Der Demokratie sind in unserer Gesellschaft enge Grenzen gesetzt. Wie wir sie erweitern können, erklärt Alex Demirović im marx21-Gespräch
marx21.de: Alex, es gibt einen alten Spontispruch, der da heißt »Wenn Wahlen wirklich etwas ändern würden dann wären sie verboten!«. Würdest Du diesen Satz so unterschreiben?
Alex Demirović: In dieser Form nicht. Wir sollten hier zwei Dinge unterscheiden. Zum einen die Ebene sozialistischer Perspektiven. Hier steht die Frage, ob wir über Wahlen eine grundsätzliche Gesellschaftsveränderung erreichen können. Ich denke nein. Was wäre das auch für ein Sozialismus, wenn wir ihn allein durch eine Wahlentscheidung einführen könnten? Sozialismus ist die Idee, dass Menschen ihr gesellschaftliches Leben umfassend selber gestalten können. Das lässt sich nicht an Mandatsträger delegieren.
Die Gründe dafür, dass eine solche umfassende Demokratie – und sie ist ein wesentlicher Aspekt von Sozialismus – sich in der bürgerlichen Gesellschaft nicht realisieren lässt, liegen nicht in fehlenden parlamentarischen Mehrheiten. Auch wenn das Parlament stärker die Mehrheitsmeinungen in seiner Gesetzgebung berücksichtigen würde, käme es alsbald an die Grenzen ökonomischer und gesellschaftlicher Macht. Die Mehrheiten müssen weit über das Parlament hinaus reichen. Das ist notwendig für einen breit verankerten und nachhaltigen Willen zu einer grundlegenden Veränderung. Dies zielt darauf, Entscheidungsstrukturen tiefgreifend zu ändern, so dass die kollektiven Entscheidungen bis dorthin reichen, wo gesamtgesellschaftliche Probleme entstehen: also die Erzeugung des gesellschaftlichen Reichtums, die Klima- und Energieprobleme, die sexistischen und rassistischen Formen der Herrschaftsausübung, und wo gesellschaftliche Verhältnisse selbst umgestaltet werden können.
Diese Analyse bedeutet aber zum anderen nicht, dass es nicht auch parlamentarische und Wahlentscheidungen gibt, bei denen es wirklich um etwas geht. Bei der Bundestagswahl 1972 gab es eine breite sozialen Mobilisierung, um Willy Brandt wieder als Bundeskanzler durchzusetzen. Es war ja allen klar, dass es hier um eine gesellschaftliche Richtungsentscheidung ging. Eine Niederlage Brandts hätte negative Auswirkungen auch auf die außerparlamentarischen Kräfte gehabt. Die breite Mehrheit für Rot-Grün bei der Wahl 1998 war eine dann herb enttäuschte Richtungsentscheidung. Eine Wahlniederlage Obamas hätte nicht nur die schwarze Community in den USA und andere Minderheiten demoralisiert, zu befürchten war auch ein Abbau von staatlicher Krankenversicherung und Altersvorsorge, zudem wäre auch die Wahrscheinlichkeit von Kriegen gestiegen. Von daher soll man Wahlen und parlamentarische Prozesse nicht herunter reden – daran hängt ein erhebliches Maß an Freiheit. Aber die Klassendifferenzen bleiben natürlich, unabhängig vom Wahlausgang.
Nun zeichnet sich der Sozialismus nicht unmittelbar am Horizont ab. Wie mit der real existierenden Demokratie und ihren Begrenzungen umgehen?
Natürlich muss man das verteidigen, was erkämpft wurde, und gleichzeitig Demokratie theoretisch und praktisch weiterentwickeln. Was historisch mit der repräsentativen Demokratie erreicht wurde, ist ein Mitspracherecht der unteren sozialen Klassen. Die gesellschaftlich relevanten Entscheidungen werden von den herrschenden Gruppen gefällt, indem sie über Investitionen, Unternehmensformen und gesellschaftliche Arbeitsteilung, Infrastrukturen oder politische Institutionen und Verfahren bestimmen. Sie geben die Richtung vor. Die unteren Klassen können auf dieser Grundlage versuchen, bei einigen Aspekten dieser Entscheidungen mitzureden, sei es durch Veränderung der parlamentarischen Kräfteverhältnisse, sei es durch Institutionen wie Betriebsräte, Sozialausschüsse und ähnliches.
Das ist im Vergleich zur feudalen Gesellschaft erst einmal ein Fortschritt in der Beziehung zwischen herrschenden und subalternen Gruppen. Aus einer sozialistischen Perspektive ist es ein großer Fortschritt der Emanzipation und ein erster großer Schritt hin zur Vergesellschaftung des gemeinsamen Lebens. Es entstehen gesellschaftliche und politische Bedingungen, die es historisch zum ersten Mal zu denken erlauben, dass allen Menschen Vernunft zugestanden wird und sie Zugang zu dem gesellschaftlich verfügbaren Wissen haben sollen, dass sie als frei gelten und sich mit gleicher Stimme an den Entscheidungen des staatlich verfassten Gemeinwesens beteiligen können sollen. Dennoch handelt es sich immer noch um eine Form der Klassenherrschaft. Oder etwas anders formuliert: Demokratie wird lediglich als eine Form des Staates und ein politisches Regime verstanden.
Demokratie steht momentan bei den Herrschenden nicht hoch im Kurs. Eine Volksabstimmung in Griechenland wurde verhindert, Schäuble wollte dort gar nicht erst wählen lassen, ungewählte Sparkommissare sollen künftig über die nationalen Haushalte bestimmen. Verlieren die Bürgerlichen die Lust an der bürgerlichen Demokratie?
Ja, das sieht so aus. Das Bürgertum war der Demokratie gegenüber immer etwas skeptisch, denn es ist ja nicht auszuschließen, dass der Kompromiss gegenüber den Subalternen zu weit geht und die Herrschenden zu sehr bindet. Doch gleichzeitig können sie auch nicht so richtig anders. Denn das Bürgertum verbindet mit der Demokratie die Erwartung, dass es sich über seine durchaus verschiedenen Interessen streiten und so zu einer Entscheidung kommen kann. Es sollte vermieden werden, dass wichtige Interessengruppen der Herrschenden sich benachteiligt fühlen und die bürgerliche Gesellschaft durch Interessenskonflikte zerrissen wird. Die parlamentarische Republik ist die einzige Form, die gewährleistet, dass der innerkapitalistische Streit auf Dauer in halbwegs geordneten Bahnen ausgetragen wird.
Liberal-repräsentative Demokratie ist kein Herzensanliegen, sondern der »idealen Durchschnitt« bürgerlicher Herrschaft. Winston Churchill brachte es auf den Punkt, als er die Demokratie die schlechteste aller Staatsformen, ausgenommen alle anderen, nannte. Dazu kommt ja noch die für das Bürgertum geniale Lösung hinzu, dass die Unterworfenen für die Beherrschung via Steuern auch noch selber zahlen.
Neoliberalismus heißt nun aber auch, dass die herrschenden Gruppen beständig prüfen, ob die parlamentarischen Mechanismen im Sinne ihrer Herrschaft effektiv und effizient funktionieren. Fallen die Entscheidungen schnell genug, sind die Entscheidungen förderlich für die hegemoniale Fraktion im Bürgertum? Sind die Parlamente und die Abgeordneten nicht zu kostenintensiv? Offensichtlich ist man jetzt in der Krise zum Schluss gekommen, dass mit den bisherigen Formen parlamentarischer Demokratie das Krisenmanagement nicht schnell und effizient genug abgewickelt werden kann. Also wird vieles zur Disposition gestellt.
Das fing in Deutschland schon vor der Troika und Sparkommissaren an, nämlich mit der Einrichtung des Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung Soffin. David Harvey hat die nach Ausbruch der Krise in Deutschland und den USA ergriffenen Maßnahmen zu Recht als »Finanzstaatsstreich« bezeichnet. Hier wurde zur Bankenrettung ein ungewähltes Sondergremium geschaffen, welches am Parlament vorbei über Mittel verfügt, die höher als der Staatshaushalt sind und vor allem für die Rettung der Vermögensbesitzer aufgewendet werden. Immerhin ist es – im Unterschied zu den 1930er Jahren – bislang bei dieser Art von Usurpation staatlicher Macht geblieben und die Mechanismen der parlamentarischen Demokratie sind in vieler Hinsicht nicht außer Kraft gesetzt, sondern durch weitere Governance-Mechanismen ergänzt worden.
Ich würde also sagen: das Bürgertum ist unsicher und schwankt. Die Demokratie ist ein bewährter Aushandlungsmechanismus, den man nicht leichtfertig aufgeben will – auch weil klassische autoritäre Formen wie zum Beispiel die Militärdiktatur bedeuten, dass große Teile des Kapitals mit ihren Interessen gar nicht mehr öffentlich vertreten sind. Ich glaube zudem, dass die Europäische Union eine gewisse Rolle spielt. Vielleicht hätten wir ohne die EU jetzt schon in Griechenland und Spanien Militärdiktaturen – andernfalls müsste ein über Jahrzehnte ausgehandeltes Kompromisssystem und darauf beruhende Institutionen und Verträge beseitigt werden, das zumindest in Ansätzen die unterschiedlichen Interessen moderiert hat. So weit, dass eine Auflösung für notwendig und vorteilhaft erachtet wird, ist es noch nicht. Aber es wird durchaus als Option geprüft, und es gibt einen deutlichen Zug in Richtung technokratische, autoritäre Lösungen.
Muss die Linke jetzt die bürgerliche Demokratie retten?
Zuerst einmal müssen wir realisieren, dass das Bürgertum aus Angst vor den Möglichkeiten, die auch die parlamentarische Demokratie den unteren Klassen gibt, sehr reaktionär werden kann. Das war schon früher so: Als das deutsche Bürgertum 1848 vor der Entscheidung stand: mehr Einfluss für die Armen oder Kompromiss mit dem Adel, entschied es sich für den Kompromiss mit dem Adel.
Deshalb meine ich, dass wir den Demokratiebegriff unserer eigenen Tradition im Blick haben, verstehen und dafür eintreten sollten. Demokratie ist ein sehr vieldeutiger Begriff. Deswegen tendieren manche Demokratiekritiker zum Zynismus und verwerfen den Demokratiebegriff als bürgerlichen Betrug. Das greift meines Erachtens zu kurz. Der Begriff der Demokratie ist zwar seit 2000 Jahren ein Gegenbegriff der anderen Seite, um die Selbstbestimmung der Gesellschaft zu blockieren. Die Hauptlinie dabei war immer: Demokratie ist eine Form, in der Reiche zusammen mit den Armen regieren. Die Reichen geben die Rahmenbedingungen vor, die Subalternen dürfen mitsprechen. So hat Marx die bürgerliche Gesellschaft definiert: Die Menschen sind frei, aber nicht unter selbstgewählten Umständen. Doch genau darum geht es: die Freiheit von wenigen zur allgemeinen Freiheit aller entfalten, so dass wir gemeinsam die Umstände, unter denen wir leben, gestalten. Nicht nur Mitsprache an etwas, sondern Gestaltung unseres gesamten Lebenszusammenhangs, des realen Gemeinwesens. Das ist ein Demokratiebegriff, der in den großen bürgerlichen Revolutionen in England und Frankreich gegen das Bürgertum entwickelt wurde und seitdem weiterwirkt und zum Bezugspunkt vieler sozialer Bewegungen wurde. In diesem Sinn geht es heute weiterhin um eine umfassende Demokratisierung.
Die Frage ist doch, welche Formen eine andere Demokratie annehmen soll. Du hast kürzlich einen längeren Text über Rätedemokratie verfasst – einem Konzept aus der revolutionären Aufbruchsphase der Arbeiterbewegung vor 100 Jahren. Ein reichlich alter Hut angesichts einer komplexen modernen Gesellschaft…
Die Frage ist doch nicht, ob ein Konzept alt oder neu ist, sondern ob es uns Anregungen liefert, wie wir die Probleme, vor denen wir stehen, lösen können. Räte als Form von Selbstorganisation sind in allen Revolutionen und großen Bewegungen entstanden, von Russland 1917 über Ungarn 1956 bis hin zum Pariser Mai 1968. Wenn etwas immer wieder auftaucht, auch in der jüngeren Geschichte, dann ist das kein Museumsstück, sondern etwas historisch Objektives. Es lohnt sich also zu schauen, was aus demokratietheoretischer Hinsicht in dieser Form drinsteckt.
Hinsichtlich der Komplexität sollten wir etwas anderes bedenken. Meine These wäre, dass es gerade die Komplexität und Vergesellschaftungsdynamik der bürgerlichen Gesellschaft selbst ist, die die parlamentarische Demokratie an ihr Ende führt. Wir haben Globalisierungsprozesse, wir haben weltwirtschaftliche Verflechtungen, globale ökologische Auswirkungen und in Folge Diskussionen über globale Demokratie. Niemand der ernstzunehmenden liberalen Demokratietheoretiker würde sagen, dass man Demokratie heute allein im nationalstaatlich-parlamentarischen Rahmen organisieren und praktizieren kann. Wir müssen auf ein höheres räumliches Skalenniveau wechseln. Dann aber stehen Kernbegriffe wie staatliches Territorium oder Volkssouveränität zur Disposition. Da ist es durchaus interessant zu sehen, dass die Rätetheoretiker und auch Marx selbst ein Konzept entwickelt haben, das Demokratie von der kommunalen bis zur globalen Ebene als Zusammenhang denkt. Beim Rätegedanken ist die Grundeinheit der gesellschaftlichen Gestaltung die Kommune mit ihren Wohn- und Arbeitsstätten und den lokalen kulturellen Praktiken. Was dort nicht gemacht und geregelt werden kann, wird von unten nach oben auf eine höhere Ebene delegiert, wo die Vertreter der Kommunen zusammenkommen. Das ist ein deutlicher Unterschied zur liberalen Demokratiekonzeption, in der sich auf Dauer angelegte autonome politische Körperschaften bilden und auf die unteren Ebenen durchgreifen und die Gesellschaft verwalten. Zu Ende gedacht finden wir im Rätegedanken auch eine Lösung für die Frage der globalen Koordination. Wir sollten den Rätegedanken als ein Ideenarsenal begreifen, das wir kritisch prüfen sollten, um es für unsere heutigen Probleme fruchtbar zu machen.
(Das Interview führte Stefan Bornost)
Zur Person:
Alex Demirović ist Sozialwissenschaftler, Redaktionsmitglied der Zeitschrift Prokla und Mitglied im Vorstand der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Er ist Autor des Buches »Demokratie und Herrschaft. Aspekte kritischer Gesellschaftstheorie«
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