Zum zweiten Mal ist DIE LINKE aus einem westlichen Landesparlament herausgeflogen. Nach Schleswig-Holstein scheiterte DIE LINKE mit 2,5 Prozent auch in Nordrhein-Westfalen. Was sind die Ursachen dieser Niederlagen? Und kann der Partei über 2013 hinaus ein zweiter Aufbruch gelingen? 13 Thesen zur Krise der LINKEN von marx21 – Netzwerk für internationalen Sozialismus.
1. Alles Personaldebatte? DIE LINKE ist nicht in der Krise, weil sie streitet. Sie streitet, weil sie in der Krise ist.
Selbstbeschäftigung, Streitereien, mangelnde Geschlossenheit, Flügelkämpfe – das sind die wesentlichen Faktoren, die für den Niedergang der Partei verantwortlich gemacht werden. Doch unterschiedliche Flügel und erhebliche inhaltliche und strategische Differenzen gab es in der Partei schon vor drei Jahren, als sie noch fulminante Erfolge bei den Bundes- und Landtagswahlen einfuhr und Mitglieder gewann, statt sie zu verlieren. Virulent geworden ist der Flügelkampf, als der Erfolg ausblieb, und damit der Kitt abfiel, der bis dato die Partei zusammengehalten hatte. Doch warum blieb der Erfolg aus? Dazu fehlt in unserer Partei eine überzeugende Analyse und als Konsequenz eine politische Umorientierung. Ohne Analyse und Umorientierung wird jedoch jeder Appell an Geschlossenheit verpuffen.
2. Das wesentliche Problem der LINKEN ist, dass sie ihre Wähler nicht mehr mobilisiert und ihre Mitglieder nicht motiviert.
Die politischen Rahmenbedingungen haben sich seit dem Ende der großen Koalition 2009 verändert. Nun gerieren sich SPD und Grüne als größtes Oppositionslager gegen die Merkel-Regierung, während der außerparlamentarische Widerstand schwach ist. Vielen ehemaligen Wählern der LINKEN ist nicht klar, wofür sie DIE LINKE im Parlament noch brauchen. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: In Nordrhein-Westfalen verlor die Partei 90.000 Stimmen an die SPD, 80.000 an die Piraten, 30.000 an die Grünen und 20.000 an die Nichtwähler.
In Schleswig-Holstein verlor DIE LINKE zwar 6.000 Stimmen an die Piraten und 9.000 Stimmen an die SPD. Der größte Verlust waren aber 39.000 Stimmen an die Nichtwähler. Auch im Saarland überstieg der Abgang an die Nichtwähler (17.000 Stimmen) die kombinierten Verluste an Piraten und SPD (jeweils 7.000). Hier ist also das Problem nicht, dass ihre vormaligen Wähler jetzt die Piraten und SPD wählen, sondern dass sie gar nicht mehr wählen, weil sie jede Hoffnung auf Veränderung verloren haben. Das fällt deshalb so stark ins Gewicht, weil auch DIE LINKE falsche Vorstellungen gefördert hat, wie gesellschaftliche Veränderung möglich und machbar ist.
3. DIE LINKE hat zu oft den Eindruck erweckt, dass sie das Land durch ihre bloße Präsenz und ihren Einfluss auf die anderen Parteien ändern könne. Dem ist nicht so und das fällt der Partei jetzt auf die Füße.
Innerhalb der Anhängerschaft der LINKEN ist die Vorstellung weit verbreitet, dass sich gesellschaftliche Veränderungen wesentlich über die Parlamente vollziehen, da die viel größere potenzielle Macht von kollektiven Kämpfen als zu wenig greifbar erscheint. Dem hat DIE LINKE bisher zu wenig entgegengesetzt. Ein Blick auf zentrale Aussagen der LINKEN in den letzten Jahren zeigt das Problem: „DIE LINKE wirkt!« und „Je stärker DIE LINKE, desto sozialer das Land« oder „Wer will, dass die SPD wieder sozialdemokratisch und die Grünen wieder ökologisch werden, muss DIE LINKE wählen«. Tatsächlich aber ist trotz einer stärkeren LINKEN und eines Wirtschaftsaufschwungs der Umverteilungsprozess von unten nach oben weitergegangen. Unsere Wahlparole von 2009 »Hartz IV muss weg« steht im Kontrast zur Tatsache, dass mit dem Kürzungspaket von Schwarz/Gelb (2010) die Hartz-Gesetze noch einmal verschärft wurden. Leiharbeit und prekäre Beschäftigung haben explosionsartig zugenommen.
Dass neben der SPD und den Grünen jetzt auch die CDU über den Mindestlohn nachdenkt, zeigt erstmal, dass diese Parteien glauben, dass ohne ein Signal in Richtung soziale Gerechtigkeit in Deutschland inzwischen keine Wahlen mehr zu gewinnen sind. Eine realistische Umsetzungsperspektive ist dies aber nicht. Soziale Wahlversprechen zerschellen vielmehr an der Festlegung aller Parteien auf eine restriktive Haushaltspolitik – ein Sog, dem sich auch DIE LINKE in Regierungen nicht entziehen konnte, wie das Scheitern des rot-roten Projekts in Berlin zeigt.
DIE LINKE hat sich selbst zur Funktionspartei in Relation zu anderen Parteien degradiert. Dass wir SPD und Grüne zu Versprechungen nötigen, die dann nach Wahlen wieder fallengelassen werden, reicht aber als Existenzberechtigung für DIE LINKE und für die Motivation ihrer Mitglieder nicht aus.
4. Um nicht als Teil des Establishments gesehen zu werden, muss DIE LINKE ganz anders sein als die etablierten Parteien. Das bedeutet einen Bruch mit der Fixierung auf Parlamente als wesentliches Aktionsfeld und Hebel zur gesellschaftlichen Veränderung.
Ein bewusster Aufruf an unsere Mitglieder und Wähler zur Aktivität und Selbstermächtigung könnte durchaus zu einem neuen Markenkern der LINKEN werden. Jean-Luc Mélenchons Wahlkampf war auch deswegen so erfolgreich, weil er den Menschen keinerlei Illusionen darüber gemacht hat, was tatsächlich nötig ist, um eine krisengeschüttelte Gesellschaft zu verändern. Seine beiden wichtigsten Slogans – „Prenez le pouvoir!« („Erobert die Macht!«) und „révolution civique« waren darauf ausgerichtet, den Menschen zu sagen, dass sie die Macht selbst übernehmen müssen. Es geht nicht darum zu sagen: „Wir machen das schon.« Derartige Heilsversprechen sind unrealistisch und werden, wenn wir sie nicht einlösen, schnell von Enttäuschung abgelöst. Mélenchon hat dies anders gemacht: Er hat es vermocht, seinen Aufruf zum Aufstand mit realen und symbolträchtigen Mobilisierungen zu verbinden. So erklärte er als ein Ziel in der Wahlkampagne, die öffentlichen Plätze nach dem Vorbild der Occupy-Bewegung erobern zu wollen. Die konzentrierten Mobilisierungspunkte seiner Kampagne waren sehr langfristig angelegt. Zur Besetzung der Place de la Bastille am Jahrestag der Pariser Kommune durch die Linke wurde wochenlang mobilisiert und die Eroberung wurde zu einer Aufgabe für die gesamte Linke in der Gesellschaft deklariert. Eine Strategie mit Erfolg: Die Menschen sahen die Kampagne der Front de Gauche als ihr eigenes Projekt. Mélenchon, vor der Wahlkampagne noch als Politiker belächelt, dessen beste Tage bereits hinter ihm lagen, wurde plötzlich zum Star der bewegten Linken. Er überholte Le Pen und Hollande auf Facebook und hat heute über 100.000 Fans in der Internetplattform – seine Kampagne gilt als die mit Abstand erfolgreichste Kampagne des Web 2.0 in Frankreich. Dies erreichte er nicht, weil er ständig über Netzpolitik redete, sondern weil er das soziale Netzwerk als Instrument des „Bürger-Aufstands« benutzte und dies mit glaubhaften und ambitionierten, aber auch symbolisch aufgeladenen Bewegungsmomenten verband.
5. Trotz aller Solidarisierung mit außerparlamentarischen Bewegungen – DIE LINKE ist gefangen in einer Fixierung auf Wahlkämpfe, Wahlen und Parlamente. Diese Fixierung ist mittlerweile ein Hemmschuh für den Aufbau von funktionierenden Basisstrukturen, kämpferischen Initiativen und gesellschaftlichen Bündnissen.
Parlamentarische Vertretungen machen für DIE LINKE Sinn, um die eigenen Forderungen, Bewegungen und Analysen der Partei breit in die Öffentlichkeit zu tragen. Jean-Luc Mélenchon hat in Frankreich eindrucksvoll demonstriert, wie die Bühne des Präsidentschaftswahlkampfs für die Darstellung eines scharfen Oppositionskurses gegen die herrschende Politik zu nutzen ist. Im besten Falle befruchtet und befördert die parlamentarische Arbeit dabei den Aufbau von Partei und Bewegung. DIE LINKE hat jedoch kein gesundes Maß zwischen der Arbeit in und außerhalb der Parlamente gefunden. Gegründet für die Bundestagswahl 2005, als Wahlpartei, hat DIE LINKE bis heute keine wirkliche Antwort darauf gefunden, wie die Praxis der Partei zwischen den Wahlen aussehen kann. Es ist aber ein Problem, wenn unsere Partei nur in Wahlkämpfen so richtig zum Leben erwacht – und nicht etwa dieselbe Aktivität gegen Mieterhöhungen, Privatisierungen, Entlassungen an den Tag legt. Hätten wir solche Kampagnen mit dem Enthusiasmus unserer jüngsten Wahlkämpfe geführt, stünde die Partei heute besser da. Deshalb ist es auch verkürzt, den Erfolg und die Stärke der LINKEN in erster Linie an Umfragen und Wahlergebnissen zu messen.
Ein Beispiel: Beim Kommunalwahlkampf in NRW trat die LINKE flächendeckend an – mit Erfolg: die Partei konnte fast 400 kommunale Mandate erringen. Ein Pyrrhus-Sieg: Die Partei zählt in NRW 8000 Mitglieder – viele der Aktivsten, die vorher die Ortsgruppen zusammengehalten hatten, rückten in Ratsfraktionen ein. Die Kommunalparlamente sind jedoch keine eigenständige legislative Gewalt, sondern Teil der Verwaltung. Darüber hinaus ist das Terrain dort für DIE LINKE denkbar ungünstig – durch die Sparvorgaben ist der Spielraum für linke Politik äußerst begrenzt. Während sich potenzielle Aktive in Ratspositionen verkämpften, zerfielen die lokalen Strukturen. Mittlerweile hat DIE LINKE.NRW 1/4 ihrer Ratsfraktionen verloren – auch deswegen, weil die parlamentarische Arbeit nicht durch eine aktive Basis untersetzt werden konnte, um gemeinsame Kampagnen zu fahren. Ähnliches spielte sich in anderen westlichen Bundesländern ab.
Ganz anders zum Beispiel das Herangehen der Sozialistischen Partei in Holland: Hier gilt als Bedingung für eine Kandidatur, dass genügend Substanz an der Basis vorhanden ist, um überhaupt eine kampagnenorientierte Parlamentspolitik zu tragen. Die SP hat ihren Fokus auf Mitglieder statt auf Mandate gelegt. Dadurch hat sie in einer Fläche und Einwohnerzahl vergleichbar mit Nordrhein-Westfalen 48.000 Mitglieder. Dieser Fokus auf die Basisarbeit ist einer der Gründe, warum sich die SP aus einer tiefen Krise heraus arbeiten konnte und mittlerweile in Umfragen als zweitstärkste, teilweise sogar als stärkste Partei gehandelt wird.
Die parlamentarische Arbeit ist dann gewinnbringend für die Partei, wenn sie mit den Kämpfen außerhalb der Parlamente verzahnt ist („keine Fraktion ohne Aktion«) und sich auf eine Verankerung innerhalb der Kommune stützen kann. Die Annahme, dass sich über parlamentarische Repräsentanz lokale Strukturen aufbauen lassen, hat sich als falsch erwiesen – oftmals ist das Gegenteil der Fall. Eine Umorientierung ist hier dringend notwendig, die Ansatzpunkte dafür sind die vorhandenen Kämpfe und Auseinandersetzungen.
6. Die Wahlkampagne der LINKEN in NRW gehörte zu den engagiertesten der Geschichte der LINKEN. Sie konnte allerdings nicht in vier Wochen die bundes- und landespolitischen Schwächen der letzten zwei Jahre ausgleichen.
DIE LINKE.NRW hat den Wiedereinzug in den Landtag trotz eines engagierten, auf die soziale Frage konzentrierten Wahlkampfes verpasst. Selten haben sich so viele Genossinnen und Genossen an einer Wahlkampagne in NRW beteiligt. Trotzdem konnte die Wahlkampagne innerhalb von vier Wochen nicht die Fehler der letzten zwei Jahre korrigieren. Der Hauptfokus war nicht auf den Parteiaufbau und die Außenwendung gelegt, sondern auf die Fraktion. Durch die objektive Konstellation der Minderheitsregierung hatte sich eine Sonderform der Fragmentierung und des Programmismus der politischen Arbeit herausgebildet. Der bürgerliche Parlamentsbetrieb hat im Wesentlichen die Themen der Politik der LINKEN bestimmt. Ihr ist es nicht gelungen, eigene Themen zu setzen und hier ihre Kräfte zu konzentrieren. Auf dem Papier wurde dies zwar getan, in der Realität gab es jedoch keine Schwerpunktsetzung. Stattdessen wurden alle Themen als gleich wichtig gesetzt. Dadurch konnte DIE LINKE dort nicht handlungsfähig werden, wo sich gesellschaftliche Konflikte zuspitzen, wo Widersprüche aufbrechen, wo Bewegung entsteht. Sie hat sich im parlamentarischen Alltag verzettelt und ihre Kernkompetenzen nur unzureichend ausgespielt. Daran messen jedoch die Menschen, die DIE LINKE gewählt haben, das Handeln der LINKEN. Dies verdeutlicht eine Erhebung, die zur NRW-Wahl durchgeführt wurde: weniger als 40 Prozent der Wählerinnen und Wähler der LINKEN waren Anfang April mit der Politik der Fraktion zufrieden.
7. Deutschland ist nicht Griechenland – das Niveau der Klassenkämpfe ist niedrig. Trotzdem gibt es reichlich Gelegenheiten für DIE LINKE, ihre Widerständigkeit unter Beweis zu stellen.
Deutschland ist nicht Griechenland und auch nicht Spanien oder Portugal. In den am stärksten von der Krise geschüttelten Ländern hat es in Folge der Eurokrise einen beispiellosen wirtschaftlichen Niedergang mit explodierender Arbeitslosigkeit und zusammenklappenden Staatshaushalten gegeben. Die jeweiligen Regierungen setzen Programme um, die im Kern eine zugespitzte Agenda-2010-Politik sind, und haben entsprechend massenhaften Widerstand geerntet.
Unsere Situation ist anders: Weder gibt es zurzeit Anzeichen für einen vergleichbaren Generalangriff der Merkel-Regierung, noch ist von offensiven Kampfformen der Gewerkschaften auf ökonomischer oder politischer Ebene auszugehen. Merkels Krisenpolitik wird zudem in den Grundzügen von SPD und Grünen politisch gestützt, auch wenn rot-grün immer wieder versucht, sich rhetorisch von der Regierung abzusetzen. Das unterscheidet sich deutlich von der Gründungsphase der WASG, die geprägt war von Bewegung gegen Krieg, Montagsdemos gegen Hartz IV und Protest gegen die Agenda 2010. Diese Proteste haben damals die SPD gespalten und der Gründung der LINKEN Vorschub geleistet.
Doch diese relative Ruhe ist nicht in Stein gemeißelt. Deutschland ist keine isolierte Insel im Meer der taumelnden Eurozone. Es vergeht auch bei uns kaum ein Tag, ohne dass eine große Firma den Abbau von hunderten oder gar tausenden Arbeitsplätzen ankündigt. Momentan ist Opel in Rüsselsheim dran, auch Schlecker, Air Berlin, Lufthansa und MANRoland kommen einem sofort in den Sinn. Die Tatsache, dass es nicht in allen Fällen zum Widerstand der Belegschaften kommt, bedeutet nicht, dass hier keine Klassenauseinandersetzungen stattfinden.
Die Frage ist: Wo ist bei diesen Auseinandersetzung DIE LINKE? Für den Aufbau von Widerstand reichen solidarisierende Pressemitteilungen nicht aus – auch wenn das natürlich besser ist als nichts. Es ist erforderlich, die Partei stärker auf die bestehenden Kämpfe zu orientieren. Die Palette von Auseinandersetzungen ist breit: gewerkschaftliche Kämpfe, die wachsende Bewegung gegen Mietwucher und Gentrifizierung, Aktionen gegen Neonazis, usw. Hier sind hunderttausende von Menschen in diesem Land aktiv, die sich von der LINKEN mehr erwarten als aufmunterndes Schulterklopfen – sie wollen die Partei als aktive Mitkämpferin. Wenn sich die Partei mit ihren Ressourcen mit diesen Kernen des Widerstands verbindet, hat nicht nur sie eine Zukunft – auch die Bewegung von unten wird stärker, und es wird möglich, gesellschaftliche Kräfteverhältnisse zu verschieben. Dies ist die Voraussetzung, um tatsächlich Veränderungen im Sinne der Menschen durchsetzen zu können. Natürlich engagieren sich jetzt schon viele Mitglieder und Parteigliederungen in außerparlamentarischen Initiativen. Was fehlt, ist eine Fokussierung der Gesamtpartei auf diese Art von Arbeit. Die Arbeit der Partei muss vom Kopf auf die Füße gestellt und von Basis, Bewegung und Widerstand her gedacht werden.
8. Die Trennung von politischem und ökonomischem Kampf überwinden. DIE LINKE muss sich trauen, klar Stellung zu beziehen, um in gewerkschaftliche Richtungskämpfe einzugreifen. So kann die Partei attraktiver für Aktive aus den Gewerkschaften werden.
Merkels Krisenkorporatismus, also die Strategie der exportorientierten Standortpolitik mit einem Stillhalteabkommen zwischen den Unternehmern und den Belegschaften, wird auch von SPD und Grünen mitgetragen und auch innerhalb der Gewerkschaften viel zu wenig kritisiert. Dies ist das eigentliche Geheimnis der Popularität der Kanzlerin. Er behindert auch die Entwicklung einer ausstrahlungsfähigen LINKEN. Eine kritischen Minderheit in den Gewerkschaften weiß aber genau, dass ein „Weiter so« den organisatorischen Niedergang der Gewerkschaften nicht aufhalten wird. Es gibt ernsthafte Bemühungen um eine gewerkschaftliche Erneuerung, die sich theoretisch in einer Kritik des Krisenkorporatismus und praktisch im Ausprobieren neuer, demokratischer Streikformen sowie in Organisationsversuchen unter prekären Beschäftigten äußert. Deshalb ist es nicht sinnvoll für DIE LINKE, „die Gewerkschaften« als einheitlichen Block anzugehen. Es ist gut, wenn wir als LINKE politische Forderungen der Gewerkschaften in den öffentlichen Raum tragen. Wir sollten allerdings nicht über Fehlentwicklungen schweigen. Damit reproduzieren wir nur selbst die Trennung von Politik und Ökonomie. Gerade in Bezug auf das Handeln in der Eurokrise müssen wir zur Kenntnis nehmen: Es gibt erhebliche Differenzen zwischen der politischen Ausrichtung der LINKEN und dem Mainstream der gewerkschaftlichen Führung – und wenn diese Differenzen nicht erklärt und debattiert werden, ist DIE LINKE auch nicht attraktiv für diejenigen gewerkschaftlichen Aktivistinnen und Aktivisten, die sich stärkere und kämpferische Gewerkschaften wünschen. Wenn es sich DIE LINKE zur Aufgabe macht, die kämpferischen Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben und Gewerkschaften zu sammeln, sie zu vernetzen und Kräfte zu bündeln und zu vernetzen, kann wieder eine Bewegung entstehen, die den Klassenkampf an die Stelle von Sozialpartnerschaft und Standortpolitik setzt. Ansätze zu einer solchen widerständigen Praxis werden punktuell immer wieder sichtbar: Die Auseinandersetzungen von ver.di in der Berliner Charité, den Unikliniken und im Einzelhandel in Baden-Württemberg oder der Gebäudereinigerinnenstreik der IG BAU bieten inspirierende neue Ansätze einer konfliktorientierten und emanzipatorischen Kampfpraxis der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften. Die Erfahrungen dieser Kolleginnen und Kollegen muss DIE LINKE bekannt machen und für eine breitere Zuhörerschaft verallgemeinern.
9. Die Jugend! Die Jugend! Die Jugend! DIE LINKE muss raus aus den Hinterzimmern und dahin, wo die jungen Leute sind: An Schulen, Berufsschulen und Universitäten.
Eines war an den Bildern von Jean-Luc Mélenchons Wahlkampfveranstaltungen und den Siegesfeiern nach dem Erfolg von Syriza in Griechenland auffällig – die Zahl von jungen Leuten, die sich für diese Projekte begeistern können. Das hat objektive Ursachen: Die junge Generation kennt den sozialstaatlich regulierten Kapitalismus nur noch aus den Erzählungen ihrer Eltern – ihre Realität ist ein Krisenkapitalismus mit erheblichen Legitimationsproblemen, persönlich prekäre Verhältnisse und Zukunftsangst. Antikapitalistische Milieus sind entstanden, die in Deutschland den Kern der letzten Bewegungen ausgemacht haben – sei es gegen die Atomkraft oder bei Occupy. DIE LINKE braucht diese jungen Menschen..
Das erfordert zweierlei: Junge Menschen, die etwas verändern wollen, brauchen die Partei als Instrument, diese Veränderung kollektiv zu organisieren. Sie wollen nicht in endlose Debatten gezogen werden, in denen die Listenaufstellung für die nächste Kommunalwahl wichtiger ist als die nächste Demonstration gegen Mieterhöhungen. Die nach Innen gewendete Kultur der LINKEN verlangt frisch Politisierten momentan zu viel Zeit und Nerven ab. Eine Außenwendung unserer Partei ist aber die Grundvoraussetzung für die Verjüngung und Auffrischung der LINKEN, die neuen Kräfte können dann wiederum die Außenwendung tragen und stabilisieren.
Dazu muss DIE LINKE aber raus aus den Hinterzimmern und dahin, wo die jungen Leute sind: An Schulen, Berufsschulen und Universitäten. Unser Jugend- und Studierendenverband hat es zumindest teilweise geschafft, Aktivistinnen und Aktivisten der Bildungsstreiks und der Occupy-Bewegung für ein radikales und bewegungsorientiertes Parteiprojekt zu gewinnen. Die bröckelnde Basis der LINKEN zu verbreitern und mehr junge Aktive zu gewinnen, kann aber nicht alleine auf die Linksjugend oder den SDS abgeschoben werden – sie ist für DIE LINKE insgesamt eine Überlebensfrage. Deswegen sollte sich die gesamte Partei in Richtung dieser antikapitalistischen Milieus öffnen. LINKE-Veranstaltungen an Unis, Engagement in Bewegungen wie Occupy, die junge Menschen anziehen und ein klares antikapitalistisches Profil haben, können die Partei für jüngere Generationen attraktiv machen und substanziell verstärken. Eine begrüßenswerter Schritt in diese Richtung ist der geplante „Kapitalismus vs. Demokratie-Kongress« von Die Linke.SDS vom 30.11.-2.12. in Köln. Wenn wir nach den verlorenen Landtagswahlen in Ost und West wieder auf die Beine kommen und linke Jugendliche für DIE LINKE begeistern wollen, müssen solche Initiativen von der gesamten Partei unterstützt werden.
10. Die Probleme der Partei sind flügelübergreifend – die Verschiebung innerparteilicher Kräfteverhältnisse alleine wird sie nicht lösen.
In der LINKEN ist es mittlerweile üblich, alle Diskussionen durch das Prisma der Flügelauseinandersetzungen zu betrachten. Darunter hat nicht nur die politische Kultur, sondern die Parteiarbeit insgesamt gelitten. Dietmar Bartsch erklärte nach den Wahlen in Schleswig-Holstein, die gleichzeitig mit erfolgreichen kommunalen Stichwahlen in Thüringen stattfanden, dass „politische Bündnisse meist eher Erfolge zeitigen als das Wir-Gegen-Alle.« Diese Rechnung geht nicht auf. Die Politik, wie sie in den Regierungsbeteiligungen in Berlin und Brandenburg gemacht wurde, war für DIE LINKE nicht zielführend. Inzwischen mussten selbst die Verantwortlichen in Berlin einräumen, das die Jahre als Juniorpartner der SPD die Partei politisch profillos und organisatorisch zerrüttet zurückgelassen haben.
Nur: Die wesentlichen Probleme der Partei, nämlich Fixierung auf Parlamente, ein überwiegend passives/begleitendes Verhältnis zu Kämpfen, Bewegungen und gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen, der Glaube an die Kraft von Programm, Deklarationen und Resolutionen, der mangelnde Fokus auf starke, verankerte Basisstrukturen und die fehlende Orientierung auf jugendliche antikapitalistische Milieus sind keineswegs das Monopol eines bestimmten Parteiflügels. Sie finden sich ebenso auf der Parteilinken. Auch hier werden die Kräfte im Wesentlichen auf innerparteiliche Auseinandersetzungen gerichtet. So wichtig die Verabschiedung des Programms in Erfurt war: Der Wurm in der Partei sitzt wesentlich tiefer. Offensichtlich hat die Verabschiedung eines klar antikapitalistischen und vom linken Flügel geprägten Parteiprogramms den Niedergang der Partei nicht aufgehalten. Auch „linke« Landesverbände haben herbe Wahlschlappen eingefahren und Mitglieder verloren. Deshalb muss auch die Parteilinke sich ernsthaft mit Strategien für eine Außenwendung beschäftigen und sich nicht in Auseinanderersetzungen um Personaltableaus erschöpfen.
11. Der Ruf nach der Rückkehr Oskar Lafontaines ist kein Ersatz für die Debatte um eine neue Orientierung der Partei.
Jean-Luc Mélenchon hat gezeigt, wie eine Frontfigur, welche scharf gegen die herrschende Politik auftritt und polarisiert, eine politische Kraft nach vorne reißen kann. Offensichtlich ist Oskar Lafontaine die Person in der LINKEN, die diese Rolle am besten ausfüllen kann. Von daher ist seine Rückkehr an die Parteispitze absolut wünschenswert. Er kann Menschen mobilisieren, motivieren und begeistern, und er steht als Person für ein klares Profil und ein politisches Kurshalten.
Aber: Bei Oskar Lafontaine kann man nicht Mitglied werden, man wird es bei der LINKEN. Egal wie gut das Spitzenpersonal ist, kollektiv wirksam werden Unterstützer der LINKEN in den Strukturen, die sie vorfinden. Der „Oskar-Effekt« kann Stimmen generieren und DIE LINKE profilieren – er baut aber alleine keine nachhaltigen Strukturen auf und verankert DIE LINKE auch nicht in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Auch in Frankreich ist die Frage nicht gelöst, wie die Popularität Mélenchons in eine stärkere Partei umzumünzen ist- seine Parti de Gauche ist mit 11.000 Mitgliedern nach wie vor eine sehr kleine Kraft.
12. DIE LINKE kann aus ihrer Krise stärker hervorgehen, wenn sie die richtigen Schlussfolgerungen zieht – die Planstelle des Motors sozialer Bewegung ist in Deutschland nach wie vor unbesetzt.
Trotz schlechter Wahlergebnisse: Wir stehen keineswegs vor dem Untergang. Parteien haben Krisen, ein Zyklus von Aufstieg, Niedergang und im besten Falle Wiederaufstieg ist normal. Die jetzt bejubelte griechische Syriza ist dafür ein Paradebeispiel. Vor den Wahlen 2009 biederte sie sich bei der sozialdemokratischen Pasok an – mit katastrophalen Ergebnissen: die Pasok legte um 5,8 Prozent auf fast 44 Prozent zu, Syriza verlor trotz massiver gesellschaftlicher Kämpfe und Generalstreiks sogar 0,5 Prozent und kam bei den Wahlen nur noch auf magere 4,6 Prozent. Als der größte Bestandteil des Wahlbündnisses Syriza, die Synaspismos, sich 2010 nach heftigen internen Auseinandersetzungen spaltete, sah es so aus, als wäre die griechische Linkspartei am Ende. Doch eine scharfe Orientierung gegen das EU-Spardikat und Engagement in den gesellschaftlichen Konflikten machte Syriza jetzt zur zweitstärksten Kraft, unter den Wählerinnen und Wählern aus der städtischen Arbeiterschaft wurde sie sogar zur stärksten der Parteien. Bei möglichen Neuwahlen im Juni werden der Partei bis zu 27 Prozent der Stimmen vorausgesagt. Natürlich begünstigte die Auflösung des alten politischen Gefüges und insbesondere der Niedergang der griechischen Sozialdemokratie den radikalen Aufschwung zugunsten von Syriza. Doch auch in Deutschland ist der Niedergang der LINKEN kein von den objektiven Umständen vorgeschriebenes Naturgesetz. Bernd Riexinger formulierte 2004, die neu entstehende WASG müsse „Motor« sozialer Bewegungen werden. Die Planstelle des Motors sozialer Bewegung ist in Deutschland nach wie vor unbesetzt – die Piraten sind weder programmatisch noch organisatorisch in der Lage, diese Funktion zu erfüllen, viele Piratenaktivistinnen und -aktivisten sehen das auch nicht als ihre Aufgabe. Es nützt nichts, wenn DIE LINKE auf die neue Formation guckt wie das Kaninchen auf die Schlange – sie muss ihre eigene, spezifische Rolle finden – die alte Rolle als Blitzableiter für allgemeinen politischen Frust hat sich spätestens mit dem Aufstieg der Piraten erschöpft.
13. Neustart. Der LINKEN kann über 2013 hinaus ein zweiter Aufbruch gelingen.
Nach den Wahlen in Schleswig-Holstein und in Nordrhein-Westfalen benötigt DIE LINKE eine ernsthafte Debatte darüber und Analyse davor, was schief gelaufen ist. Schuldzuweisungen werden die Partei nicht in die Offensive bringen. Neben einer ehrlichen Ursachenforschung sind vielmehr praktische Rezepte gefragt, wie sich denn DIE LINKE aus der derzeitigen Misere realistisch befreien kann. Die Ansatzpunkte und Aktionsfelder für die Partei sind da: Obwohl die Krise in Deutschland bislang nicht wie in anderen Ländern eingeschlagen hat, finden auch hier viele soziale Kämpfe statt, in die sich DIE LINKE einmischen kann. Die Austeritätspolitik der Bundesregierung, der Fiskalpakt und die Aushebelung der Demokratien in Europa schreiten mit immer schnelleren Schritten voran und werden auch die politischen Koordinaten über die Bundestagswahl hinaus bestimmen. Eine starke und widerständige Partei links von der SPD wird gebraucht und ist für die kommenden Auseinandersetzungen unerlässlich. Es zeigen sich hoffnungsvolle Ansätze einer kämpferischen Erneuerung innerhalb der Gewerkschaftsbewegung. DIE LINKE kann diese Entwicklung aktiv vorantreiben und für viele neue gewerkschaftliche Aktivistinnen und Aktivisten relevant werden. Wenn DIE LINKE es außerdem schafft, sich wie bei den erfolgreichen Mobilisierungen gegen die Naziaufmärsche in Dresden auf einzelne Kampagnenschwerpunkte zu konzentrieren und diese dann auch als Gesamtpartei mit all ihren Ressourcen umzusetzen, wird sie in Zukunft erfolgreicher sein. Öffnet sich DIE LINKE für Occupy-Bewegte und die neu entstandenen antikapitalistischen Milieus und formuliert sie attraktive Angebote für Jugendliche und Studierende, kann sie neue Kraft tanken. Die derzeitige Situation ist alles andere als einfach. Der beeindruckende Aktivitätsgrad bei den vergangenen Wahlkämpfen und das tolle Engagement unserer nimmermüden Mitglieder weist aber auf die Potenziale, die in unserer Partei schlummern. Um diese zu entfalten, muss DIE LINKE zum Neustart bereit sein.
Zum Text:
Das marx21-Netzwerk möchte mit dem Thesenpapier einen Beitrag zu einer offenen, ehrlichen und grundsätzlichen Strategiedebatte leisten. Wir freuen uns über Reaktionen auf dieses Thesenpapier und laden Dich zu einer gemeinsamen Diskussion ein. Die gute Gelegenheit dafür ist der von marx21 ausgerichtete Kongress »Marx is Muss 2012« vom 7.-10. Juni in Berlin. Hier wollen wir fundamentale Strategiedebatten der Linken führen.
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