Vergewaltigungen sind noch immer ein großes Tabuthema. Ein neues Buch bettet sexualisierte Gewalt nun in gesellschaftliche Zusammenhänge ein – und liefert Ideen für einen angemessenen Umgang. Rebecca Offermann hat es für uns gelesen
Auch für Leserinnen und Leser, die sich schon näher mit Vergewaltigung und Vergewaltigungsmythen (wie »Vergewaltigungen finden vor allem im öffentlichem Raum durch unbekannte Männer statt«) beschäftigt haben, bietet Mithu M. Sanyals Buch neue Perspektiven auf dieses Tabuthema. Das Anliegen der Kulturwissenschaftlerin und Journalistin ist es, vorherrschende Ansichten über sexualisierte Gewalt auf den Prüfstand zu stellen. Hierfür liefert sie eine schlaglichtartige Übersicht über historische, feministische und aktuelle Vergewaltigungsdebatten.
Zum besseren Verständnis der heutigen Sichtweisen schildert Sanyal ausgewählte Beispiele aus der Geschichte. So wurde in der Antike die Ehre von Frauen in ihrem Körper verortet. Eine vergewaltigte Frau verlor ihre Ehre, was ein existenzbedrohender Zustand war. Die Vorstellung, dass eine Vergewaltigung schlimmer als der Tod ist, wurde zusammen mit anderen Denkmustern über Jahrhunderte – zum Teil bis heute – transportiert. Dass Sanyal solche historischen Zusammenhänge aufdeckt, ist eine große Stärke ihres Buches.
Ein Umgang jenseits von Klischees
Oftmals wird von Betroffenen einer Vergewaltigung erwartet, dass sie vollkommen zusammenbrechen. Die Autorin kritisiert diese Haltung. Sie will dabei keineswegs die Schwere dieses Verbrechens anzweifeln, sondern Betroffenen und deren Umfeld einen Umgang jenseits von Klischees erleichtern. Sanyal betont, dass die Reaktionen auf sexualisierte Gewalt stark von den individuellen Lebensumständen der Betroffenen abhängen. Auch der gesellschaftliche Kontext spiele eine Rolle. Nach wie vor würde Betroffenen oft nicht geglaubt, dass sie vergewaltigt wurden. Darin sieht die Autorin einen der Hauptgründe dafür, dass so wenig über die Diversität von Vergewaltigungserfahrungen gesprochen werden kann.
Sanyal legt Wert darauf, dass Vergewaltigung ein Verbrechen ist und keine Identität. Damit möchte sie darauf hinweisen, dass es Gründe dafür gibt, dass eine Person sexualisierte Gewalt ausübt (was die Tat natürlich nicht rechtfertigt). Die Erklärung, jemand sei „ein böser Mann“, sei hier nicht ausreichend. Als Therapie schlägt sie Empathie- und Konsenstrainings für Vergewaltiger vor.
Geschlecht schützt nicht vor Vergewaltigung
Obwohl – statistisch gesehen – in den meisten Fällen Frauen vergewaltigt werden und Männer vergewaltigen, plädiert Sanyal für die Einsicht, dass Geschlecht nicht vor Vergewaltigung schützt. Es gäbe auch betroffene Männer und gewalttätige Frauen.
Darüber hinaus setzt sich die Autorin mit der Vermischung von sexualisierter Gewalt und Rassismus auseinander. Diesen Aspekt erläutert sie anhand der Debatten über die Silvesternacht 2015 in Köln. Zudem nennt sie historische Beispiele, etwa das Bild des vermeintlich schwarzen Vergewaltigers in den USA, das als Rechtfertigung für Lynchmorde genutzt wurde.
Lesenswert trotz Schwächen
Eine Schwäche des Buches ist, dass es keine tiefergehende Analyse von Frauenunterdrückung und der Rolle von sexualisierter Gewalt liefert. Sanyal fokussiert ausschließlich auf die destruktiven Auswirkungen, welche die Aufteilung der Menschheit in Männer und Frauen und die daran anknüpfenden geschlechterbezogenen Zuschreibungen mit sich bringen.
Ebenso wenig thematisiert sie in ihrem Buch den Umgang mit Vergewaltigungen in linken Kreisen. Der Schwerpunkt liegt auch nicht auf praktischen Bewältigungsstrategien von sexualisierter Gewalt. Doch die facettenreiche Betrachtung des Themas liefert jede Menge Ideen für einen angemessenen Umgang mit Vergewaltigung. Dadurch, dass Sanyal unterschiedliche Aspekte beleuchtet, bietet sie Leserinnen und Lesern die Möglichkeit, sich Denk- und Handlungsoptionen jenseits von Glaubenssätzen anzueignen.
Das Buch:
Mithu Melanie Sanyal
Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens
Edition Nautilus
Hamburg 2016
240 Seiten
16 Euro
Schlagwörter: Bücher, Frauen, Geschlecht, Geschlechterverhältnisse, Gewalt, Kultur, Missbrauch, Sexualität, Sexuelle Gewalt, Vergewaltigung