Vor dem G20-Gipfel in Hamburg schüren viele Medien die Angst vor Gewalt bei den Protesten. Dass Kapitalismus alltäglich Gewalt bedeutet, verschweigen sie lieber, meint Georg Frankl
Im Vorfeld des Hamburger G20-Gipfels im Juli prophezeit die Polizei schon die »schlimmsten Krawalle aller Zeiten«. Und nicht nur die Springerpresse stimmt ein, auch der »Spiegel« kündigt »Extremisten aus ganz Europa«, »Straßenschlachten« und »Häuserkampf« an. Seit dem WTO-Treffen 1999 in Seattle kam es anlässlich solcher Gipfel immer wieder zu teilweise heftigen Ausschreitungen. Für die Medien ein gefundenes Fressen: »Wollt ihr Tote, ihr Chaoten?« schrie die »Bild« im Juni 2007 von ihrer Titelseite, als am Rande der Großdemonstration gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm die Polizei mit dem »Schwarzen Block« zusammenstieß.
Die ausführliche Berichterstattung über Szenen, die meist nur Randerscheinungen bei Großprotesten darstellen, lenkt von der alltäglichen Gewalt ab: Die Nachrichten sind voll von Krieg, Bürgerkrieg, Verfolgung, Aufständen, Terroranschlägen und Amokläufen. Der Global Peace Index hat zwischen 2010 und 2014 eine 3,5-fache Erhöhung der Anzahl an Todesopfern in Konflikten weltweit, von 49.000 auf 180.000, gemessen. Aber nicht nur diese brutale physische Gewalt nimmt zu. Auch im Jobcenter, in der Ausländerbehörde, in der Familie, am Arbeitsplatz, in Schule oder Hochschule machen Menschen täglich die verletzende Erfahrung, den an sie gestellten Anforderungen nicht gerecht werden zu können. Das Gefühl, Zwängen und Willkür chancenlos ausgeliefert oder vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen zu sein, kann ebenso krank und aggressiv machen wie physische Gewalterfahrungen. Allein in Deutschland hat die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund seelischer Störungen zwischen 2001 und 2015 um 160 Prozent auf 87 Millionen zugenommen.
G20: Kapitalismus bedeutet alltägliche Gewalt
Die seit der Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers 2008 gärende kapitalistische Krise verschärft diese gesellschaftlichen Verhältnisse weiter. Die Rivalität zwischen Staaten spitzt sich zu, ebenso wie die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt und der Druck am Arbeitsplatz. Regierungen bauen den Sozialstaat immer weiter ab und spielen verschiedene Gruppen von Anspruchsberechtigten gegeneinander aus. In besonders stark betroffenen Ländern wie Griechenland sind die Suizidrate und die Zahl psychischer Erkrankungen in den vergangenen zehn Jahren rasant angestiegen. Laut einer Studie des griechischen Gesundheitsinstituts Esdy fühlen sich insbesondere Personen krank, die Rechnungen nicht begleichen oder Schulden nicht abbezahlen können.
Die Ursache dieser verschiedenen Formen von Gewalt liegt in den herrschenden Eigentums- und Machtverhältnissen: Eine verschwindend kleine Minderheit schwimmt in unermesslichem Reichtum, während die große Mehrheit zusehends verelendet. Der Kapitalismus beruht im Kern darauf, dass Menschen gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Meist kommt dieser stumme Zwang ohne zusätzliche Gewalt aus. Doch wenn immer mehr Menschen die Ungerechtigkeit dieser Verhältnisse in Frage stellen, schützen die Herrschenden ihr Eigentum und ihre Macht mit Gewalt. Gerade erst hat der Bundestag die Strafen für Widerstandshandlungen gegen Polizisten drakonisch verschärft.
Unsere Gegner führen uns täglich vor, zu welchen Schandtaten sie bereit und in der Lage sind. Wer Flüchtlinge in Kriegsgebiete abschiebt und zuschaut, wie tausende Menschen im Mittelmeer ertrinken, der wird zum einen von keinem moralisch sauberen Widerstand beeindruckt sein und hat zum anderen kein Recht, das Einhalten von moralischen Regeln einzufordern, gegen die er selbst verstößt. Zumal die Polizei an Gewaltfreiheit häufig kein Interesse zu haben scheint. Immer wieder schleust die Staatsgewalt selbst so genannte Agents Provocateurs in Proteste ein, die zu Gewalttaten anstacheln.
Übertriebe Militanz wirkt auf die Mehrheit abstoßend
Für unsere Bewegung stellt es ein Problem dar, dass die übertriebene Militanz mancher gewaltbereiter Gruppierungen als willkommene Vorlage für die moralische Verurteilung von linkem Widerstand insgesamt aufgegriffen wird. Fotos von vermummten Steineschmeißern mögen auf manche faszinierend wirken, der Großteil der Bevölkerung empfindet solche Brutalität aber wohl eher als abstoßend. In weniger radikalen Gruppierungen wachsen in Reaktion auf solche Bilder Druck und Bedürfnis, sich zu distanzieren und den grundsätzlichen Verzicht auf Gewalt als Mittel des Widerstandes einzufordern.
Fliegende Steine drücken zumeist nichts als Wut und Ohnmacht aus. Es ist ein schwerer Irrtum, diese Form des Protestes mit Macht oder Gegenmacht zu verwechseln. Aber wenn sich unsere Bewegung für Steinwürfe verantwortlich machen lässt oder gar beansprucht, sie in Zukunft zu verhindern, besteht die einzig sichere Konsequenz im Verzicht auf Massendemonstrationen und breite Bündnisse. Und genau das ist das Ziel der Herrschenden und vieler Kommentatoren in den Massenmedien: die Bewegung zu spalten und zu zerstören. Über die Stöckchen, die sie uns hinhalten, darf die Protestbewegung daher nicht springen. Wir kritisieren die Dummheit des Steinewerfens, aber wir distanzieren uns nicht von den Menschen dahinter. Ihre Ohnmacht ist auch unsere Ohnmacht. Sie stehen uns trotz ihrer falschen und schädlichen Taktik näher als die verantwortlichen Politiker, die diese Gewaltausbrüche anprangern. Es liegt an uns, einen wirklichen Ausweg aus der Unmenschlichkeit der herrschenden Verhältnisse aufzuzeigen.
Radikal sein bedeutet, die Probleme an der Wurzel zu bekämpfen
Manche Linke neigen dazu, Radikalität mit Militanz zu verwechseln. Radikalität bedeutet jedoch, die Probleme an der Wurzel zu bekämpfen. Die Wurzel von Krieg und Krise ist aber nicht die Polizei – ganz abgesehen davon, dass autonome Grüppchen auch überhaupt keine Chancen haben, einen militärischen Kampf gegen die Polizei zu gewinnen.
Die Macht zu wirklicher Veränderung liegt bei denen, die täglich aufs Neue den gigantischen Wohlstand unserer Gesellschaft erarbeiten: Fließbandarbeiterinnen, Pflegekräfte, LKW-Fahrer, Bauarbeiter, Ingenieurinnen, Erzieherinnen. Welche gigantische Macht über unsere Gesellschaft haben beispielsweise die Beschäftigten in Elektrizitätswerken oder bei der Telekom?
Dass Arbeiterinnen und Arbeiter diese Macht einsetzen, steht gerade nicht an, aber es kommt darauf an, erste Schritte in die richtige Richtung zu unternehmen. Die Linke kann in Hamburg politische Erfolge erzielen: Für den Machterhalt der Herrschenden ist die scheinbare Alternativlosigkeit von hoher Wichtigkeit, denn mit diesem Argument können sie der Bevölkerung immer neue Bürden und Kürzungen auferlegen. Der Kern ihrer Politik lautet: Es reicht eben nicht für alle. Der Gürtel muss enger geschnallt, die Flüchtlinge ferngehalten werden, und nur die Besten können im Wettbewerb bestehen und haben Chancen auf Wohlstand.
Dem gilt es seitens der Linken entgegenzusetzen: Doch, es reicht für alle! Die Menschheit produziert mehr Nahrung, als sie essen kann, und mehr Autos, als sie kaufen kann. Die Produktivkräfte sind gigantisch, und wenn wir sie unter unsere demokratische Kontrolle bringen, wird fast alles möglich. Das werden die Herrschenden nicht zulassen, ohne sich zu wehren – und sie schrecken nicht vor dem Einsatz von bewaffneter Gewalt zurück. Die brutale Unterdrückung der Proteste gegen Stuttgart21 etwa hat gezeigt, zu welchen Maßnahmen die Regierung bereit ist, wenn demokratische Massen ihre Pläne zu durchkreuzen drohen. Der Einsatz von Gewalt als Mittel des Widerstandes ist nur dann sinnvoll, wenn die ungeheure Mehrheit ihre Interessen gegen die Minderheit der Herrschenden durchzusetzen versucht.
Friedliche Massenproteste können gewaltige Wirkung entfalten
In Hamburg steht das nicht auf der Tagesordnung. Aber auch friedliche Massenproteste können eine gewaltige Wirkung entfalten. Sie können die realistische Hoffnung auf Veränderung verbreiten und Menschen zu Selbstaktivität und zum Mitmachen verleiten. Die radikale Linke hat die Aufgabe, für diese Strategie zu werben – sowohl bei denjenigen, die Hoffnungen in die Regierung setzen, als auch bei denen, die Illusionen in die Wirkung militanter Gewalt anhängen. Noch hat die Krise der Repräsentation Deutschland aber nicht in gleichem Maße erreicht wie andere Länder. Doch der Aufstieg der AfD zeigt, wie fragil die Lage auch in der Bundesrepublik ist, und wie schnell sich der Wind drehen kann. In Hamburg können wir gemeinsam Einfluss auf die Windrichtung nehmen.
Georg Frankl studiert Kultur und Technik an der TU Berlin und ist Mitglied der LINKEN in Berlin-Neukölln.
Foto: United Nations Photo
Schlagwörter: g20, Gewalt, Hamburg, Inland, Linke, Protest