands wurden.
Osama Bin Ladens Netzwerk
In den 80er Jahren wurde Osama Bin Laden zum Leiter einer vom ISI gegründeten Organisation, die dafür zuständig war, Gelder, Waffen und Kämpfer von außerhalb Afghanistans in das Land zu schleusen. Er und andere gewannen bis zu 35.000 Kämpfer aus arabischen Ländern für den Krieg um ein islamisches Afghanistan. Bin Ladens Netzwerk wurde später unter dem Namen Al Qaida bekannt.
Nach dem Abzug der sowjetischen Truppen stürzten Machtkämpfe der verschiedenen Gruppen von Mujaheddin untereinander das Land in den Jahren 1989 bis 1991 noch tiefer ins Chaos. Ein Viertel der Bevölkerung lebte in Flüchtlingslagern. Die US-Waffenlieferungen hatten sich in den späten 1980ern auf die Partei Hizb al Islami von Gulbuddin Hekmatyar konzentriert, der damit Kabul in Grund und Boden schoss, um seinen früheren Verbündeten Burhānuddin Rabbani zu vertreiben. Die traditionellen gesellschaftlichen Strukturen waren zerstört, die Bevölkerung wurde terrorisiert, es gab massenhaft Morde und Vergewaltigungen durch Gruppen von Mujaheddin.
Kontrolle über Handelsrouten
Währendessen wurden in den pakistanischen Madrasas auch die späteren Taliban ausgebildet. Die meisten der Taliban waren Paschtunen, die dominierende Stammesgruppe in Afghanistan, deren traditionelle Siedlungsgebiete von der afghanisch-pakistanischen Grenze zerschnitten werden. Der ISI erhoffte sich, über die Taliban die Kontrolle über die Handels- und Schmuggelrouten durch Afghanistan wiederzuerlangen, die nach dem Abzug der Sowjetunion nun durch die Kämpfe zwischen den Mujaheddin-Warlords nicht mehr benutzbar waren.
Nachdem die USA die millionenschweren Hilfsgelder für die Flüchtlingslager stoppten, bekamen die vor allem von Saudi-Arabien finanzierten Taliban immer größeren Zulauf. Nach der Erfahrung der sowjetischen Besatzung waren linke Ideen für die Afghanen keine vorstellbare Alternative mehr. Die jungen Männer, die sich den Taliban anschlossen, waren die Opfer des Krieges: Oft Waisen, ohne Bildung, eine Generation, die keinen Frieden kannte.
Die Taliban folgten einer sehr einfachen und puritanischen Auslegung des Islam, die in Afghanistan nicht heimisch war. Sie waren durch ihre Herkunft aus den Flüchtlingslagern nicht in der afghanischen Gesellschaft verwurzelt. Das machte sie der Bevorzugung irgendeiner der verschiedenen ethnischen Gruppen und Stämme Afghanistans unverdächtig und ihr Versprechen, Recht und Ordnung zu schaffen und das Land zu befrieden, glaubwürdig. Mit ihrem Eingreifen zum Beispiel bei Vergewaltigungen durch die Truppen der Warlords konnten sie sich unter den Afghanen gewisse Sympathien erwerben. Nach 16 Jahren Krieg, Besatzung und Terror gegen die Zivilbevölkerung erschienen sie als eine Alternative. Das (und die massive Unterstützung Pakistans) ermöglichte den Taliban 1994 die Eroberung Kandahars – der nach Kabul zweiten großen Stadt Afghanistans. Zwei Jahre später marschierten die Taliban mit der Unterstützung pakistanischer Waffen, saudischer Gelder und fast 30.000 pakistanischer Soldaten in Kabul ein und übernahmen die Regierung.
USA versprechen sich Stabilität
Die USA hatten damals keine Probleme mit diesem Durchmarsch. Im Gegenteil: Sie versprachen sich stabile Verhältnisse von einer Taliban-Regierung. Sicherheit für den Öltransport schien endlich in Reichweite. Eine von Unocal geführte Gruppe von US-Ölkonzernen legte Pläne für den Bau einer Pipeline durch Afghanistan im Wert von 4,5 Milliarden Dollar vor. »Die Taliban werden sich wahrscheinlich entwickeln wie die Saudis. Es wird Aramco (ein Öl-Konzern) geben, Pipelines, einen Emir, kein Parlament und eine Menge Scharia. Damit können wir leben«, so ein hochrangiger US-Diplomat im Jahr 1997, zitiert in Ahmed Rashids Standardwerk über die Taliban.
Die Rechnung ging nicht auf. Osama Bin Laden hatte 1998 Anschläge auf US-Botschaften in Afrika organisiert. Die Taliban weigerten sich, Bin Laden an die USA auszuliefern, und die USA antworteten mit Angriffen auf deren Stellungen. Zudem waren die Taliban auch nicht bereit, dem Bau einer Pipeline durch das Land durch US-Unternehmen zuzustimmen, auch nicht in den über 1998 hinausgehenden Verhandlungen, bei denen Taliban mit Vertretern der Ölunternehmen und Vertretern der USA und Pakistans an einem Tisch saßen.
Ein soziales Desaster
Jedoch waren auch die Taliban nicht in der Lage, die Armut im Land zu beenden und Stabilität zu garantieren. Zwar bekämpften sie erfolgreich die massive Korruption, aber sie verboten Frauen zu arbeiten, was besonders angesichts der vielen Toten des Krieges – vor allem Männer – ein soziales Desaster war. Ihr Tugendministerium bestrafte Frauen für fehlende Schleier, Männer für fehlende Bärte, verbot traditionelle Bräuche wie das Drachenfliegen und bestrafte Verstöße öffentlich und brutal. Dass die Taliban den Mohnanbau bekämpften und ihn im Jahr 2000 um zwei Drittel gesenkt hatten, führte bei vielen Bauern zum Verlust ihrer Lebensgrundlage. Die Unterstützung für die Taliban im Land schwand rapide. Noch dazu waren zwei Drittel der Taliban keine Afghanen, sondern arabische Islamisten. Je unbeliebter sie sich machten, desto mehr wurden auch sie als Eindringlinge gesehen.
Vor diesem Hintergrund rauften sich die Warlords Dostum und Massoud wieder zusammen und gründeten eine vereinte Front gegen die Taliban, um ihre Gebiete zu verteidigen. Diese »Einheitsfront« war die Basis der Nordallianz, die an der Seite der NATO-Truppen ab 2001 gegen die Taliban in den Krieg zogen. Sie bestand aus den Warlords, die sich im Bürgerkrieg vor der Machtübernahme der Taliban brutal an der afghanischen Bevölkerung vergangen hatten.
Afghanistan als Militärbasis
Noch bis kurz vor dem 11. September 2001 konnten die Taliban in New York eine diplomatische Vertretung betreiben. Erst nach den Osama Bin Laden und Al Qaida zugeschriebenen Anschlägen auf das World Trade Center machten die USA gemeinsam mit ihren Verbündeten gegen Afghanistan und die Taliban mobil. Sie klagten die Islamisten an, Osama bin Laden Schutz zu bieten und verlangten seine Auslieferung. In Wahrheit hatten die Taliban inzwischen mehrmals einer Auslieferung zwar nicht in die USA, aber an Saudi Arabien zugestimmt. Die Zeitschrift Village Voice berichtete sogar, dass die Taliban den USA angeboten hatten, Bin Laden so lange festzuhalten, bis die USA ihn töten könnten.
Darum ging es den USA aber nie an erster Stelle. Der Plan der USA, Afghanistan unter Druck zu setzen und anzugreifen, stammt schon aus der Regierungszeit Bill Clintons. Bereits einen Tag vor dem 11. September beschloss die Bush-Regierung, ihn in die Tat umzusetzen. Jetzt, da die Taliban unter dem Druck der Warlords standen und in der Bevölkerung immer unbeliebter wurden, sahen die USA die Gelegenheit, mit einem schnellen militärischen Sieg Afghanistan unter Kontrolle zu bekommen. Die USA dachten, in Afghanistan eine stabile militärische Basis etablieren zu können, um die rohstoffreiche Region strategisch zu beherrschen und den Iran unter Druck zu setzen: »Zentralasien ist von dauerhafter Priorität für unsere Außenpolitik«, heißt es in der Nationalen Sicherheitsstrategie der USA aus dem Jahr 2006.
Comeback der Taliban
Anfangs hießen viele Afghanen die NATO-Truppen willkommen, weil sie sich soziale Verbesserung und ein Ende der Despotie der Taliban versprachen. Der Krieg schien zunächst erfolgreich: Die Taliban zogen sich zurück, die Warlords der Nordallianz konnten mit Karsai als Galionsfigur die Regierung übernehmen. Die Truppen der Taliban verringerten sich laut einem Bericht der Washington Times auf 20.000 im Jahre 2008. Jedoch waren sie 2010 schon wieder auf 227.000 Kämpfer angewachsen. Die Taliban haben in den vergangenen Jahren ein massives Comeback geschafft – nicht nur an Kampfstärke, sondern auch an gesellschaftlicher Unterstützung. Mittlerweile haben sie wieder einen großen Teil der Bevölkerung hinter sich. Nach Einschätzung des US-Thinktanks RAND-Corporation gründet die Unterstützung nicht in geteilten islamistischen Zielen, sondern im Widerstand gegen die Besatzung. Auch die Zusammensetzung der Bewegung sei anders als früher: »Der Hauptteil der Taliban besteht aus tausenden lokalen Kämpfern und ihren Unterstützernetzwerken. Die meisten kämpfen nicht für den Dschihad. Vielmehr motiviert sie ihre Arbeitslosigkeit, die Enttäuschung über das Ausbleiben von Veränderungen seit 2001 oder ihre Wut über einen von den afghanischen, US- oder NATO-Armeen getöteten Nachbarn oder Verwandten«. Die kanadische Denkfabrik Senlis Council ist ebenfalls überzeugt, dass der Großteil des Widerstands gegen die NATO-Truppen aus »armutsgetriebenen Graswurzelgruppen« stammt. Die Unzufriedenheit mit der Karsai-Regierung und die Ablehnung der NATO-Besatzung sind die großen Rekrutierungshelfer der Taliban.
In Umfragen in der Provinz Helmand werteten mehr als die Hälfte der Befragten die Taliban als »vollkommen fair und vertrauenswürdig«. Das erneute Erstarken der Taliban ist also das Resultat der NATO-Besatzung und der Korruption der vom Westen gestützten Karsai-Regierung. Solange die NATO in Afghanistan steht, solange werden auch die Taliban Zulauf haben. Ob bei der Entstehung oder bei der Wiederauferstehung der Taliban – der Westen hat die Geister gerufen, die er heute wieder loswerden will.
GLOSSAR:
ISI – Inter-Services Intelligence, 1948 als militärischer Geheimdienst Pakistans gegründet, enge Kooperation mit der CIA besonders während der sowjetischen Besatzung Afghanistans, riesiger Unterdrückungs- und Überwachungsapparat.
Mujaheddin – Muslimischer Kämpfer gegen die sowjetische Besatzung, oft ausgebildet vom ISI.
Abdul Raschid Dostum – usbekisch-afghanischer Milizenführer, auf Seiten der sowjetischen Besatzung, dann Teil der Regierung Karsai, Kriegsverbrecher.
Ahmad Schah Massoud – Anführer einer Mujaheddin-Gruppe, Anti-Taliban, 2001 ermordet, von Karsai zum Nationalhelden ernannt.
Gulbuddin Hekmatyar – Chef der vom ISI rekrutierten als besonders fanatisch geltenden Mujaheddin-Gruppe Hizb al Islami, vom ISI und den USA zur stärksten Gruppe ausgerüstet, kämpfte gegen die pro-sowjetische Regierung ab 1978 und später gegen die sowjetische Besatzung, 1993 und 1996 Premierminister in Afghanistan.
Burhānuddin Rabbani – afghanisch-tadschikischer Warlord, Führer der Nordallianz, ab 1978 bekämpfte er die pro-sowjetische Regierung, ab 1992 bis zum Einmarsch der Taliban Präsident Afghanistans, im September als Unterhändler der afghanischen Regierung in Verhandlungen mit den Taliban ermordet.
Unocal – Bis zur Übernahme durch Texaco einer der größten Erdöl- und Erdgaskonzerne der Welt, wollte eine Ölpipeline durch Afghanistan bauen, laut Le Monde war Karsai in den 1980er Jahren Berater für Unocal.
MEINE MEINUNG:
Eine linke Perspektive
Von Paul Grasse
Die Ideologie der Taliban widerspricht allen linken Idealen. Trotzdem unterstützen viele Linke in Afghanistan den Widerstand der Taliban gegen die Besatzung – verständlicherweise.
Denn bei aller Kritik an den Taliban: Der Abzug der NATO und nationale Selbstbestimmung sind die Voraussetzung dafür, in Afghanistan überhaupt einen Kampf für soziale Gerechtigkeit und die Befreiung der Frauen führen zu können. Eine Linke, die sich vom Kampf für Unabhängigkeit distanziert, wird keinerlei Rückhalt in der Bevölkerung haben, um die künftigen Machthaber herauszufordern. Anzuerkennen, dass die Taliban das Gesicht des Widerstands sind, bedeutet nicht, ihre Ideologie oder gesellschaftlichen Visionen zu teilen.
Zur Person:
Paul Grasse ist Mitglied im Sprecherrat der Landesarbeitsgemeinschaft Frieden und internationale Politik der Berliner LINKEN.
Mehr im Internet:
- LINKE-MdBs protestieren bei Afghanistan-Konferenz (Frankfurter Rundschau, Hessische/Niedersächsische Allgemeine)
Mehr auf marx21.de:
- NATO in Feindesland: Zehn Jahre nach Beginn des Afghanistankriegs wird die Niederlage des Westens immer deutlicher. Doch ein kompletter Truppenabzug kommt für die NATO nicht in Frage. Dafür steht zu viel auf dem Spiel, meinen Christine Buchholz und Stefan Ziefle
Schlagwörter: Afghanistan