Mehr als fünfzehn Jahre ist es her, dass in Argentinien ein Massenaufstand die Regierung stürzte und die IWF-Vertreter aus dem Land verjagte. Nun ist erneut eine rechte Regierung an der Macht, die neoliberale Sparmaßnahmen gegen die Bevölkerung durchsetzt. Doch diese beginnt sich zu wehren
In Argentinien kam es in den letzten Wochen zu großen sozialen Protesten und Streiks. Am 8. März legten Tausende Frauen die Arbeit nieder. Am Abend demonstrierten Zehntausende in Buenos Aires und in vielen anderen Städten des Landes gegen Gewalt gegen Frauen und Geschlechterungleichheit. Hinzu kommen massive Streiks im Bildungswesen. Nach Gewerkschaftsangaben beteiligten sich zeitweise über 90 Prozent des Personals der öffentlichen Schulen an den Arbeitskämpfen. Angesichts der dramatischen ökonomischen Lage in der sich Argentinien befindet, wird nun die Forderung nach einem baldigen Generalstreik immer lauter. Wir sprachen mit dem argentinischen Aktivisten Fernando Prieto über die Hintergründe. Er beleuchtet die widersprüchliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte und erklärt, wie die argentinische Linke wieder in die Offensive kommen will.
Fernando Prieto ist aktiv bei »Patria Grande«, einem 2015 gegründeten Zusammenschluss verschiedener argentinischer Bewegungen, der sich als Teil der lateinamerikanischen Linken versteht.
marx21: Seit etwas mehr als einem Jahr ist der ehemalige Unternehmer Mauricio Macri nun im Amt. Wie sieht seine bisherige Bilanz aus?
Fernando Prieto: Die Regierung unter Präsident Macri setzte von Beginn an auf Privatisierung, Deregulierung, Freihandel und Sozialabbau. Eine ihrer ersten Maßnahmen war die steuerliche Befreiung von Automobilimporten und dem Export von Agrargütern — also eine weitere Liberalisierung des Außenhandels. Zudem kam es zu Massenentlassungen: Etwa 250.000 Beschäftigte sowohl im privaten als auch im öffentlichem Sektor verloren seither ihre Arbeit. Gleichzeitig führten die bisherigen Maßnahmen zu einem extremen Preisanstieg. Der Wasserpreis ist seither um 375 Prozent gestiegen, der Preis für Gas um 300 Prozent und der für Strom sogar um bis zu 700 Prozent. All das hat natürlich großen Einfluss auf die Lebensqualität der Menschen. Eine Studie der Universidad Católica Argentina belegt: Seit Macris Amtsantritt Ende 2015 sind 1,5 Millionen Menschen in die Armut abgerutscht. Etwa doppelt so viele Menschen sind mittlerweile auf die sozialen Programme des Staates angewiesen. Die Regierung hat den Etat für diese Programme aber nicht erhöht. Dadurch sind auch die wenigen Orte der Zuflucht, wie soziale Speisesäle oder kommunale Zentren für die Versorgung von Kindern, in die Krise geraten. Es besteht momentan kaum Aussicht auf Besserung, denn die Regierung wird weiter die Reallöhne senken und die Bedingungen für Investitionen von transnationalen Konzernen lockern. Macri ist sehr interessiert an einem Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union.
Die Krise 2001 wurde durch eine enorme Staatsverschuldung ausgelöst. Eine zentrale Forderung der Opposition war, die Schulden bei globalen Finanzinvestoren als illegitim zurückzuweisen. Was ist daraus geworden?
Das Problem der Verschuldung haben wir in Argentinien schon seit Jahrzehnten. Bis zur letzten Militärdiktatur von 1976-1983 hatte sich die Auslandsverschuldung vervierfacht, vor allem weil die Regierung private Schulden verstaatlichte. Dadurch wurde die Staatsverschuldung seit den 1980er Jahren zu einer immer schwereren Last auf der argentinischen Wirtschaft. Das Problem wurde immer größer, obwohl soziale Bewegungen, Gerichtsbehörden und mehrere Anwälte die Schulden als illegitim einstuften.
Was ist nach dem Ende der Militärdiktatur mit den Schulden passiert?
Die auf die Diktatur folgenden bürgerlichen Regierungen haben die Auslandsverschuldung legitimiert, indem sie immer wieder Verhandlungen mit den Gläubigern aufnahmen. Eine der letzten fand vor etwa sieben Jahren statt. In dieser Situation hat die damalige Regierung unter Präsidentin Cristina Kirchner eine Begleichung der Schulden vorgeschlagen, die aber den zu zahlenden Gesamtbeitrag herabsetzte. Etwa acht Prozent der Gläubiger — die Hedgefonds — haben die Vereinbarung jedoch nicht akzeptiert und zogen in New York vor Gericht. Die argentinische Regierung hat letztlich nachgegeben, die Entscheidung an eine ausländische Gerichtsbarkeit zu übertragen.
Und wie hat das New Yorker Gericht entschieden?
Der Richter in New York hat natürlich für die Hedgefonds entschieden. Dies führte in den letzten Jahren zu einer Konfrontation zwischen der Regierung, die sich zu zahlen weigerte, und den Hedgefonds, die nach dem Urteil den gesamten Betrag der Schulden ausgezahlt bekommen sollten. Die Situation änderte sich jedoch radikal mit der neuen Regierung unter Mauricio Macri. Eine seiner ersten Maßnahmen war es, den Hedgefonds einen Vorschlag zu unterbreiten, mit dem de facto der Betrag anerkannt wird, den diese ursprünglich gefordert hatten.
Wie in vielen lateinamerikanischen Staaten sind mit den Regierungen des Ehepaars Kirchner auch in Argentinien Anfang der 2000er Jahre linke Kräfte an die Macht gekommen. Was war ihr politisches Projekt?
Die Regierungen von Nestor (2003-2007) und Cristina Kirchner (2007-2015) entstanden aus einer ungewöhnlichen Situation zu Beginn des Jahres 2003, etwa anderthalb Jahre nach dem Aufstand vom Dezember 2001, der eine politisch instabile Zeit hervorbrachte. Während der ersten zwei Wochen des Aufstands kamen mehrere verschiedene Präsidenten an die Regierung, bis Eduardo Duhalde von der »Partido Justicialista« (Peronistische Partei) ungewählt an die Macht kam und ein Jahr lang regierte. Während des Wahlkampfs 2003 unterstützte Duhalde dann Nestor Kirchner. Das führte dazu, dass Kirchner, ebenso wie sein größter Konkurrent um das Präsidentenamt Carlos Menem, als Kandidat der Peronistische Partei antrat. Diese hatte unter der Präsidentschaft von Menem (1989-1999) einen scharfen neoliberalen Kurs eingeschlagen. Kirchners Regierung entstand also nicht aus der Massenbewegung 2001, sondern aus der Peronistischen Partei — wenn auch aus einer eher progressiven Strömung innerhalb dieser.
Massenproteste im Dezember 2001 stürzen die Regierung und verjagen die Vertreter des IWF.
Und was war ihr politisches Programm an der Macht?
Das ist widersprüchlich. Auf der einen Seite sehen wir in den zwölf Jahren der Kirchner-Regierungen eine grundlegende Kontinuität zur alten Politik: Auch die Kirchners setzten Maßnahmen zugunsten des Kapitals durch, zum Beispiel durch die Ausweitung der Agrarindustrie oder die Fortsetzung des Tagebaus. Insgesamt erzielten während der Kirchner-Ära der Finanz- und der extraktive Sektor, also Bergbau, Erdöl- und Erdgasförderung, die größten Gewinne. In diesem Sinne blieb das wirtschaftliche und politische System Argentiniens unverändert. Es gab keine grundlegenden Änderungen, wie wir sie in Venezuela, Bolivien oder in Equador mit den verfassungsgebenden Versammlungen gesehen haben.
Also einfach eine Fortsetzung der neoliberalen Politik?
Es gibt Unterschiede zwischen den Kirchner-Regierungen und der streng neoliberalen Phase der Peronistischen Partei in den 1990er Jahren unter Menem. Während der Amtszeit der Kirchners entwickelte sich, was wir als »Neodesarrollismo« (deutsch: Neo-Entwicklung) bezeichnen. Das ist in gewisser Weise eine Abkehr vom klassischen Neoliberalismus, steht diesem aber im Grunde dennoch näher als dem ursprünglichen Konzept des »Desarrollismo«.
Das musst du uns erklären.
Der ursprüngliche Desarrollismo war eine Wirtschaftstheorie, die insbesondere die entwicklungsorientierte Wirtschaftspolitik in Argentinien unter Peron in den 1950er Jahren prägte. Sie vertritt die Auffassung, dass die Tauschbeziehungen im internationalen Handel die Unterentwicklung der globalen Peripherie reproduziert und die Kluft zwischen den entwickelten und den unterentwickelten Ländern vertieft. Als Konsequenz hieraus vertritt der Desarrollismo, dass die nicht entwickelten Länder eine aktive Wirtschaftspolitik betreiben müssen, die die Industrialisierung vorantreibt, um so eine autonome Entwicklung zu erreichen. Das Ziel war ein starker Binnenmarkt. Importe, insbesondere von Industriegütern, sollten durch inländische Erzeugnisse ersetzt werden, was unter anderem durch hohe Zölle auf Importgüter erreicht werden sollte. Man könnte also von einer Spielart des Protektionismus sprechen, der vor ausländischer Konkurrenz schützen soll. Das geht natürlich gegen die Interessen der führenden kapitalistischen Staaten und der multinationalen Konzerne. Das Ziel des Desarrollismo ist aber trotzdem nicht antikapitalistisch, sondern letztlich eine Stärkung des nationalen Kapitalismus. Dennoch widerspricht er dem neoliberalen Paradigma der freien Märkte, welches den Desarrollismo nach seiner Krise in den 1970er Jahren auch in Lateinamerika beerbte.
Und der »Neodesarrollismo« der Kirchners war eine Rückbesinnung auf diese Theorie?
Teilweise. Mit seiner wachstumsfördernden Wirtschaftspolitik durch staatliche Eingriffe knüpfte der Neodesarrollismo an die früheren Konzepte an. Es gab aber auch wesentliche Unterschiede. So sollten nicht die Importe durch heimische Güter substituiert, sondern der Export gefördert werden. Es handelt sich also um eine Wirtschaftspolitik, die auf Außenhandel anstatt auf Schutz vor internationaler Konkurrenz setzte. Der Staat schafft durch kapitalfreundliche Politik die Bedingungen für Wachstum in der Exportwirtschaft. Gleichzeitig wird ein Teil des Ertrages mithilfe von sozialen Programmen unter den ärmsten Bevölkerungsschichten verteilt, um die sozialen Verwerfungen abzufedern, die solch eine unternehmerfreundliche Politik hervorruft. Es ging also um eine Förderung des Kapitalismus, aber mit einem gewissen Ausgleich. Damit handelt es sich beim Neodesarrollismo der Kirchners zwar um eine Abkehr vom orthodoxen Neoliberalismus, viele seiner Elemente, wie die Priorisierung der Exportwirtschaft und die fortschreitende Konzentration von Einkommen und Vermögen, blieben jedoch bestehen.
Wie hat sich die argentinische Linke und der Bewegungszusammenschluss »Patria Grande«, in dem du aktiv bist, zur Politik der Kirchners verhalten?
Patria Grande war nie Teil der Kirchner-Ära, aber wir erkennen durchaus an, dass es innerhalb und um die Peronistische Partei auch aktive Basisorganisationen mit einer teils progressiven Agenda gibt. Wir haben mit diesen einige gemeinsame Punkte, vor allem bei Themen wie den Menschenrechte. In diesen Bereich fallen auch die besten Initiativen während der Kirchner-Regierungen, wie die Aufarbeitung der Verbrechen der Militärdiktatur oder die Fortschritte bei den Gesetzen zur gleichgeschlechtlichen Ehe. Ein weiterer wichtiger Faktor der Kirchner-Ära, bei dem es Überschneidungen zur Programmatik der Linken gab, war die Außenpolitik. Die früheren Regierungen von Duhalde, de la Rua und Menem unterstellten sich vollständig der Politik der USA. Die Kirchners sind mit dieser Situation anders umgegangen und haben Initiativen der regionalen Integration unterstützt. Das war zumindest ein Schritt in die richtige Richtung.
Welche Gründe siehst du für die Wahl von Präsident Macri?
Es gibt da ziemlich unterschiedliche Interpretationen. Meiner Meinung nach ist der Hauptgrund jedoch das Ende eines wirtschaftlichen Zyklus. Das Modell des Neodesarrollismo, also der Begünstigung des Kapitals bei gleichzeitiger Umverteilung zu den Ärmsten, ohne dabei aber die Frage des Privateigentums anzugehen, bildete für eine gewisse Zeit eine Art Tugendkreis. Die Wirtschaft, die Reallöhne und die Zahl der Arbeitsplätze wuchsen, ohne die Profite der Konzerne wesentlich zu schädigen. Die Anfänge dieses Modells waren von einem hohen Kapazitätsüberschuss und einem Boom der Exportpreise geprägt. Als dies ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr der Fall war, geriet das Modell jedoch in die Krise. Ein Teil des Kapitals hat daraufhin seine Unterstützung entzogen. Auf der anderen Seite gab es auch innerhalb der Bevölkerung wachsende Unzufriedenheit, welche die Legitimität der Regierung Cristina Kirchners zunehmend untergrub. Aufgrund der wachsenden Widersprüche des Wirtschaftsmodells, konnten die Lohnsteigerungen nicht mehr mit der Inflation mithalten. Dies führte innerhalb der Bevölkerung zunehmend zum Wunsch nach einer politischen Alternative. Die Situation spitzte sich weiter zu durch die Offensive der konservativen Medien gegen die Regierung und gegen jede andere progressive Alternative. So gewann zum ersten Mal in unserer Geschichte eine offensichtlich rechte Partei und ein bekannter neoliberaler Unternehmer.
Warum konnte die Linke die enttäuschte Bevölkerung nicht überzeugen?
Durch die massiven Angriffe auf die Kirchner-Regierung von rechts entstand eine Situation, in der ihr Projekt in der gesellschaftlichen Wahrnehmung die einzig progressive Position repräsentierte. Wir haben es nicht geschafft, dem ein linkes Projekt entgegenzustellen, dass für die Bevölkerung sichtbar war und als Alternative wahrgenommen wurde. Wir als Patria Grande sind ein Zusammenschluss von verschiedenen Bewegungen, der genau das versucht. Mittlerweile beteiligen sich 15 soziale und politische Bewegungen an dem Projekt. Wir haben Patria Grande gegründet, um der starken Fragmentierung der argentinische Linke entgegenzuwirken. Sie begrenzt unsere Möglichkeiten gesellschaftlich auszugreifen. Es braucht größere Einheit in der Linken, damit wir mit mehr Kraft eine politische Intervention gestalten können.
Was für ein politisches Projekt schlägt Patria Grande vor?
Wir schlagen ein Projekt vor, in dem das Beste aus den linken Traditionen Lateinamerikas und der Karibik zurückerobert werden soll. Die Beteiligung der Bevölkerung ist für uns unumgänglich, wenn wir eine radikale Veränderung der Gesellschaft erreichen möchten. Wir stehen zu den politischen Erfahrungen in Venezuela und Bolivien und deren kontinentalen Strategien. Ich glaube, dass durch den neuen gemeinsamen Kampf gegen die neoliberale Offensive neue Analysen zur gegenwärtigen Situation entstehen können, die uns ermöglichen dem Weg einer stärkeren Einheit gegen Macri zu folgen. Die momentan stattfindende Protestwelle stimmt mich da optimistisch.
Das Interview führte Nicole Möller-González. Von ihr stammt auch die Übersetzung aus dem Spanischen.
Fotos: << Monk >>
Schlagwörter: Argentinien, Freihandelsabkommen, Generalstreik, Inflation, IWF, Liberalisierung, Macri, Massenentlassungen, Militärdiktatur, Privatisierung, Staatsschulden, Streik