Nach der Aufdeckung der Naziterrorzelle NSU vor einem Jahr geht weiterhin Gefahr von gewaltbereiten Nazis aus. Jan Maas stellt vier neue Bücher zum Thema vor
Eindeutig wie in einem Schaubild, fast grotesk überzeichnet zur Karikatur. So kommt das Verhältnis zwischen Nazis, Staat und Antifaschisten im Geflecht rund um die Naziterrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) zum Ausdruck: Schon bald nach der Aufdeckung der NSU-Morde im letzten November verdichten sich Hinweise, dass vor allem das thüringische Landesamt für Verfassungsschutz die Entstehung der Zelle zumindest begünstigt hat. Doch noch während der Ermittlungen vernichtet das Bundesamt Akten, die zur Aufklärung hätten beitragen können.
Zugleich hindern Beamte beteiligter Behörden die Abgeordneten in den verschiedenen parlamentarischen Untersuchungsausschüssen an der Aufklärung der Hintergründe. Nach fast einem Jahr ist glasklar: Die Aufdeckung der Umstände, unter denen der NSU erst entstehen und dann morden konnte, ist politisch mindestens umstritten, wenn nicht unerwünscht. Ohne Druck von außen, zum Beispiel durch die antifaschistische Bewegung oder kritische Journalisten, wird sie kaum je erfolgreich stattfinden. Eine Reihe von Büchern zieht Zwischenbilanz.
Kumpanei mit Nazis
»Die Zelle. Rechter Terror in Deutschland« von den Journalisten John Goetz und Christian Fuchs erzählt die Geschichte des NSU. Der Ursprung des Buches liegt in einer Recherche für das Fernsehmagazin »Panorama« In deren Verlauf sammelten die beiden Reporter so viel Stoff, dass daraus gleich mehrere Filme und das vorliegende Buch entstanden. Mithilfe detailreichen Materials gelingt ihnen eine anschauliche Schilderung der sich radikalisierenden Nazigruppe und ihres Umfeldes. Verfasst in der historischen Gegenwartsform liest sich das Buch wie ein Krimi.
Schon die Razzia, die 1998 zum Untertauchen der Naziterroristen führte, illustriert die Kumpanei der Polizei mit den Nazis. Nach Bombenfunden in Jena verdächtigen die Beamten den späteren NSU-Mörder Uwe Böhnhardt. Nach zwei Monaten Beschattung wissen sie, dass er verdächtiges Material in einer Garage einlagert. Als sie im Beisein des Verdächtigen den Durchsuchungsbeschluss vollstrecken, gibt ein Beamter Böhnhardt den Tipp, dass er mit Haftbefehl gesucht werde. Der Nazi setzt sich in sein Auto, fährt davon und niemand nimmt die Verfolgung auf.
CDU befeuerte Rassismus
Zu den Stärken von »Die Zelle« gehört, dass die Autoren wie in einem Dokumentarfilm zwischen den biografischen und szenischen Abschnitten immer wieder die gesellschaftlichen und politischen Hintergründe einblenden. Beispielsweise schildern Goetz und Fuchs anschaulich die Verhältnisse Anfang der 1990er Jahre, als in Ostdeutschland Hetzjagden und Überfälle auf Asylbewerber und Linke Alltag waren. Sie machen aber auch deutlich, dass Rassismus kein rein ostdeutsches Problem war und ist: 1989 bekamen die Republikaner bei Wahlen in Westberlin acht Prozent der Stimmen.
Der damalige CDU-Generalsekretär Volker Rühe wies am 12. September 1991 alle Kreisverbände seiner Partei in einem Brief an, »die Asylpolitik zum Thema zu machen«. Die CDU-Politiker sollten in den Parlamenten Fragen stellen wie: »Sind Asylbewerber in Hotels oder Pensionen untergebracht worden? Zu welchen Kosten?« Die Partei griff den grassierenden Rassismus nicht nur auf, sondern befeuerte ihn auch noch. Einen Tag später kamen rassistische Parteien bei der Bremen-Wahl auf 7,7 Prozent, vier Tage später begann das Pogrom gegen die Flüchtlingswohnheime im sächsischen Hoyerswerda.
Schwach an Goetz‘ und Fuchs‘ Buch ist, dass sich die beiden Autoren auf die Darstellung und Einordnung beschränken. Analyse und Erklärung scheinen sie nicht für journalistische Aufgaben zu halten. Begebenheiten wie der Tipp, der Böhnhardt zur Flucht veranlasste, oder der Brief von Rühe verlangen nach einer Erklärung. Schließlich widersprechen sie offensichtlich den herrschenden Bildern von Polizei und Parteien. Doch so lassen die Autoren ihre Leser mit den unfassbaren Vorkommnissen allein und überlassen sie letztlich der Resignation oder der Hoffnung auf bessere Polizisten und Politiker.
Verfassungsschutz und Terrorzelle
»Das braune Netz. Naziterror – Hintergründe, Verharmloser, Förderer« des freien Journalisten Markus Bernhardt dagegen legt den Schwerpunkt genau hierauf: Analyse und Erklärung. Bernhardt ist Mitglied der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten (VVN-BdA) und arbeitet als Journalist unter anderem für die Tageszeitung junge Welt. Er klagt an: »Ohne die Kumpanei der bundesdeutschen Geheimdienste hätte die neofaschistische Terrorgruppe (…) nicht über dreizehn Jahre hinweg Morde, Bombenanschläge und Bankraube begehen können.«
Als Beleg führt Bernhardt unter anderem die Vorgeschichte der missratenen Razzia im Jahr 1998 an. Zu dieser Zeit sind die späteren NSU-Terroristen Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe bereits drei Jahre im Nazinetzwerk »Thüringer Heimatschutz« (THS) aktiv gewesen. Seit 1995 waren sie als »Rechtsextremisten« im Informationssystem gespeichert. Der THS war im gleichen Zeitraum von V-Leuten des Verfassungsschutzes infiltriert. Die Flucht der drei in den Untergrund kann dem Verfassungsschutz nicht unbekannt geblieben sein, schreibt der Autor.
Außerdem helfe der Staat den Nazis, indem er seinen Kampf gegen »Extremismus« vornehmlich gegen Linke richte, meint Bernhardt. Er erinnert an die Kriminalisierung der Proteste gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm. Der »Extremismustheorie« zufolge wird die angeblich demokratische Mitte der Gesellschaft von den Rändern her angegriffen. Mit den Begriffen »Rechtsextremismus« und »Linksextremismus« werden einerseits die geistige Verwandtschaft zwischen Konservativen und Nazis verdeckt und andererseits Parallelen zwischen Linken und Nazis erfunden.
Sarrazin als Hintergrund
Spürbare Folgen hat die »Extremismustheorie« beispielsweise in der Politik von Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU). Wenn Initiativen Fördergelder beantragen wollen, müssen sie inzwischen in ihrem Namen und im Namen möglicher Partner eine Klausel gegen »Extremismus« unterschreiben. Einer antifaschistischen Initiative, die beispielsweise mit Unterstützern von Sitzblockaden gegen Naziaufmärsche zusammenarbeitet, könnten so die Fördergelder entzogen werden. Praktisch hilft das den Nazis und schwächt die Linke.
Zum Hintergrund des Naziterrors gehört Bernhardt zufolge auch, dass rassistische Ideen weit über die harte Naziszene hinaus verbreitet sind. Er führt Thilo Sarrazins Buch »Deutschland schafft sich ab« ebenso an wie die Tatsache, dass über die Hälfte der Deutschen eine negative Einstellung gegenüber Muslimen haben. Ganz am Schluss platziert gehen diese Punkte leider ein bisschen unter. Überhaupt ist das Buch insgesamt unübersichtlich aufgebaut und liest sich etwas sperrig. Damit vergibt der Autor wichtige Chancen. Denn ein spannendes Werk reichen Leser lieber weiter. Und mehr Leser hätten Bernhardts Argumente auf alle Fälle verdient.
Grenzen der Untersuchungsausschüsse
»Made in Thüringen? Nazi-Terror und Verfassungsschutz-Skandal«, herausgegeben von Bodo Ramelow, Vorsitzender der thüringischen Linksfraktion, zielt in eine ähnliche Richtung wie »Das braune Netz«. Das Buch versammelt zu diesem Zweck Aufsätze verschiedener Experten. Anders als bei Bernhardt, der den Schwerpunkt auf seine Thesen legt und nur die wichtigsten Fakten zur Unterstützung bringt, sind hier minutiöse Darstellungen der NSU-Vorläufer und -Unterstützer zu finden sowie zahlreiche verharmlosende Zitate aus der Thüringer CDU und FDP.
Neue Aspekte liefern auch die beiden Aufsätze von den Mitgliedern der Untersuchungsausschüsse in Sachsen und Thüringen. Zum einen verdeutlichen sie, wie wenig Aufklärungswillen besonders auf Seiten von CDU und FDP in den betroffenen Ländern herrscht. Zum anderen zeigen sie die Weigerung der Behörden, an einer vollständigen Aufdeckung mitzuwirken. Die Autoren sind zu Recht skeptisch, was die Möglichkeiten dieser Gremien angeht. Ergänzt werden die beiden Berichte durch eine Zusammenfassung der Reaktionen auf Bundesebene, die ähnlich katastrophal sind.
Positiv hervorzuheben ist außerdem, dass sich unter den Aufsätzen eine Sammlung von möglichen Maßnahmen gegen Nazis befindet. Geschrieben hat sie Martina Renner, stellvertretende Vorsitzende der thüringischen Linksfraktion und stellvertretende Vorsitzende des Untersuchungsausschusses zum NSU. Sie fordert Praktisches wie die Auflösung des Verfassungsschutzes oder die Abschaffung der Residenzpflicht, aber auch, die Naziszene trotz ihrer verschiedenen, auch konkurrierenden Organisationen endlich als eine Bewegung zu verstehen und entsprechend zu bekämpfen.
Alltäglicher Rassismus
Im Zusammenhang mit dem alltäglichen Rassismus ist der Beitrag von Ottomar Rothmann, einem Überlebenden des Konzentrationslagers Buchenwald, hervorzuheben, der seine Erlebnisse bei der Befreiung des Lagers 1945 schildert und betont: »Es geht nicht darum, unser Entsetzen zu konservieren, sondern Lehren zu ziehen, die auch künftigen Generationen Orientierung sind. (…) Dazu gehört beides, die Kenntnis der Folgen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit und die Kenntnis der Anfänge, die im Kleinen, ja sogar im Banalen liegen können.«
Zum Nachschlagen der groben Linien, die zur Entwicklung der Naziterrorzelle geführt haben, und als Register der direkt und indirekt beteiligten Personen ist »Made in Thüringen?« sehr gut geeignet. Bedauerlicherweise wiederholen sich die Aufsätze zum Teil. Besonders in den Darstellungen über die Nazistrukturen in Sachsen und Thüringen doppelt sich einiges. Spätestens nach der Hälfte des Buches kennt der Leser die Geschichte des THS auswendig. Das schadet zwar nicht, die Wiederholung wirkt aber unprofessionell. Ein etwas schärferes Lektorat hätte dem Buch sicher gut getan.
Die nächste Naziterrorgruppe
»Neue Nazis. Jenseits der NPD: Populisten, Autonome Nationalisten und der Terror von rechts« von den Journalisten Toralf Staud und Johannes Radke ist das spannendste, weil streitbarste Buch unter den hier vorgestellten. Die Autoren lassen sich nicht von dem zurückliegenden Skandal fesseln, sondern widmen sich der Frage, aus welcher Richtung die nächste Naziterrorgruppe kommen könnte. Sie weisen zu Recht darauf hin, dass der NSU ein spezifisches Produkt der Naziszene der 1990er Jahre war, die sich inzwischen aber in Form und Inhalt weiterentwickelt hat.
Kernthese ihres Buches ist, dass die NPD droht, zwischen den Autonomen Nationalisten (AN) einerseits und rechtspopulistischen Bewegungen wie Pro Deutschland andererseits zerrieben zu werden. Dagegen könnte man zweierlei einwenden: Erstens haben weder die AN noch Pro eine mit der NPD vergleichbare Durchschlagkraft entwickelt. Zweitens hat die NPD bis heute den Vorteil, rechte Bewegung und rechte Partei in einem Projekt zu verbinden. Richtig ist allerdings die Beobachtung, dass die NPD derzeit in einer Krise steckt und sich neu orientieren muss.
Krise der NPD
Ihren bisherigen Höhepunkt hatte die Partei Mitte der 2000er Jahre erreicht. Die Strategie des Vorsitzenden Udo Voigt, die freien Kameradschaften und die Altnazipartei zusammenzuführen, hatte Erfolg: Die NPD saß in zwei Landtagen und übte Einfluss auf der Straße aus. Inzwischen sind mehrere Anläufe, neue Landtage zu erobern, gescheitert und der jährliche Aufmarsch in Dresden durch den antifaschistischen Widerstand gestoppt. Zudem steht die Partei infolge ihrer Verbindung mit dem NSU unter Druck. Für Staud und Radke Anlass, andere Kräfte zu untersuchen.
So schildern die Autoren am Beispiel eines Stadtteils von Dortmund, wie dort die gewaltbereite Nazisubkultur der Autonomen Nationalisten über Jahre hinweg Fuß fassen und Terror ausüben konnte. Gefährlich an den AN ist zweierlei: Erstens ihre Gewaltbereitschaft. Die taktische Zurückhaltung der NPD zur Wahrung ihrer Legalität ist ihnen fremd. Zweitens distanzieren sich die AN in ihrem Auftreten von den typischen Naziskins der 90er Jahre. Mit Kleidung und Kommunikationsstil docken sie an jugendlichen Subkulturen an: Sie sind urbanisierte Faschisten.
Autonome Nationalisten
Staud und Radke führen Zahlen an, nach denen bereits ein Fünftel der rund 5000 Nazis in der Kameradschaftsszene den AN zuzurechnen sind. Ein Problem der Autonomen Nationalisten scheint aber zu sein, dass sie Aktivisten ebenso schnell wieder verlieren, wie sie sie gewonnen haben. Außerdem sind sie – anders als beispielsweise die NPD in manchen Landstrichen – durch ihre Gewaltbereitschaft gesellschaftlich relativ isoliert. Das unterscheidet sie auch von Pro Deutschland, deren Hauptthema der antimuslimische Rassismus ist, den spätestens Sarrazin salonfähig gemacht hat.
Verschiedene – oft rechtspopulistisch genannte – Parteien haben in den letzten Jahren versucht, aus dieser Tatsache Kapital zu schlagen: Neben »Pro Deutschland« scheiterte daran auch »Die Freiheit«. Die antimuslimische Ideologie drückt sich vor allem bei Sarrazin und auf Webseiten wie »Politically Incorrect« aus. Die beiden Autoren meinen: »Alles, was auch nur leicht nach Nationalsozialismus riecht, war und ist für größere Teile der Bevölkerung tabu.« Der Reflex der antifaschistischen Bewegung, gegen jeden derartigen Versuch zu mobilisieren, dürfte ebenso verantwortlich sein.
Dauerthema Naziterror
Erhellend ist ein Kapitel über die Geschichte des Naziterrors nach 1945. In der berechtigten Empörung über den NSU-Skandal geht zuweilen unter, dass Terroristen schon immer zur Nazibewegung gehört haben. Schon 1952 flog der »Technische Dienst« auf, eine Gruppe von Altnazis und Waffen-SS-Veteranen, die auf US-Übungsplätzen Schießen üben durften und auf ihrer schwarzen Liste den damaligen SPD-Chef Erich Ollenhauer führten. Das Bombenattentat auf das Münchener Oktoberfest 1980 war ein weiterer Höhepunkt, aber keineswegs das Ende des Naziterrors.
Leider verlieren Staud und Radke in ihrem Buch den NSU-Skandal ziemlich aus dem Auge. Einerseits ist das die logische Folge ihres Blicks in die Zukunft, andererseits irritiert es, in einer aktuellen Publikation über Naziterror kaum etwas über den derzeit aktuellen Fall zu lesen. Gerade von einem profilierten Kenner der Nazibewegung wie Toralf Staud hätte man gerne gelesen, wie er sich die Verstrickung des Staates in eine Terrorzelle erklärt. Aber eine Antwort auf diese Frage bleiben ohnehin fast alle vorgestellten Bücher schuldig. Nur »Das braune Netz« wagt sich heran.
Die Bücher:
Die Zelle. Rechter Terror in Deutschland
Rowohlt
Reinbek 2012
264 Seiten
14,95 Euro
Markus Bernhardt
Das braune Netz. Naziterror – Hintergründe, Verharmloser, Förderer
Papyrossa
Köln 2012
116 Seiten
9,90 Euro
Bodo Ramelow (Hrsg.)
Made in Thüringen? Nazi-Terror und Verfassungsschutz-Skandal
VSA
Hamburg 2012
222 Seiten
12,80 Euro
Toralf Staud/Johannes Radke
Neue Nazis. Jenseits der NPD: Populisten, Autonome Nationalisten und der Terror von rechts
Kiepenheuer & Witsch
Köln 2012
272 Seiten
9,99 Euro
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