Die Occupy-Bewegung ist in Deutschland angekommen. Wie soll sich DIE LINKE auf die Proteste beziehen, fragt Luigi Wolf
Soziologen sollen ja eigentlich die Gesellschaft erklären können – im Idealfall sehen sie deren Entwicklungen sogar voraus. »Vergiss die USA. Es ist das letzte Land, in dem irgendeine progressive Massenbewegung entstehen wird.« So schätzte noch im Sommer Michael Burawoy, einer der prominentesten und dazu einer der wenigen marxistischen Soziologen der USA, die Lage in seinem Land ein. Vielleicht erklärt das die Überraschung und Begeisterung, die »Occupy Wallstreet« hervorrief.
Die Proteste vor der New Yorker Börse zeigten auf, dass Verzweiflung und Zerfall in der US-Gesellschaft nicht nur den organisierten rechten Wahnsinn der Tea-Party-»Bewegung« nähren müssen. 200 Menschen, die vor knapp drei Monaten vor der Wall Street demonstrierten und dann eine kleine Zeltstadt errichteten, wurden plötzlich zu einer landesweiten politischen Kraft. Die Occupy-Wallstreet-Bewegung – oder OWS, wie sie sich in den US-Medien als selbstverständliche Abkürzung etabliert hat – ist mittlerweile laut landesweiten Umfragen wesentlich beliebter als die mit vielen Millionen Dollar gesponserte Tea Party.
Proteste rund um den Globus
OWS löste eine globale Mobilisierungswelle aus. Nur vergleichbar mit dem 15. Februar 2003, als weltweit 15 Millionen Menschen gegen den damals drohenden Irakkrieg demonstrierten, inspirierte OWS Menschen rund um den Globus. Mit einer Mobilisierungszeit von lediglich vier Wochen gelang es, am 15. Oktober Millionen Menschen in über 1000 Städten auf der ganzen Welt auf die Straße zu bringen. An diesem Tag kam die Bewegung auch in Deutschland an. 20.000 Demonstranten in Berlin und Frankfurt und Zeltlager von einigen hundert Aktivisten mögen da zunächst bescheiden anmuten. Und in der Tat ist die Basis in Deutschland eine andere als in anderen europäischen Ländern.
Während in Portugal, Griechenland und Spanien die Wirtschaftskrise so existentiell geworden ist, dass sie allgemein mit der Weltwirtschaftskrise der 1930er verglichen wird, scheint sich Deutschland von dieser Entwicklung abzukoppeln. Die niedrigste Arbeitslosigkeit seit zwanzig Jahren und ein Exportrekord scheinen dem Krisenkorporatismus von Regierung Merkel und der IG Metall (Verlängerung des Kurzarbeitergeldes, Abwrackprämie, kaum Entlassungen gegen Lohneinbußen und sozialen Frieden) zu bestätigen. Angesichts dessen ist die Resonanz erstaunlich, auf die die Occupy-Bewegung in Deutschland stößt. Schon im August fragte der Herausgeber der FAZ, des Flagschiffs des deutschen Konservatismus, ob die Linke mit ihrer Kapitalismuskritik nicht doch Recht hatte. Damit war das Wirkungsfeld der Occupy-Bewegung zunächst bestimmt. Nicht Massenprotest, sondern eine tiefgreifende ideologische Grundsatzdebatte ist der Hauptverdienst, der weit über die Mobilisierung von 20.000 Demonstranten hinausgeht und sich in Umfragen in einer Unterstützung von 87 Prozent für die Bankenproteste ausdrückt.
Skeptisch gegenüber Parteien
Um so irritierender ist es, wenn diejenigen, die seit vielen Jahren die Kapitalismuskritik öffentlich geübt haben und immer vor der Krise gewarnt haben – nämlich Anhänger und Mitglieder der LINKEN -, nicht die Träger dieser Bewegung darstellen und auch nicht unbedingt mit offenen Armen auf den Protestversammlungen der Occupy-Bewegung empfangen werden. Die Bewegung ist in der ganzen Welt sehr parteien- und organisationskritisch. Sogar von Handgemengen ist berichtet worden, wenn Mitglieder der LINKEN nicht ihre Fahne einrollen wollten, falls diese auf den Protestversammlungen als unerwünscht erklärt wurden.
DAS NEUE HEFT: AB 2. DEZEMBER
Titelseite, Inhaltverzeichnis ansehen (Kostenloser Flash Player muss installiert sein)
Für größere Ansicht bitte mit der Maus auf die Titelseite klicken. Großansicht kann mit der Taste »Esc« (links oben auf deiner Computertastatur) wieder verlassen werden.
marx21 erscheint fünfmal im Jahr.
Hier die aktuelle Ausgabe als Einzelheft bestellen (3,50 plus Porto) oder marx21 abonnieren (4 Euro pro Heft, frei Haus) bzw. das Jahresabo-Angebot (20 Euro plus Buchprämie, frei Haus) nutzen.
Wer bisher noch keine marx21-Ausgabe bestellt hat, kann einmalig ein kostenloses Probeheft ordern (in der Drop-Down-Liste »Art des Abonnements« die Option »Ich will eine Ausgabe von marx21 kostenlos testen« auswählen. Felder zu Kontoangaben einfach leer lassen.)
Die Skepsis der Aktivisten ist verständlich. Sie drückt aus, dass die Repräsentanten die Repräsentierten zu oft vertreten und dann verraten haben. Dass sie wie die Grünen als Friedenspartei gestartet sind und als Kriegspartei endeten. Oder wie Michael Sommer am 3. April 2004 der rot-grünen Regierung auf einer Großdemonstration von einer halben Million Menschen gegen die Agenda 2010 einen »heißen Herbst« ankündigte, um dann im September des gleichen Jahres Wahlkampf für die SPD zu machen. Der Anspruch der neuen Aktivisten-Generation, die eigenen Interessen von niemanden vertreten zu lassen, sondern die Geschicke selbst in die Hand zu nehmen, sollten wir als Stärke verstehen, die einem Sozialismusverständnis der Selbstbefreiung sehr verwandt ist.
DIE LINKE braucht sich nicht zu fürchten
Schnell werden die Linken Gelegenheit haben, sich in den Augen der Aktiven zu beweisen. Alle äußern sie Verständnis für die Bewegung. Selbst Angela Merkel ist nun für eine Börsentransaktionssteuer und von Sigmar Gabriel ist Selbstkritik an der letzen sozialdemokratischen Regierung zu hören. »Lasst Euch nicht umarmen!«, rief deswegen der marxistische Philosoph Slavoj Žižek bei einer viel beachteten Rede vor 10.000 Menschen in New York. Die Abwehrreaktionen solcher Vereinnahmungsversuche treffen manchmal auch DIE LINKE. Die Partei braucht allerdings eine ehrliche und offene Debatte nicht zu fürchten.
So haben beispielsweise die Empörten, wie die Bewegung in Spanien heißt, sich zwar angesichts der bevorstehenden Parlamentswahlen nicht zu einer parteipolitischen Positionierung durchringen können. Auf der letzten großen Demonstration vor der Wahl trugen sie stattdessen die regierende sozialistische Partei in einem großen symbolischen Trauerzug zu Grabe, weil diese alle ihre Ideale verraten habe. Gleichzeitig führte die Bewegung aber eine eigenständige, unabhängige Massenaufklärungskampagne zu den Wahlen durch. Sie warnte vor der Stimmenthaltung, die nur den Konservativen nützen würde. Und sie stellte das Abstimmungsverhalten und die politischen Positionen aller – also auch der kleinen linken – Parteien vor. Bei der Wahl am 20. November konnte Izquierda Unida, die Vereinigte Linke, ihre Stimmenzahl um 700.000 steigern und damit fast verdoppeln. Auch andere linke Unabhängigkeits- und Autonomielisten gewannen massiv Stimmen hinzu.
Occupy-Bewegung ist gefordert
Auch in Deutschland werden die Menschen von der Occupy-Bewegung konkrete Antworten erwarten. Sowohl die Regierung Merkel als auch Sozialdemokraten und die Grünen bieten nun die Regulierung jener Finanzmärkte an, deren Deregulierung sie gemeinsam durchgeführt haben. Gleichzeitig betreiben sie die Euro-Diktatur, die in Griechenland im Interesse der Banken die Demokratie aushebelt, wie die Verhinderung des Referendums gezeigt hat. »Echte Demokratie jetzt« fordert die Occupy-Bewegung. Das kann nur die demokratische Kontrolle über den Bankensektor bedeuten – eine Forderung, die DIE LINKE als einzige politische Partei aufstellt.
Auch in der Schuldenfrage hält die Occupy-Bewegung schon jetzt einen entscheidenden Schlüssel in der Hand. Wenn sie verkündet: »Wir sind die 99 Prozent«, dann meint sie damit, dass ein Prozent der Superreichen das Problem sind. Was nach einer einfachen, eingängigen, populistischen Parole klingt, beschreibt die Realität erstaunlich präzise: In Deutschland gibt es 830.000 Millionäre, die zusammen 2,2 Billionen Euro Finanzvermögen besitzen. Das ist mehr als jene 2 Billionen Euro, mit denen Bund, Länder und Kommunen zusammen verschuldet sind. Der Reichtum dieses einen Prozents der Bevölkerung ist noch dazu in direkt umgekehrtem Verhältnis zum Wachstum der Staatsschulden entstanden. Oder anders gesagt: Der Reichtum der Wenigen ist identisch mit der Verschuldung der Vielen. DIE LINKE schlägt nun vor, eine einmalige Abgabe von 50 Prozent auf dieses Finanzvermögen vorzunehmen und damit auf einen Schlag die Staatsschulden zu halbieren.
Kapitalismuskritik ist beliebt
Schuldenfrage und Bankenrettung zeigen exemplarisch, wie demokratisches Denken und gesunder Menschenverstand die Occupy-Bewegung zur Programmatik der LINKEN bringen könnte. Der enorme Popularitätsschub, den Sahra Wagenknecht in letzter Zeit durch ihre Kapitalismuskritik erfuhr, ist dafür ein ermutigender Hinweis. Das sollte den LINKEN die nötige argumentative Geduld und das Selbstbewusstsein geben, in einen offenen Dialog mit der Occupy-Bewegung zu treten und gemeinsam mit dieser nach spanischem Vorbild Volksuniversitäten in Zelten, auf öffentlichen Plätzen und in Universitätsräumen zu errichten.
Aber DIE LINKE hat auch schon lange die Erfahrung machen müssen, dass allein die Popularität ihrer Forderungen noch keine Durchsetzungsmacht bedeutet. Hier könnten die Erfahrungen von Occupy Oakland in Kalifornien lehrreich sein. Dort hat die Occupy-Bewegung, nachdem eine Zeltstadt gewaltsam geräumt wurde, die Empörung darüber zur mutigen Mobilisierung genutzt. Intensiv in Arbeitsgruppen von je 40 Personen diskutiert, stimmten auf einer Generalversammlung 1484 Aktivisten für und 40 gegen einen Aufruf zu einem eintägigen Protestgeneralstreik. Eine fieberhafte – systematisch organisierte, aber bisweilen auch karnevalesk-ausgelassene Mobilisierung in der Stadt führte schließlich dazu, dass Lehrer, Krankenschwestern und die Hafenarbeiter den Streik mehr oder weniger aktiv unterstützten und erstmals seit 1946 ein Generalstreik eine US-amerikanische Stadt lahmlegte – und damit den fünftgrößten Hafen des Landes.
Eine Portion aktivistischen Mutes könnte auch die bundesdeutsche Linke vertragen. Es geht eben nicht nur darum, gute Forderungen aufzustellen und zu warten, bis sich diese in Gewerkschaften und Verbänden oder aber auch durch geduldige Aufklärung in einer Hegemonie in den Köpfen der Mehrheit festsetzen. Aktivistischer Mut kann selbst zu einer aufklärerischen Kraft werden, da er Ohnmacht und Zynismus in einer kollektiven Erfahrung überwindet und damit die Köpfe der Menschen für neue Argumente und Erfahrungen zugänglich macht.
Eine neue politische Generation
Auch wenn unklar ist, ob die Occupy-Camps überwintern können, konstituieren die Occupy-Aktivisten eine neue politische Generation. Das Verhältnis zu dieser wird über die Zukunft der Linken entscheiden. Überwindet sie Pessimismus und Selbstbeschäftigung, kann DIE LINKE hierzulande eine produktive Rolle spielen. Wenn sich jahrelanges, geduldiges, strategisches Netzwerken mit der Energie der Occupy-Bewegung verbindet, kann die Linke zu einem Motor gesellschaftlicher Aktivierung werden. In den USA waren es gerade radikale Linke, die in Outreach-Commitees (Ausweitungskomitees) ihre Rolle in der Bewegung fanden. Der Generalstreik von Oakland zeigt, dass dies durchaus zu beiderseitigem Vorteil geschah.
Sollten ein durch die Eurokrise bedingter Einbruch des Exportes oder Attacken auf den öffentlichen Dienst in Vorwegnahme der Schuldenbremse den deutschen Sonderzustand beenden, wäre die Linke dann gut platziert. Auch hierzulande könnten wir die Soziologen überraschen. Denn Deutschland ist mittlerweile der letzte Ort, an dem sie eine radikale, massenhaft getragene Widerstandsbewegung erwarten.
Zur Person:
Luigi Wolf war im Vorfeld der Bundestagswahl 2009 im Bundeswahlbüro der LINKEN tätig. Derzeit schreibt er eine Doktorarbeit über »Führung und Partizipation in gewerkschaftlichen Organizing-Kampagnen«.
Mehr auf marx21.de:
- »Der Geist ist aus der Flasche«: Die Tea Party war gestern, jetzt prägt Occupy die politische Debatte in den USA. Steht die amerikanische Linke vor einem Comeback? Kaum einer kann das besser wissen als der langjährige Aktivist Joel Geier. Wir haben uns mit ihm getroffen
- Auf antikapitalistischem Kurs: Das beschlossene Programm ist eine gute Grundlage, neue Mitglieder für DIE LINKE zu gewinnen. Aber dafür muss die Partei sich nach außen wenden. Von Nils Böhlke