Migration ist fast so alt wie die Menschheit. Ein neuer Sammelband zeigt, dass auch das Schlepperwesen keineswegs erst im 21. Jahrhundert entstanden ist. Von Gesine Goldammer
Der Sammelband »Schleppen, Schleusen, Helfen« präsentiert die Ergebnisse einer gleichnamigen Tagung, bei der Flucht und Fluchthilfe über mehrere Epochen hinweg betrachtet wurden. Die beiden Wiener Historikerinnen Gabriele Anderl und Simon Usaty haben ihn herausgegeben. Die insgesamt 40 Beiträge, davon vier in englischer Sprache, reichen von der historischen Entstehung der Fluchthilfe über selbstorganisierte Grenzübertritte im Rahmen des Spanischen Bürgerkrieges und Fluchtbewegungen in der Zeit des Nationalsozialismus, bis hin zur aktuellen Migration. Ihr Hauptaugenmerk legen die Autorinnen und Autoren dabei auf Österreich und Mitteleuropa.
In den ersten Texten stellen sie dar, wie das Schlepperwesen bereits im ausgehenden 17. Jahrhundert den Charakter von Kleinunternehmen entwickelte. Seither geht es nicht selten mit sexualisierter Gewalt und Frauenhandel einher.
Verschärfte Asylgesetze
Mehrere Artikel befassen sich mit der NS-Zeit. Vor allem Fluchtrouten und -netzwerke von Verfolgten werden genauer vorgestellt. Einige Abschnitte gehen auf die verschärften Asylgesetze ein, welche die Nachbarstaaten von Nazideutschland als Folge der großen Flüchtlingszahlen verabschiedeten. Daneben porträtieren die Artikel aber auch, wie die Geschleusten die Fluchthelfer selbst wahrnahmen. Zwei Beiträge stellen die sehr unterschiedlichen Folgen dar, die Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene bei einem Fluchtversuch zu befürchten hatten.
Weiterhin zeigen die Autorinnen und Autoren, wie Fluchthelfer in der Retrospektive behandelt werden. DDR-Fluchthelfer beispielsweise wurden zunächst glorifiziert, später jedoch zunehmend negativ dargestellt. Auch Fluchthelfer aus der NS-Zeit mussten lange auf ihre öffentliche und rechtliche Rehabilitierung warten.
Festung Europa
In den Beiträgen mit aktuellerem Bezug werden Transitländer vorgestellt und die jeweiligen Autoren nehmen kritisch Stellung zu der undifferenzierten, negativen Darstellung der Fluchthilfe in den Medien. Andere wiederum analysieren die »Festung Europa« im völkerrechtlichen Kontext. Sie werten das Abweisen von Flüchtlingen noch vor den Grenzen als Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention, da Schutzbedürftige dadurch keine Chance auf eine angemessene Prüfung haben.
Derweil geben die letzten Artikel des Buchs aufschlussreiche Einblicke in Empirie und die heutige Gesetzeslage. Nicht zuletzt bringen einem zahlreiche Personenberichte von damals und heute die tragischen Situationen der Geflüchteten lebhaft nahe.
Flucht als zeitloser Prozess
Trotz gewisser Unterschiede lassen sich durchaus auch Parallelen zwischen vergangenen und heutigen Fluchtbewegungen ziehen. »Man wollte nicht helfen, aber man musste so tun als ob.« Diese traurige Aussage des in dem Band zitierten Ralph Weingarten scheint gegenwärtig genauso wahr zu sein wie damals, als die Länder sich darin übertrafen, jüdische Flüchtlinge abzuweisen, die aus Deutschland flohen.
Zusammenfassend lässt sich nach Lektüre des Bands festhalten, dass Flucht ein zeitloser sozialer Prozess ist. Hilfe zum illegalen Grenzübertritt ist in der Regel finanziell und/oder humanitär motiviert. Auf größere Migrationsbewegungen reagieren Länder stets mit verschärften Asylgesetzen und verstärkten Grenzkontrollen. Diese völkerrechtswidrigen Maßnahmen führen jedoch lediglich zu gefährlicheren Fluchtrouten und größerem Leid der Flüchtenden. Echte Abhilfe gegen illegale Grenzübertritte können nur legale Einreisemöglichkeiten liefern.
Obwohl die Texte sich mitunter in ihrer fachlichen Qualität unterscheiden und manchen ein klarer Bezug zu Schlepperei fehlt, lohnt sich die Lektüre des gesamten Bands. Die mannigfaltigen Herangehensweisen der Autorinnen und Autoren ermöglichen es, neue Blickweisen auf die komplexe Thematik zu gewinnen.
Das Buch:
Gabriele Anderl, Simon Usaty (Hg.)
Schleppen, Schleusen, Helfen. Flucht zwischen Rettung und Ausbeutung
Mandelbaum Verlag
Wien 2016
568 Seiten
24,90 Euro
Foto: UNHCR Photo Download
Schlagwörter: Asyl, Asylgesetz, Asylrecht, Bücher, Festung Europa, Flucht, Fluchthelfer, Flüchtling, Flüchtlingsdebatte, Flüchtlingskrise, Kultur, Migration, Schlepper, Schlepperwesen