Am 24. Oktober 1929 ereignete sich der wohl folgenreichste Börsenkrach der Geschichte. Es war der Auslöser der Weltwirtschaftskrise. Finanz- und Wirtschaftkrisen gehören zur Geschichte des Kapitalismus. Sie erzeugen Verlierer und Gewinner, verteilen Märkte und Profite neu – und geben die Gelegenheit, die gesellschaftspolitischen Kräfteverhältnisse zu verändern. Nur zu wessen Gunsten, fragt Arno Klönne
Dieser Beitrag des im Jahr 2015 verstorbenen Soziologen und Politikwissenschaftlers Arno Klönne erschien erstmals im Dezember 2011 auf marx21.de.
Aktienabstürze, heftige Turbulenzen im so genannten Finanzmarkt, scheiternde Großbanken, Staatspleiten und die atemlose Suche nach »Rettungsschirmen« – neu oder überraschend ist all das nicht im historischen Prozess der auf Maximalprofit drängenden Verwertung von Kapital. Spekulation war und ist stets ein Element kapitalistischer Ökonomie. Der Spekulant aber, schrieb Friedrich Engels 1844, »rechnet immer auf Unglücksfälle«.
Finanz- und Wirtschaftskrisen wirken durch Zerstörung »schöpferisch«, Konkurrenten können niedergemacht, Marktanteile neu erobert werden, die Hackordnung bei Unternehmen und Banken wird novelliert, innerstaatlich und international. Ein weitreichender Crash setzt die Politik unter Druck, gesellschaftliche und zwischenstaatliche Machtstrukturen werden umgestaltet. Nicht anders war es nach dem »Schwarzen Freitag« 1929, in jener Weltwirtschaftskrise, die vielfach eine Erinnerungsfolie abgibt für den Diskurs über die aktuellen Brüche und Umbrüche im kapitalistischen Finanzsystem.
Weltwirtschaftskrise: Börsencrash in New York
Auslöser der weltwirtschaftlichen Turbulenzen ab Ende der 1920er Jahre war ein jäh auftretender Wertverfall von Aktien an der Wall Street, eine spekulative Großblase platzte. Nach Ende des Ersten Weltkrieges hatten die USA den Spitzenplatz im internationalen Kreditgeschäft erobert. Der Börsencrash in New York führte dazu, dass Anleihen im großen Stil zurückgezogen, Investitionsgelder gekündigt und Handelsbeziehungen reduziert wurden – die weiter aufstrebende wirtschaftliche Supermacht war nun für eine Weile damit beschäftigt, ihre inneren Verhältnisse zu stabilisieren.
Der Hintergrund: Industriekapitalistische Massenproduktion braucht, wenn sie sich rentieren soll, massenhaften Absatz, möglichst viel Kaufkraft auch bei der lohnabhängigen Bevölkerungsmehrheit – aber ein hohes Lohnniveau schmälert die Gewinne. Ein dauerhaftes Dilemma kapitalistischen Wirtschaftens, dem sich eine Kräftigung der Nachfrage durch Konjunkturspritzen oder kreditfinanzierte Aufträge des Staates am ehesten als Ausweg anbietet. Wirtschaftspolitik à la Keynes also, wenn man das so nennen will.
Mit dem »New Deal« versuchte die US-amerikanische Politik diesen Weg zu gehen und nahm dabei einige Rücksicht auf die Konsumkraft der eigenen Bevölkerung. Wirklich erfolgreich war diese Politik aber erst, als unter den Bedingungen des Zweiten Weltkrieges die Rüstungsproduktion florierte, auch die für den Export. Die Kriegsituation gab den USA die Chance, im internationalen Kredit- und Währungsverkehr endgültig den ersten Rang zu besetzen und hier auch die britische Konkurrenz zu verdrängen. Ebenso profitabel war der nun erleichterte Zugriff auf die Bodenschätze ferner Territorien. Die epochenbestimmende weltwirtschaftliche Hegemonie der USA kam nun zustande.
Vorherrschaft in Europa
Anders der »deutsche Weg« nach dem Finanzcrash von 1929: Der Niederlage im Ersten Weltkrieg, der Inflation von 1923 und der harten politischen Auseinandersetzung um die gesellschaftliche Verfassung der Weimarer Republik in ihren ersten Jahren war eine kurze Zeit der »relativen Stabilisierung« gefolgt, auch des Wiederaufbaus industriekapitalistischer Fähigkeiten. Doch der eben zitierte Begriff täuscht hinweg über brisante Probleme und Konflikte der sogenannten »Goldenen Zwanziger Jahre«. Von einer in sich soliden, von parlamentarisch-demokratischen Kräften der »Mitte« regierten, nur durch »Extreme rechts und links« belästigten Republik kann auch für diese Phase gar keine Rede sein. Das deutsche Industrie- und Bankkapital hatte sich vom Ersten Weltkrieg einen »Platz an der Sonne« erhofft, die Vorherrschaft in einem »europäischen Wirtschaftsraum« und den Zugriff auf »Raum im Osten«. Diese Ambition war nach 1918 keineswegs aufgegeben.
Der populäre Spruch, die »Fesseln von Versailles« müssten »gelöst« werden, zielte vorrangig auf solche wirtschaftsimperialistischen Pläne ab. Zudem wollten die meisten »Wirtschaftsführer« jene Konzessionen wieder rückgängig machen, die sie unter dem Druck der Arbeiterbewegung in den Jahren ab 1918 den sozialen Interessen der »Unterschichten« hatten machen müssen: Das Mitreden von Betriebsräten, den gewerkschaftlichen Einfluss auf die Tarife, die Fortschritte im gesetzlichen Sozialversicherungssystem, die Beschränkung der Arbeitszeit. Und selbstverständlich war es ihrer Meinung nach erforderlich, alle kommunistischen, rätedemokratischen und auf Sozialisierung drängenden Organisationen und Ideen von Staats wegen zu unterdrücken.
Weltwirtschaftskrise: Brünings Sparkurs
Der »Schwarze Freitag« im Oktober 1929 und seine Folgen, so unangenehm sie zunächst für den einzelwirtschaftlichen Ablauf in Deutschland sein mochten, boten die Gelegenheit, diese Ziele operativ umzusetzen. Das verlief freilich nicht reibungslos und nicht ohne Risiken und »Kollateralschäden«. Aber zum Kapitalismus gehört eben auch politische Spekulation.
US-amerikanische Kredite wurden aus der deutschen Wirtschaft abgezogen, die industrielle Produktion ging drastisch zurück und viele Menschen wurden arbeitslos. Einige Banken mussten vom Staat »rettend« übernommen werden – als das Finanzgeschäft wieder Rendite abwarf, wurden sie reprivatisiert.
An die Stelle parlamentarisch legitimierter Regierungen traten die Präsidialkabinette, vom Reichspräsidenten eingesetzt und mit »Notverordnungen« autoritär regierend. Das erste, unter dem Kanzler Heinrich Brüning, schlug einen rigorosen »Spar«-Kurs ein, mit existenzgefährdenden Einschnitten bei sozialen Leistungen und Kürzungen der Gehälter im öffentlichen Dienst. Massenarmut breitete sich rasch aus, die Kaufkraft sackte ab. Deflation war das Resultat. Brüning ließ sich bei dieser Politik auch von der Absicht leiten, Zahlungsunfähigkeit bei den Reparationsverpflichtungen zu demonstrieren, auch er wollte »Versailles« sprengen. In diesem gesellschaftlichen Klima konnte sich Hitlers NSDAP mit ihrem rasanten Erfolg bei den Reichstagswahlen 1930 als Massenpartei etablieren, sie wurde bündnisfähig für die Deutschnationalen und die dieser Partei nahestehenden Verbände. Nun flossen ihr auch Gelder aus der Wirtschaft zu, und bei maßgeblichen Unternehmern und Bankern kam das Kalkül auf, die »Hitlerbewegung« als Vehikel für den Übergang in eine andere Staatsform, in eine kapitalistische Diktatur zu nutzen.
Konjunkturförderung durch Aufrüstung
Als die Präsidialkabinette von Papen und von Schleicher auch in den Augen ihrer schwarz-weiß-roten Freunde versagten und die Wählerzahlen für die NSDAP etwas zurückgingen, schien eine durchgreifende »Reichsreform« das Gebot der Stunde zu sein. Reichspräsident von Hindenburg, Symbol »preußischer« Tradition, wurde dazu animiert, Hitler zum Reichskanzler zu ernennen.
Im ersten Kabinett des »Dritten Reiches« waren deutschnationale »Fachleute« noch in der Mehrheit, aber der Weg war geebnet für den deutschen Faschismus. Dieser änderte den finanzpolitischen Kurs, in Richtung auf Staatsverschuldung, Konjunkturförderung durch Aufrüstung und Ausbau eines politisch sowie militärisch einzusetzenden »öffentlichen Dienstes«. Die Arbeiterbewegung wurde in die Illegalität verbannt und dort brutal verfolgt, die Betriebe wurden auf das Prinzip »Führer und Gefolgschaft« umgestellt.
Der Krieg war einkalkuliert
Militär- und außenpolitisch kamen die alten Ziele deutscher Großunternehmen und Banken wieder ohne Einschränkungen zur Geltung. Ein neuer Krieg als Mittel, den »europäischen Wirtschaftsraum« unter deutscher Herrschaft nun endlich durchzusetzen, war einkalkuliert.
Deutsches Kapital konnte sich die schönsten Hoffnungen machen, und Staatsverschuldung war unter diesen Umständen kein Problem. Arbeitslosigkeit gab es ab 1935 auch nicht mehr – was dazu beitrug, einen Teil der deutschen Arbeiterbevölkerung in die faschistische »Volksgemeinschaft« einzupassen. Dahin wirkte allerdings auch Resignation, Enttäuschung darüber, dass die deutsche Linke in ihren verschiedenen Richtungen dem an die Macht drängenden Faschismus den Weg nicht hatte versperren können.
SPD: Weltwirtschaftskrise unterschätzt
Woran lag es? Die Antwort, die Verfeindung innerhalb der Arbeiterbewegung habe eine gemeinsame Abwehrfront gegen die Nazis und ihre Aufstiegshelfer verhindert, liegt nahe und ist keineswegs falsch. Aber sie reicht nicht aus. Um die Situation ab 1929 zu betrachten: Wie haben Sozialdemokraten hier und Kommunisten dort die anbrechende wirtschaftliche Krise gedeutet, welche Entwicklungen im politischen System haben sie erwartet, was waren ihre jeweiligen Handlungskonzepte?
Etwas verkürzt: Die SPD vertraute auf rasche Rückkehr kapitalistischen Wirtschaftens zum Business as usual. Das mögliche Ausmaß und die gesellschaftspolitischen Folgen der Arbeitslosigkeit hat sie völlig unterschätzt. Dass im Rahmen kapitalistischer Ökonomie eine faschistische Staatsform sich etablieren würde, konnte sie sich nicht vorstellen. Gewaltbereiten Wirtschaftsimperialismus hielt sie für eine theoretische Konstruktion, von der man sich praktisch nicht in Unruhe versetzen lassen müsse. Schon bald, so ihre Erwartung, werde der Parlamentarismus wieder funktionieren. Also galt es, organisationsfest zu bleiben, nichts zu riskieren und auf wiederkehrende Vernunft der Wählerinnen und Wähler zu setzen.
KPD: »Nach Hitler kommen wir«
Die KPD glaubte an den großen Kladderadatsch zumindest des deutschen Kapitalismus, auf den Zusammenbruch des ökonomischen Systems. Überall identifizierte sie schon vor 1933 Faschismus, hielt aber dessen Politikfähigkeit für nur kurzzeitig, den Prozess der Hinwendung zur radikalen Linken objektiv beschleunigend – »Nach Hitler kommen wir«. Hitlers Zeit, so meinte die KPD, sei kurz bemessen, die repressive, aber auch integrative Energie des Faschismus wurde sehr unterschätzt. In einem merkwürdigen Widerspruch dazu stand die warnende Agitation der Kommunisten: »Hitler bedeutet Krieg.« Offensichtlich rechnete man aber nicht damit, dass diese realistische Voraussage sich bewahrheiten werde. Und so konzentrierte sich die KPD in der Phase der Wirtschaftskrise darauf, weiteren Anhang für’s Wählen und Demonstrieren zu finden und »Sowjetdeutschland« zu versprechen.
Noch einmal anders eine Lageeinschatzung und Perspektive bei der damaligen Gewerkschaftsbewegung, zumindest einer Führungsgruppe des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes: Hier wurde mit einem politischen Formwandel des deutschen Kapitalismus gerechnet, in Richtung auf ein nationalkorporatives System. In diesem aber, so meinten die Gewerkschaftsführer, würden die Gewerkschaften ihren Platz behalten können. Diesem Wunschbild entsprach der gewerkschaftliche Aufruf im Frühjahr 1933, am »Tag der nationalen Arbeit« teilzunehmen. Am 2. Mai 1933 war eine solche, an der gewerkschaftlichen Basis illusionäre Verwirrung stiftende Einschätzung von der Geschichte überholt. Die Gewerkschaften wurden verboten.
Konkurrenz auf dem Weltmarkt
All das ist Vergangenheit. Trotz der katastrophalen Folgen von 1939 bis 1945 hat der deutsche Kapitalismus letztendlich nicht gelitten. Inzwischen existiert er auch wieder gesamtdeutsch. Nicht anders als Ende der 1920er Jahre entzündeten sich die heutigen Turbulenzen im weltweiten kapitalistischen Getriebe an spekulativen Finanzoperationen in den USA, an deren Crash.
Mehr noch als damals spielen sie sich in der Sphäre der großen Kreditgeschäfte ab, der Finanzmarkt hat gegenüber der so genannten Realökonomie, mit der er verknüpft bleibt, an Stellenwert gewonnen. Die Verschuldung von Staatshaushalten und die Sicherung des Profits, der daraus zu ziehen ist, stellen heute besonders wichtige Schauplätze des Kampfes um Verwertung von Kapital dar, auch die Konkurrenz um Terrain im Weltmarkt.
Fachleute statt Demokratie
Der europäische Wirtschaftsraum ist davon gegenwärtig heftig betroffen, es geht dabei nicht nur um Bestand oder Zerfall des Euro-Währungssystems. Die internationale Kapitalverflechtung ist, verglichen mit der Krise von 1929, dichter geworden. Als Administratoren von Kapitalinteressen sind neue Akteure im Spiel: der Internationale Währungsfond, die Europäische Zentralbank, der Europäische Stabilitätsfond, die Europäische Kommission. Aber nationale Regierungspolitik ist damit für die »Märkte« nicht überflüssig geworden, sie hat ihren instrumentellen Rang. Dabei zeichnet sich ein verändertes Politikmuster ab, hier auf den europäischen Kontinent hin betrachtet: Die parlamentarische Demokratie wird nicht abgeschafft, aber sie erfährt einen stetigen Verlust an Funktionen.
In Staaten, die nicht mehr als kreditwürdig gelten, übernehmen »Fachleute« des internationalen Finanzmarktes die Regierungsgeschäfte. Die Bundesrepublik Deutschland übernimmt in Kontinentaleuropa die wirtschaftspolitische Führungsrolle. Sie hat dafür zu sorgen, dass die »Schuldenbremse« streng eingesetzt wird, dass Sozialleistungen gestrichen und Löhne gesenkt werden. In Europa werde künftig »Deutsch gesprochen«, hieß es auf dem CDU-Parteitag in Leipzig. »Rechtspopulistische« Parteien in vielen Schattierungen greifen den Unmut über diese Entwicklungen auf, organisieren mittelständische nationale Unzufriedenheiten, stellen sich als anschlussfähig dar – auch für sozialen Protest aus der Arbeiterbevölkerung. Noch haben sie nicht die politische Kraft der historischen faschistischen Bewegungen, auch fehlt es ihnen an direkter Nützlichkeit für das große Kapital. Indirekt ist der »Rechtspopulismus« hilfreich für kapitalistische Vormacht: Er lenkt ideologisch ab von der sozialen Frage, biegt diese um in Ressentiments gegen die »Fremden«, gegen die »Bedrohung des Abendlandes«.
Die Linke ist gefordert
Die Linke – hier als diffuses Potenzial begriffen – ist in den meisten europäischen Ländern schwach. Sie hat tiefgreifende historische Enttäuschungen hinter sich, in ihrem kommunistischen wie in ihrem sozialdemokratischen Sektor. Den »epochalen Veränderungen«, von denen die deutsche Bundeskanzlerin jetzt gern und etwas nebulös spricht, steht sie gedanklich und praktisch weitgehend hilflos gegenüber. Noch immer ist links die Hoffnung weit verbreitet, der Kapitalismus werde, wenn man ihm gut zurede und ihn durch bessere linke Wahlergebnisse beeindrucke, sich sozialpolitisch wieder freundlich zeigen. Der geheimnisvolle Finanzmarkt, glaubt die »linke Mitte«, werde sich mit Regulierungen anfreunden, die ihm die Turbulenzen abgewöhnen.
Und daneben gibt es andere Linke mit einer ganz anderen Hoffnung: Noch ein Crash und der Kapitalismus werde zusammenbrechen, so meinen sie, bestärkt durch Trauergesänge im Feuilleton von Zeitungen, die sich über Anzeigen aus dem Finanzmarkt finanzieren. Aber die kapitalistische Ökonomie schafft sich nicht selbst ab, und in Krisenzeiten entwickelt sie neue Formen politischer Verwaltung und sozialer »Ordnung« – jetzt im europäischen Raum: »Postdemokratie« und Einrichtung dauerhafter Armutszonen.
Die Linke, wenn sie in diesen Prozess eingreifen will, mit Wirkung auf die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse, wird ohne neue analytische Anstrengungen nicht auskommen.
Zur Person:
Arno Klönne war Professor für Soziologie an der Universität Paderborn und Autor zahlreicher Bücher zur Geschichte der Arbeiterbewegung. Er schrieb regelmäßig für marx21.
Foto: Dorothea Lange
Schlagwörter: 1929, Arno Klönne, KPD, krisentheorie, Wirtschaftskrise