Millionen Menschen sind auf der Flucht. Bedingungslose Solidarität mit diesen Menschen in Not ist ein zentraler Grundsatz linker Politik. Aber sollten wir von Klassenkampf sprechen, wenn Menschen dieser Not entfliehen? Unsere drei Autoren geben unterschiedliche Antworten
»Flucht ist eine Reaktion auf den Klassenkampf von oben«
Debattenbeitrag von Yaak Pabst (Politikwissenschaftler, LINKE Mitglied und Redakteur von marx21)
Im Sommer 2016 entstand aus der individuellen Entscheidung zur Flucht eine kollektive Aktion von Zehnttausenden, welche für kurze Zeit das europäische Grenzregime zu Fall brachte. Zu Tausenden widersetzen sich Geflüchtete der Polizei und erzwangen mit ihrem entschlossenen Handeln den faktischen Kollaps des Dublin-Systems.
Flucht und Macht der Herrschenden
Jetzt kämpft die EU, unter Führung von Deutschland, mit all ihrer Macht für die Wiederherstellung der alten Ordnung. Auch das ist Klassenkampf. Die Herrschenden führen ihn mit Stacheldraht, Zäunen und Türmen, mit schärferen Einreisebestimmungen und Asylgesetzen, mit tausenden Soldatinnen und Polizisten, ausgerüstet mit Booten, Helikoptern und Nachtsichtgeräten.
Im Kapitalismus sind Flucht und Migration eine Reaktion auf den Klassenkampf von oben. Konzerne und ihre jeweiligen Nationalstaaten heizen im Kampf um Arbeitskräfte, Rohstoffe und Absatzmärkte auf dem Weltmarkt die globale Flucht – und Migrationsbewegung immer weiter an.
Migrationsregime für die Interesse der Wirtschaft
Grenzkontrollen, Einwanderungsbestimmungen und Asylgesetzgebung formen die Migrationsregime der einzelnen kapitalistischen Staaten. Diese sind jedoch ein Mechanismus, um die Migration im Interesse der Wirtschaft besser steuern zu können und die Ausbeutung von einheimischen und ausländischen Lohnabhängigen zu erleichtern. Die Frage von Flucht und Klassenkampf ist deswegen nicht nur eine theoretische Frage.
Klassenkampf ist mehr als Streik
Der Klassenkampf entsteht aus den ausbeuterischen Produktionsverhältnissen im Kapitalismus. Er nimmt verschiedene Formen an und durchzieht die gesamte Gesellschaft. Er beschreibt ökonomische, politische und ideologische Kämpfe zwischen gesellschaftlichen Klassen. Es gibt die bürgerliche und die proletarische Seite des Klassenkampfes. Während die Einrichtung und Aufrechterhaltung von Migrationskontrollen und Grenzregimen die bürgerliche Seite des Klassenkampfes in diesem Feld ausmacht, gehört der Widerstand dagegen und die Migrationsbewegung von Millionen Menschen weltweit zur proletarischen Seite.
Imperialismus und Flucht
Aus Menschen die fliehen, werden irgendwann Menschen die arbeiten. Historisch haben die imperialistischen Kernländern »ihre« Kolonien im Nahen Osten, Afrika aber auch in Südamerika, Osteuropa und Asien, als Quellen für billige Arbeitskräfte und Rohstoffe ausgebeutet. Der Imperialismus hat in diesen Ländern eine »gigantische globale Reserve-Armee der Arbeit« geschaffen. Dieses Abhängigkeitsverhältnis wirkt bis heute – 232 Millionen Menschen leben als Migrantinnen oder Migranten nicht in ihrem Geburtsland. In den 35 entwickelten Industrieländer (OECD-Staaten) hat die im Ausland geborene Bevölkerung dementsprechend stark zugenommen und machen im Durchschnitt 12,3 Prozent der Gesamtbevölkerung aus.
Flucht und die Arbeiterklasse
Die Migrationsbewegungen im Kapitalismus verändern die Zusammensetzung der Arbeiterklasse. Einheimische und zugewanderte Beschäftigte sind zwar in ihrer gemeinsamen Erfahrung der Ausbeutung vereint, aber auch durch die unterschiedlichen Nationalitäten und rassistische Ausländergesetzgebung gespalten. Dies schafft Potential für Konflikte aber auch für Solidarität innerhalb der Arbeiterklasse. Die lohnabhängig Beschäftigten haben objektiv kein Interesse an der Aufrechterhaltung von Grenzregimen und Einwanderungskontrollen, sowie der damit verbundenen repressiven Gesetzgebung und polizeilichen Schikanen. Sie behindern den gemeinsam Kampf.
»Brot und Rosen« und die Linke
Migrantinnen und Migranten haben jedoch auch eine lange Tradition sich in den Klassenkampf im Betrieb einzumischen. Historisch ist die Thematik des Rassismus eng verknüpft mit den Kämpfen gegen Ausbeutung. So haben Migrantinnen und Migranten antirassistische Forderungen im Kontext »ökonomischer« Kämpfe erhoben und damit Verbindungslinien zwischen diesen Auseinandersetzungen gezogen. Bereits 1912 streikten Zehntausende junge Arbeitsmigrantinnen in Lawrence im US-Bundesstaat Massachusetts nicht nur für höhere Löhne, sondern für ein menschenwürdiges Leben. Ihre Streikparole »Brot und Rosen« formulierte den Wunsch nach Teilhabe für alle. Daran können wir heute anknüpfen, indem wir als Linke uns für eine vollständige Bewegungsfreiheit der Arbeiterklasse einsetzen und gleichzeitig für gleiche soziale, politische und ökonomische Teilhabe kämpfen.
Schlagwörter: Arbeiterklasse, Arbeitsmigration, Debatte, EU, Flucht, Imperialismus, Klassenkampf, Linke, marx21, Migration