Täglich setzen Menschen ihr Leben aufs Spiel, um über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Merle Krögers Roman »Havarie« über das Zusammentreffen zweier Schiffe, die unterschiedlicher nicht sein könnten, hat daher nichts von seiner Aktualität verloren. Von Lisa Hofmann
Ein syrischer Arzt, der sich illegal im Bauch eines Luxuskreuzfahrtschiffs versteckt und den eine Albträume aus dem Krieg nicht mehr loslassen. Ein ukrainischer Tankerkäpitän, der auf seinem Schiff nicht über Politik reden will, aber in den Krieg gegen Russland ziehen wird. Ein spanischer Fischer, der jeden Tag Menschen aus dem Mittelmeer zieht, die auf ihrer Flucht mit dem Schlauchboot gekentert und ertrunken sind.
Eine junge Frau, die illegal in Frankreich lebt, ihren Verlobten, der Menschen von der afrikanischen Küste nach Cartagena bringt, wiedersehen möchte und deshalb ohne Papiere nach Spanien fährt. Ein Mitarbeiter der spanischen Seenotrettung, der die Insassen gekenterter Flüchtlingsboote rettet und sie an die Guardia Civil übergibt, die deren Abschiebung vornimmt. Und die Mitarbeiter der Security des Kreuzfahrtschiffs, die dafür Sorge tragen, dass sich niemand illegal an Bord schleicht. Sie alle treffen in Merle Krögers Roman »Havarie« in zwei stürmischen Nächten auf dem Mittelmeer aufeinander. Sie werden angetrieben von dem Wunsch nach Würde und der Hoffnung auf ein besseres Leben.
Auf dem Mittelmeer entgeht ein Schlauchboot haarscharf der Katastrophe
Ein plötzlicher Stopp in voller Fahrt unterbricht jäh die teure Idylle einer Kreuzfahrt. Beinahe wäre der Luxusdampfer mit einem Schlauchboot voll Geflüchteter zusammengestoßen. Diese, sind für die Kreuzfahrtpassagiere eine willkommene Abwechslung zu den Delphinen, an denen sie sich schon lange sattgesehen haben. Völlig ohne Scham und Distanz schießen sie Fotos von den Verdurstenden und veröffentlichen diese in sozialen Netzwerken im Internet. Derweil bricht in der Wäscherei des Schiffs der als blinder Passagier reisende syrische Arzt zusammen und ein Sturm zieht auf. Die spanische Küstenwache, die sich um die Geflüchteten kümmern soll, lässt seit Stunden auf sich warten. Die Security des Luxusdampfers hat zunehmend Probleme, die Situation weiter unter Kontrolle zu halten.
Alle wurden beschädigt
Merle Kröger, Regisseurin und Autorin, erhielt für »Havarie« den Deutschen Krimipreis 2016. In ihrem Buch schildert sie das Leben von elf Menschen in eindringlichen kleinen Portraits. Sie erinnern eher an Filmsequenzen als an einen Kriminalroman. Die Biografien der Figuren kreuzen sich auf dem Mittelmeer. Jede ist auf eine besondere Art mit der Geschichte Europas verbunden. Und alle Charaktere sind auf eine individuelle Weise durch diese Geschichte beschädigt: Der Kreuzfahrtpassagier aus Irland, der immer wieder mit einem toten Jungen spricht, der während des Nordirlandkonflikts starb. Oder der Kapitän der Küstenwache, dessen Heimatdorf durch einen Chemieunfall unbewohnbar wurde.
Ort der Sehnsucht, der Abschottung und des Todes
Wie in einem Kaleidoskop entfaltet sich ein vielschichtiges Bild der aktuellen politischen Situation Europas. Der Fokus dieser Szenerie ist das Mittelmeer. Dieser Ort der Sehnsucht, der immer stärker zur Burgmauer der Festung Europa und zum Massengrab tausender Geflüchteter wird. Kröger gelingt es durch die schlaglichtartige Darstellung der einzelnen Personen mit ihren Erlebnissen und Motiven, die politischen und gesellschaftlichen Prozesse im heutigen Europa nachzuzeichnen. Dabei bleiben die Charaktere stets glaubwürdig und wirken weder konstruiert noch aufgesetzt. »Havarie« ist eine spannende Momentaufnahme des immer stärker abgeschotteten Europas und der Menschen, die trotz ihrer oftmals ausweglosen Situation den Kampf um ein besseres Leben nicht aufgeben haben.
Buch: Merle Kröger: Havarie
240 Seiten | 2016 | EUR 15,00
Foto: Argument-Verlag, boellstiftung
Schlagwörter: Abschottung, Buch, Bücher, Buchrezension, Flucht, Krimi, Kriminalroman, Kultur, Mittelmeer, Mittelmeer-Route